11.07.2016. Michelle Steinbecks fantastischer Debütroman, Nellja Veremejs meisterhaftes Porträt Osteuropas, Kate Tempests warmherzig-überschwänglichen Punchlines aus dem Südosten Londons, Oliver Nachtweys "Abstiegsgesellschaft", Birgit Lahanns Hochhuth-Biografie - dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Juli.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher über den
Perlentaucher bei
buecher.de bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den
Perlentaucher, der eine Provision bekommt.
Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per
E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich
hier anmelden.
Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.
Weitere Anregungen finden Sie in unserer
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", den
Leseproben in
Vorgeblättert, den
Notizen zu den jüngsten
Literaturbeilagen, und in den älteren
Bücherbriefen.
Literatur
Michelle SteinbeckMein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein WalfischRoman
Lenos Verlag 2016, 153 Seiten, 18 Euro
Dieses Buch verspricht pure Magie. Sabine Vogel fühlt sich in der
FR gar wie "
Gulliver im Wunderland", wenn sie Erzählerin Loribeth mit einer ziemlich lebendigen Kinderleiche im Koffer auf ihrer bizarren Flucht durch Traumlandschaften zur "Insel der verlorenen Väter" begleitet. In Dosen
eingelegte Kinderfinger? Einhörner? Blondinen mit "Wikingerschnurrbart"? Michelle Steinbeck bringt die Überdrehtheit in ihrem Debütroman, in dem nichts stabil und alles magisch ist, zum Überkochen, verspricht die Kritikerin. Sebastien Fanzun schwärmt in der
NZZ vor allem vom Klang und der Atemlosigkeit der Sprache und der Dichte der fantastischen Ideen dieser absurden Entwicklungsgeschichte über die
Angst vor dem Erwachsenwerden.
Hector AbadLa OcultaRoman
Berenberg Verlag 2016, 304 Seiten, 25 Euro
Hector Abads kolumbianischer Bestseller ist von den Feuilletons leider viel zu wenig beachtet worden. Zu Unrecht, wie Andreas Breitenstein in der
NZZ versichert: Alles, was Weltliteratur braucht, findet der Kritiker hier vor: Epik, Dramatik und Lyrik;
Melancholie,
Ironie,
Utopie und
Tragödie. In sprachlicher Brillanz wird nicht weniger als die ganze
Geschichte Kolumbiens im Mikrokosmos des Anwesens "La Oculta" erzählt, das von drei Geschwistern geerbt wird. Allein, wie Abad seine Figuren in Innen- und Außenperspektiven ausleuchtet und dabei die Gewalt der Guerillas, Gangs, Paramilitärs und Bürgerwehren in Kolumbien mit dem Schicksal der einzelnen Figuren verknüpft und darüber hinaus das verlorene Judentum der Familie schildert, verschlägt Breitenstein den Atem. Und trotzdem erzählt der virtuos verwobene Roman von ungebändigter Lebenslust,
betont Peter B. Schumann im
Bayerischen Rundfunk. Während Sandro Abbate auf
tell.de bei Abad deutlich den Einfluss William Faulkners
spürt, erscheint Andreas Breitenstein dieser von Peter Kultzen
glänzend übersetzte Ausnahmeroman als "
postideologische"
Antwort auf Gabriel Garcia Marquez' "Hundert Jahre Einsamkeit". Wow.
Kate TempestWorauf du dich verlassen kannstRoman
Rowohlt Verlag 2016, 400 Seiten, 14,99 Euro
Als
Rapperin und Spoken-Word-Performerin wird Kate Tempest längst gefeiert, nun erobert sie auch mit ihrem Romandebüt auch die Literaturkritiker. Für
Spiegel-Kritikerin Hannah Pilarczyk
ist die Britin schlicht die "
wichtigste Sprachkünstlerin ihrer Generation", Peter Praschl
dankt ihr in der
Welt dafür, dass sie "den
Überschwang und den Überfluss" zurück in die Literatur gebracht hat. Warum? Weil Tempest in diesem furiosen Roman, der als ausgebaute, tiefgehende Version ihres Albums
"Everybody down" (
Hörprobe bei Vimeo) gelesen werden kann, mit dem "
Pathos von Punchlines" und nahezu unerhörtem Einfühlungsvermögen von den Sorgen der
englischen Arbeiterklasse erzählt,
versichert SZ-Kritikerin Karin Janker. Wie die junge Autorin ihre vier komplexen Figuren zwischen Liebe und Gewalt, Drogen und Alkohol, Träumen, Enttäuschung und Vergangenheit durch die Londoner Nächte ziehen lässt, findet Janker zart, spielerisch und rasant. In der
FAZ bewundert Julia Emcke die in den "schönsten Farben leuchtenden
Verliebtheitsfeuerwerke" der Autorin. Und Nadine Lange
lobt im
Tagesspiegel die Präzision und die
Authentizität, mit der Tempest den schmuddeligen Südosten Londons skizziert. Dass sich bei so viel explosiver Energie, stürmischem Tempo und Gefühl ohne Sentimentalität kein Lektor getraut hat, ein paar Passagen zu kürzen, nehmen die Feuilletons nicht übel.
Tom McCarthySatin IslandRoman
DVA 2016, 224 Seiten, 19,99 Euro
Roman? Metaroman? Essay? Egal! Kaum einer der zahlreichen Rezensenten scheint dieses Buch ganz fassen zu können, verzückt sind sie trotzdem oder gerade deshalb: Carlos Spoerhase kann in der
SZ sogar auf Handlung und Figurenzeichnung verzichten, verdankt er doch diesem Ausnahmebuch nicht nur die "formal gewagteste und intellektuell aufregendste"
Gegenwartserkundung seit Claude Levi-Strauss, sondern auch einen geradezu "metaphysischen Jetlag".
FAZ-Kritiker Tobias Döring liest McCarthys fulminantes wie
mysteriöses Textlabyrinth gleich mehrfach - zu viel gibt es für ihn in diesem Reflexions- und Assoziationsfeuerwerk, das Kulturtheorie, Konzept- und Avantgardekunst ebenso einschließt wie poststrukturalistische Philosophie, zu entdecken. Und im
Spiegel bewundert Tobias Lehmkuhl, wie fesselnd, sarkastisch und "beängstigend" zugleich der Autor seine Leser von der Französischen Revolution über Kafka, Gilles Deleuze und
Google bis Guantanamo schickt, um seinen scharfsinnigen Bericht über den Menschen der Gegenwart zu schreiben. Bei so viel intellektueller Herausforderung kommt das Lesevergnügen dank "bizarrer Fantasien" und viel Witz nicht zu kurz,
versichert Gabriele von Arnim auf
Dradiokultur. Und Angela Schader
verspricht in der
NZZ traumhaft "frappante Bilder" und "
vollendet hingetuschte"
Magie. Nellja VeremejNach dem SturmRoman
Jung und Jung Verlag 2016, 238 Seiten, 21 Euro
Mit Spannung ist der zweite Roman der in Berlin lebenden Russin
Nellja Veremej von den Feuilletons erwartet worden und die Hoffnungen der Rezensenten werden nicht enttäuscht. Der Lyriker Nico Bleutge rät in der
SZ zu aufmerksamer Lektüre, denn "Nach dem Sturm" enthält nicht nur eine
zarte Familiengeschichte über Streit, Liebschaften und Eheprobleme und realpolitische Ereignisse, etwa Finanz- oder Flüchtlingskrise, sondern zeichnet mit Stationen im Ural, im Kaukasus und in Leningrad ein
meisterhaftes Porträt Osteuropas, schwärmt Bleutge. Wie Veremej den Zerfall der Sowjetunion in einem fiktiven Ort zwischen Wien und Istanbul, West und Ost spiegelt, dabei Historie und Gegenwart verwebt, findet Nicole Henneberg in der
FAZ "kunstvoll". Einig sind sich die Rezensenten auch in der Brillanz der Figurenzeichnung: Henneberg lobt die gelungene und einfühlsame Verknüpfung von Figuren- und Stadtgeschichte vor dem Hintergrund großer Traumata, Bleutge ist fasziniert von dem verzweigten Spiel mit verschiedenen Perspektiven und dem analytischen Blick ins Seelenleben der Figuren und Sebastian Engelmann
bewundert auf
literaturkritik.de den dargestellten Konflikt der Generationen.
SachbuchOliver NachtweyDie AbstiegsgesellschaftÜber das Aufbegehren in der regressiven Moderne
Suhrkamp Verlag 2016, 264 Seiten, 18 Euro
Dass die guten alten BRD-Zeiten vorbei sind, in denen sozialer Aufstieg noch möglich war, kann
Oliver Nachtwey den Rezensenten in seinem soziologischen Essay "Die Abstiegsgesellschaft" glaubhaft machen. Woran das liegt, erklärt der Autor klug und differenziert, aus linker Perspektive und ohne "marktschreierischen Alarmismus", lobt Stefan Reinecke in der
taz. Natürlich sind Frauen heute besser gestellt, es gibt mehr Freiräume und Selbstbestimmung. Aber: Die Mittelschicht gerät immer weiter unter Druck, der Kapitalismus stagniert und die
Zahl der prekären Jobs wächst ebenso wie der Protest. Wie Nachtwey aktuelle Diagnosen mit denen der alten Bundesrepublik von
Dahrendorf über
Habermas bis
Ulrich Beck zusammenführt und sie mit Protestkollektiven wie Occupy oder Pegida abgleicht, findet
SZ-Kritiker Jens Bisky lehrreich, präzise und auf dem deutschen Buchmarkt einzigartig. Stefan Reinecke begrüßt vor allem Nachtweys Beispiel eines deutschen Automobilherstellers, an dem die "
Spaltung zwischen Innen und Außen", Festangestellten und Zeitarbeitern, komplex skizziert wird. Als "schonungslos" und zutreffend wertet Gerrit Bartels auf
RBB-Kulturradio Nachtweys Analyse.
Online lesen kann man Nachtwey in der
FAZ, wo er kürzlich seine Thesen skizzierte.
Fredrik SjöbergWozu macht man das alles?Geschichten und Essays
Carl Hanser Verlag 2016, 224 Seiten, 19,90 Euro
Was für ein Glücksfall, dass zumindest vierzehn der
kunstvollen Gedankensprünge Fredrik Sjöbergs zwischen
Biologie,
Geologie,
Literatur und
Kunst von Paul Berf glänzend übersetzt auf Deutsch erschienen sind, jubelt
FAZ-Kritiker Hannes Hintermeier. Denn der auf allen Gebieten gleichermaßen bewanderte schwedische Autor vollbringe Erstaunliches, wenn er mäandernd zwischen Fakten und Fiktion, Gegenwart und Geschichte von Darwin oder Carl von Linné,
Insektenfang auf Eis, romantischen Malern oder dem Bing-Vergaser und immer auch ein bisschen von sich selbst erzählt, schwärmt Hintermeier. Autorin
Antje Ravic Strubel, die dem Buch im
Deutschlandfunk einen langen
Essay widmet, lernt bei Sjöberg die Verlässlichkeit und
Sinnhaftigkeit im Abseitigen. Fasziniert stöbert sie mit dem passionierten Sammler durch dessen Kosmos der Kuriositäten und lässt sich in den nüchternen, von "leiser Komik" durchzogenen Essays zu immer neuen Assoziationen anfeuern. Und Brigitta Lindemann
bewundert im
WDR, wie Sjöberg Spannung aufbaut, durch "inszenierte Mündlichkeit" Nähe zum Leser schafft und vom Kleinen aufs "Große und Ganze" zielt.
Birgit LahannHochhuth: Der StörenfriedDietz Verlag 2016, 384 Seiten, 29,90 Euro
"Hysterie steigert Energie" heißt
laut Sächsischer Zeitung ein Gedicht von
Rolf Hochhuth. Das passt gut zu dem Mann, der mit Theaterstücken wie "Der Stellvertreter", "Juristen" und "Wessis in Weimar" einige der
wichtigsten Debatten in Deutschland auslöste, aber auch eine Reihe Skandale und Prozesse anstieß, die wohl mehr der Energiesteigerung als der Erkenntnis zu dienen schienen. Kurz: Hochhuth ist ein
Theatermonument der alten Bundesrepublik. Pünktlich zu seinem 85. Geburtstag in diesem Jahr ist Birgit Lahanns vom Dramatiker selbst angeregte und
laut FR "sehr schöne, sehr unterhaltsam zu lesende und aufschlussreiche" Biografie über den "Störenfried" erschienen. Erst wollte sie eigentlich gar nicht,
erzählt Astrid Herbold im
Tagesspiegel. Dann sagt sie doch zu, "entscheidet sich aber für ein formales Experiment. Sie werde ihm ein 'Gesprächsbuch mit allem Witz und allem Wahnsinn schreiben', sagt sie, mit 'seinen Verdiensten, seinen Stücken … aber auch mit Auskünften über Aggressionen, Gegner, Gott und den Tod.' Was dabei herausgekommen ist, nach vielen Begegnungen und Interviews, nennt sie '
Psychogramm mit Reportageeinflüssen'." In der
Zeit war
Michael Naumann, der Hochhuth immerhin zehn Jahre bei Rowohlt betreute, hingerissen: Viele Details von Hochhuths Werdegang und die Entstehungsgeschichte einzelner Stücke waren eine
echte Überraschung, erklärt er. Und ganz nebenbei treffe Lahann in ihren Beschreibungen die Atmosphäre der
unmittelbaren Nachkriegsjahre, an denen Hochhuth sich rieb, auf den Punkt.
Norman LewisNeapel '44Ein Nachrichtenoffizier im italienischen Labyrinth
Folio Verlag 2016, 240 Seiten, 22,90 Euro
Norman Lewis' Kriegstagebuch über seine Zeit als
englischer Nachrichtenoffizier in Neapel im Jahre 1944 ist das wohl eindringlichste Porträt, das
FAZ-Kritiker Andreas Rossmann je über die Stadt gelesen hat. Und obwohl Lewis von der Anarchie, der organisierten Kriminalität, Korruption, Sabotage, Verwaltungsversagen,
Mord und Vendetta in den letzten Kriegsmonaten erzählt, ist dies kein politisches Buch, versichert Rossmann. Vielmehr verspricht die Lektüre "trockenen Witz", "nüchterne Neugier" und "große Bewunderung" für die Mentalität und ungebändigte Lebenskraft der Neapolitaner, die in der vom Krieg und vom Ausbruch des Vesuvs zerstörten Stadt
das Beste aus ihrem Schicksal machen. Maike Albath kann dies in der
SZ nur bestätigen: Humor und Einfühlungsvermögen attestiert sie dem Reiseschriftsteller, der nie die Überlegenheit des Siegers spüren lasse und
nie mystifiziere, sondern lebendig schildere, wie die Bewohner nach Essbarem suchen, Frauen ihre Töchter mit Preislisten feilbieten und der Schwarzmarkt floriert. Dieses Porträt einer vitalen Stadt kann als Ergänzung zu Curzio Malapartes Neapel-Roman "Die Haut" gelesen werden, rät sie.
Dennis GastmannAtlas der unentdeckten LänderRowohlt Verlag 2016, 272 Seiten, 19,95 Euro
Gut, ganz so unentdeckt sind Pitcairn, Karakalpakstan oder die Mönchsrepublik auf dem Berg Athos auch nicht mehr, gibt
FAZ-Kritikerin Katharina Wilhelm zu. Macht aber nichts. Denn der Reporter und Schriftsteller Dennis Gastmann erzählt
in bester "
Gonzo"-
Manier und so "spitzbübisch", dass die Kritikerin ganz neugierig von einem Ort zum nächsten reist. Sie erweist mit Gastmann in Akhzivland, einem Mikrostaat in Israel, dem Herrscher, einem "dahinscheidenden Alt-Hippie", die letzte Ehre, übernachtet auf Pitcairn nicht nur bei einer Urururur-Enkelin eines Meuterers der Bounty und erfährt von einem widerlichen Pädophilenskandal. Dass der Autor sich den Bewohnern seiner Reiseziele mit einer "Mischung aus
Zuneigung und Schamlosigkeit" nähert, gefällt ihr gut. Auf
Dradiokultur lobt Marko Martin den "Wortwitz" und die "Situationskomik" und fühlt sich während der herrlich "selbstironischen" Lektüre, als sei er selbst dabei gewesen.