07.09.2011. Reiche Ernte im Bücherland: Ein junger Autor, Leif Randt, hat mit "CobyCounty" nicht nur ein unterhaltsames, sondern auch eine leise unheimliches Buch geschrieben, versichern die Kritiker. Dann der monumentale neue Roman des ewigen Nobelpreiskandidaten: Ngugi wa Thiong'o. Der neue Götz Aly sorgt für Debatten. Und Anna Reid erinnert an die Blockade Leningrads. Dies alles und mehr in den besten Büchern des September.
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Vorgeblättert, der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2011 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2011.
Literatur Leif RandtSchimmernder Dunst über CobyCountyRoman
Berlin Verlag 2011, 240 Seiten, 18,90 Euro
Dieses Buch ist "ein echter Beginn", ein "Signal der jungen deutschen Literatur",
ruft Richard Kämmerlings in der
Welt über diesen zweiten Roman des 1983 geborenen Autors Leif Randt. CobyCounty ist eine schicke kleine Stadt am Meer, in der "Kreative" ein
absolut sorgenfreies Leben leben. Leif Brandt erzählt das nicht aus einer distanzierten, kritischen Perspektive, sondern beschreibt die Selbstgenügsamkeit einer privilegierten Klasse ganz
im Geiste CobyCountys, erklärt Kämmerlings. Das Ergebnis fand er ausgesprochen gruselig: "eine Airbag-Welt, konfliktfrei und geräuscharm, total entspannt und totalitär unterhaltsam". Das ist witzig und "
soft,
ganz soft" erzählt, lobt Christoph Schröder in der
SZ. Auch
taz,
FR,
Tagesspiegel und
Deutschlandradio stimmen in den Lobeschor ein. In der
FAZ spricht Lena Bopp von einem "epochalen Generationenroman". Man kann sich fragen, ob
Kulturjournalisten hier nicht vor allem die Beschreibung des eigenen Milieus genießen, aber das lässt sich leicht herausfinden: Hier
eine Leseprobe.
Angelika KlüssendorfDas MädchenRoman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2011, 182 Seiten, 18,99 Euro
Ein junges Mädchen wächst in der DDR auf, erst bei ihrer prügelnden Mutter, dann in einem Kinderheim für schwer erziehbare Jugendliche. Das Mädchen ist, wen wundert's, nicht sehr sympathisch, aber sie ist auch kein tränenreiches Opfer, sondern eine "
Unzerstörbare", wie Elmar Krekeler bewundernd in der
Welt feststellt. In der
FAZ bewundert Friedmar Apel, wie
nüchtern Klüssendorf diese "schrecklich traurige Geschichte" erzählt. Und auch Helmut Böttiger hebt in der
SZ hervor, dass hier keine Elendsprosa vorgeführt wird. Klüssendorf beschreibe vielmehr, "wie eine
gesellschaftliche Abseitsposition entsteht, ohne dass dies zugleich als Außenseiterrolle romantisiert wird". Hier
eine Leseprobe.
Michael KumpfmüllerDie Herrlichkeit des LebensRoman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2011, 239 Seiten, 18,99 Euro
In seinem neuen Roman erzählt Michael Kumpfmüller von der letzten großen
Liebe Franz Kafkas zu der 25-jährigen Köchin
Dora Diamant. Das, sollte man meinen, kann nur ins Auge gehen. Aber die Kritiker versichern unisono, dass es wunderbar gelungen sei. Endlich mal wird Kafka nicht als ewig düstrer Dichter gezeichnet, freut sich in der
FAZ Oliver Jungen. Auch
FR-Rezensent Harald Jähner kann sich nach der Lektüre Kafka ganz gut auch als
glücklichen Menschen vorstellen. Kafka-Zitate waren in diesem Roman unvermeidlich, aber Kumpfmüllers eigene Erzählweise sei dieser Konfrontation gewachsen, erklärt Dieter Hildebrandt in der
Zeit. Mehr Lob geht nicht. Hier
eine Leseprobe.
Ngugi wa Thiong'oHerr der KrähenRoman
A1 Verlag 2011, 976 Seiten, 29,90 Euro
Der seit 1992 in den USA lehrende kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o galt 2010 bei den englischen Buchmachern als
heißester Kandidat für den Literaturnobelpreis (den dann Mario Vargas Llosa bekam). Sein fast tausendseitiger Roman erzählt von einem
fiktiven afrikanischen Staat, dem sein
diktatorischer Herrscher mit einem gigantischen Turm Weltgeltung verschaffen will. Doch braucht er dazu einen Kredit der Global Bank in New York... In der
SZ ist Michael Bitala hingerissen von dem
Humor, mit dem wa Thiong'o einen despotischen Herrscher in seiner ganzen Arroganz und Lächerlichkeit, aber auch in seiner Angst und Einsamkeit zeichnet. Der
Economist notierte: "Weiße Männer, weiße Firmen, das
böse Europa und schwarze Afrikaner, die gern weiß sein möchten, teilen sich die Schuld für den Gestank dieser wuchernden Kleptokratie", aber dem "sanften Widerstand" gegen die
alltägliche Gier müsse man einfach Beifall zollen. Im
Deutschlandradio vergleicht Ursula März den Roman mit
Marquez' "Hundert Jahre Einsamkeit" und
Wallaces "Unendlichem Spaß". Und sie zollt dem kleinen
A1 Verlag ein dickes Lob für dessen
verlegerischen Idealismus.
Jan Peter BremerDer amerikanische InvestorRoman
Berlin Verlag 2011, 158 Seiten, 16,90 Euro
Ein Schriftsteller lebt mit seiner Familie in einem
Berliner Mietshaus, das von einem amerikanischen Investor gekauft und saniert wird. Seitdem ist die Hölle los. Und da der Schriftsteller eh gerade in einer
Schreibkrise steckt, versucht er einen Brief an den Investor zu schreiben.
taz-Rezensent Christoph Schröder fühlt sich selbst dem Irrsinn nahe, wenn er liest, wie der Schriftsteller sich in einen Kreislauf aus "Erregung, Selbstberuhigung und
Übersprungshandlungen" manövriert und schließlich vollends neurotisch und unter strenger Selbstbeobachtung
das Bett kaum noch verlässt. In der
FR freut sich Cornelia Geißler über den komischem
Aberwitz der Geschichte. In der
SZ gibt Hans-Peter Kunisch zu, sich wunderbar amüsiert zu haben, und fragt dann erschrocken: Wem gehören eigentlich
die Sympathien des Autors? Hier
eine Leseprobe.
LyrikUlrike Almut SandigDickichtGedichte
Schöffling und Co. Verlag, Frankfurt am Main 2011, 79 Seiten, 16,95 EUR
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Eine eigentümliche Mischung aus
Bodenhaftung und Verträumtheit findet
taz-Rezensent Andreas Wirthenson in den Gedichten von Ulrike Almuth Sandig. Für ihn ist sie die "
große Romantikerin unter den jungen Lyrikerinnen", gerade weil sie das Fremde, Unbekannte nicht ausschließt. In der
FAZ bescheinigt Wulf Segebrecht ihr nicht nur formales Können, sondern auch "Sprachwitz, Selbstironie und Humor, philosophische Fantasie und ein emphatisches dichterisches Selbstverständnis". Hier eine Leseprobe:
"gib mir die geschnittenen Felder unter der Folie aus Luft.
gib mir die Kiefern. die ziehen am gar nicht beweglichen Licht.
gib mir den Fischteich da drüben, den ganzen Entengries drauf..."
Yu JianAkte 0Gedichte
Horlemann Verlag, Unkel 2010, 120 Seiten, 12,90 EUR
Der Horlemann Verlag macht mit diesem Band "erstmalig
gut fünfzig wunderbare Gedichte" von Yu Jian auf Deutsch zugänglich,
annoncierte Katharina Borchardt in einer kurzen, aber informativen Kritik in der
NZZ. Das längste, über 25 Seiten, ist "Akte 0" und beschreibt die
Stasi-Akte eines Mannes, der immer systemkonform war, aber doch hin und wieder kleine Aussetzer hat: So bekommt er "von Medikamenten mit sprechenden Namen wie '
Braves Kind' oder 'Artig' Ausschlag", so Borchardt. Der Band umfasst politische Gedichte, lockt die Rezensentin, aber auch Naturgedichte und poetische Beschreibungen alltäglicher Momente wie jenes "über einen geschwollenen Penis, dessen
Rot für keine Fahne taugt". Bei
Arte lobt Martin Winter das kluge und kenntnisreiche Nachwort des Übersetzers
Marc Hermann. Hier
einige Hörproben.
SachbuchReinhard ZöllnerJapan. Fukushima. Und wirZelebranten einer nuklearen Erdbebenkatastrophe
Iudicium Verlag 2011, 164 Seiten, 14,00 Euro
War da was? Wochenlang sind wir mit Schreckensmeldungen über die
Erdbebenkatastrophe in Japan bombardiert worden. Und dann plözlich - nichts mehr. Zeit für einen Rückblick. Der Japanologe Reinhard Zöllner war während des Erdbebens in Japan und erzählt von den Ereignissen mit einer
Nüchternheit und Sachlichkeit, die die
FAZ-Rezensentin Irmela Hijiya-Kirschnereit beeindruckt hat. Zöllner wertet zahllose japanische Quellen aus, blickt aber auch zurück auf den - deutschen und japanischen - Umgang mit Erdbeben in Mythologie und Wissenschaft oder auf Japans Atomwirtschaft
vor Fukushima. Sehr kritisch behandelt er außerdem die
deutsche Berichterstattung über das Erdbeben. "Hier schreibt jemand, der den gleichen Abstand zu beiden Gesellschaften, der japanischen wie der deutschen, auf reflektierte Weise zu halten vermag", lobt die Rezensentin.
Götz AlyWarum die Deutschen? Warum die Juden?Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933
S. Fischer Verlag 2011, 336 Seiten, 22,95 Euro
Wie konnte es ausgerechnet in Deutschland zu einem Judenhass kommen, der zum schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte führte?
Neid ist eines der Hauptmotive, antwortet Aly, und faltet in einigen faszinierenden Kapiteln auf, woher dieser Neid kam, einerseits zum Beispiel daher, dass sich die jüdischen Deutschen nach der Emanzipation der Modernisierung viel besser anpassen konnten als die christlichen Deutschen, anderseits auch aus einer tiefen Traumatisierung der Deutschen durch
Dreißigjährigen Krieg, die
Napoleonischen Kriege und später den
Ersten Weltkrieg. Die Rezensenten besprachen das Buch mit einem Funkeln in den Augen: "Das Provozierende an Alys beeindruckend quellen- und materialreichem Buch ist, dass es behauptet,
auch Gleichheitsbewegungen wie Sozialdemokratie und Gewerkschaften leisteten den Gewaltausbrüchen ungewollt Vorschub",
schreibt eher bewundernd Gerrit Bartels im
Tagesspiegel. Micha Brumlik lehnt aus eben diesem Grund in der
Zeit Alys These rundheraus ab. Wo bleibt die Rolle der
Konservativen, fragt er. In der
FR lobt Andreas Mix zwar die detaillierte Argumentation, doch hat er den Verdacht, dass Aly, wenn er über Fortschrittsangst und Freiheitsunlust spricht eigentlich die
heutigen Globalisierungsängste meint. In der
SZ kann Gustav Seibt genau jene Diagnose, die andere Kritiker abwehren, nur bekräftigen: Das
Material, das Aly für seine Leitthese anführt, sei schlicht
erdrückend. Hier ein
Interview mit Aly im
Deutschlandradio, hier
eine Leseprobe aus dem Buch.
Emanuel Herzog von CroyNie war es herrlicher zu lebenDas geheime Tagebuch des Herzogs von Croy 1718-1784
C. H. Beck Verlag 2011, 428 Seiten, 24,95 Euro
Der Herzog von Croy (1718-1784) war von gutmütiger Natur. Er genoss seine Zeit am
Hof von Versailles und lieferte "die anschaulichste Schilderung", so Tilman Krause in der
Welt, eines
Feuerwerks am Hof ebenso wie der
Hinrichtung des versuchten Königsmörders Damien. Auch Wolfgang Burgdorf verfällt in der
FAZ dem Sound des 18. Jahrhunderts: "zauberhaft feinsinnig" plaudere der Herzog über seine Begegnungen mit Voltaire, Rousseau und
Benjamin Franklin, über das Reisen und das Speisen mit
versenkbaren Tafeln. Für den Herzog ist das alles gleich interessant. Wie Samuel Pepys schreibt er frei von der Leber weg, ohne sich groß um die Nachwelt zu kümmern. In der
SZ erklärt Stephan Speicher den Band zu einem "der schönsten historischen Bücher des Jahres". Er fragt sich allerdings auch, wie Croy die Anzeichen für eine
kommende Revolution übersehen konnte. Ein großes Lob spenden die Rezensenten dem Herausgeber
Hans Pleschinski, der den Leser kundig durch die Welt des Ancien Regime führt. Hier
eine Leseprobe.
Anna ReidBlokadaDie Belagerung von Leningrad 1941-1944
Berlin Verlag 2011, 587 Seiten, 34,00 Euro
Vor siebzig Jahren begann die
Blockade Leningrads durch die deutsche Wehrmacht. Sie dauerte 872 Tage, etwa eine Million Menschen kamen ums Leben, die meisten verhungerten. Die britische Journalistin Anna Reid hat die bekannten Fakten jetzt um eine Dimension erweitert, lobt Sönke Neitzel in der
FAZ: Durch
Tagebuchaufzeichnungen von eingeschlossenen Leningradern, die die furchtbaren Folgen der Belagerung schildern und das organisatorische Unvermögen der sowjetischen Führung. "Es ist eine
Geschichtsschreibung '
von unten', die sich in die historische Faktenlage einbettet",
erklärt Volker Saupe in der
Berliner Zeitung. Auch
NZZ-Rezensentin Judith Leister war beeindruckt. Vom Mythos der sauberen Wehrmacht bleibe hier nichts übrig, meint sie. Dies ist Geschichtsschreibung, die "auf einer breiteren Quellenbasis beruht" und den Legenden entgegenwirkt,
lobt Carsten Hueck im
Deutschlandradio. Hier
eine Leseprobe.
Ergänzend sei noch ein Gedichtband erwähnt, auf den Oleg Jurjew kürzlich in einem sehr lesenswerten Text in der
NZZ hinwies:
Gennadi Gors "Blockade" (erschienen 2007 im Verlag Edition Korrespondenzen,: "Es hat sich herausgestellt, dass die von der Doktrin des sozialistischen Realismus verpönte
Sprache der Leningrader Avantgarde die einzige dichterische Sprache war, die dem existenziellen Ausnahmezustand gewachsen war."