Saleem Haddad Guapa Roman
Albino Verlag, Berlin 2017, 400 Seiten, 16,99 Euro
Zerrissen zwischen revolutionärem Aufbruch und reaktionärem Rollback ist die Gesellschaft, die der in Kuweit geborene Autor Saleem Haddad in seinem Debütroman "Guapa" schildert. Zerrissen ist auch der Protagonist, der in einem nicht näher genannten Land im Nahen Osten mit seiner Homosexualität zurechtzukommen versucht. Komprimiert auf 24 Stunden gelingt es dem Autor, zugleich die
Coming-Out-Geschichte eines jungen Arabers und einen hochpolitischen Roman über den
arabischen Frühling und das Pendeln zwischen Militärdiktatur und islamischem Regime zu schreiben,
staunt Katja Thorwarth in der
FR. Haddad macht nicht nur begreiflich, welchen Repressalien Homosexuelle ausgesetzt sind, sondern vermag auch die inneren Konflikte seines Helden zu schildern,
versichert Jonathan Fischer in der
SZ: Wenn Rasa sich von dem Islamistenführer Ahmed angezogen fühlt oder von seiner Großmutter Teta entdeckt wird, verfolgt Fischer einen "
Tanz um die eigene Scham", der mit keiner Coming-Out-Geschichte der westlich-liberalen Gesellschaft verglichen werden kann. So entwickelt das Buch "keinen harmlosen Sog, sondern einen Mahlstrom, der einem die letzte Träne entreißt, aber einen auch verzaubert lächeln lässt", wie Stefan Hochgesand in der
taz beeindruckt
feststellt.
Olga Slawnikowa 2017 Roman
Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2016, 460 Seiten, 25 Euro
Der Titel lässt eine aktuelle Zustandsbeschreibung vermuten, doch tatsächlich richtet sich Olga Slawnikowas Roman "2017" gleichermaßen in die Vergangenheit und in die Zukunft. Im Original bereits 2006 erschienen, nimmt die Autorin darin die
russische Geschichtspolitik aufs Korn, angesiedelt im Jubiläumsjahr der Oktoberrevolution und satirisch bis zur Groteske überzeichnet. Es geht um einen einzelgängerischen Edelsteinschleifer, der von Usbekistan ins Zentrum der Riphäischen Berge kommt und dort in amouröse und politische Verwicklungen gerät,
referiert Kerstin Holm (
FAZ), die an dem "fulminanten
Spion- und Liebesthriller" besonders den "barock ausufernden, durch sinnliche Überschärfe bestechenden Stil" schätzt. Wegen seiner zahlreichen Ausschweifungen und literaturgeschichtlichen Referenzen
verleiht Ulrich M. Schmid dem Roman in der
NZZ das Prädikat "für fortgeschrittene Leser", weist aber zugleich darauf hin, dass der wenig ausgeprägten inhaltlichen Stringenz eine
außergewöhnlich stringente sprachliche Ebene gegenübersteht, weshalb Schmid besonders die "gediegene Übersetzung" dieses "Wortkunstwerks" durch Christiane Körner und Olga Radetzkaja hervorhebt. Weniger begeistert
zeigt sich Gisela Erbslöh im
SWR: Für sie ist die Lektüre trotz vergnüglicher Passagen insgesamt "weder packend noch berührend".
Lyonel Trouillot Yanvalou für Charlie Roman
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2016, 176 Seiten, 18 Euro
Erstaunlich, welche Fülle Lyonel Trouillot in seinem schmalen Roman "Yanvalou für Charlie" auszubreiten vermag, reibt sich Tobias Lehmkuhl in der
SZ die Augen: aus drei Perspektiven erzählt der Autor die Geschichte eines jungen Haitianers, dem der
soziale Aufstieg gelingt, bis ihn seine Herkunft aus der Armut einholt. Bis zum tragischen und spannenden Finale gelingt es Troillot, "tempo- und abwechslungsreich" von Vergangenheit und Gegenwart, Stadt und Land und dem Gegensatz zwischen
Arm und Reich auf Haiti zu erzählen, schwärmt Lehmkuhl. In der
NZZ hebt Irene Binal die "schillernde, lyrisch durchtränkte Prosa" hervor, die den Roman zu einer "bittersüßen Liebeserklärung an das Land und seine Menschen" macht. Und Michi Strausfeld attestiert dem Roman auf
Literaturkritik.de unumwunden "
Weltniveau". In der
FR lobt Andrea Pollmeier die ausgezeichnete Übersetzung von Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz.
Faust Kultur dokumentiert außerdem ein Gespräch, das Pollmeier im Rahmen des internationalen Literaturfestivals Berlin im Sommer 2014 mit dem Autor geführt hat und in dem es neben "Yanvalou für Charlie" über die Rolle von Schriftstellern und die Bedeutung von Literatur in Haiti geht.
Emmanuel Carrère Ein russischer RomanMatthes und Seitz Berlin, Berlin 2017, 282 Seiten, 22 Euro
Einen Roman im engeren Sinne hat Emmanuel Carrère mit "Ein russischer Roman" nicht geschrieben, stellen die Rezensenten fest. Der Autor selbst kann sich über die Erwartungshaltung nur amüsieren: "Es heißt nicht: 'Ein russischer Roman'. Roman",
zitiert ihn Richard Kämmerlings in seiner Rezension in der
Welt. Was ist es also dann? Kämmerlings beschreibt das Buch, in dem Carrère schildert, wie er sich nach einer Russland-Reise mit dem
familiären Trauma um den als georgischer Emigrant nach Frankreich geflohenen Großvater auseinandersetzt, der im Zweiten Weltkrieg mit den deutschen Besatzern kollaborierte und nach der Befreiung
spurlos verschwand, als "Autofiktion", als "Krisenbuch", "Reisereportage" und "Eifersuchtsdrama" und insgesamt definitiv "virtuos". Carrère verwandelt nicht nur Realität in Literatur und bringt sich dabei als schreibende Instanz mit ein, sondern greift hier in Form von "performativen Sprechakten" wiederum auf die Wirklichkeit zu,
staunt Ijoma Mangold in der
Zeit. Für Hanna Engelmeier (
FAZ) handelt es sich bei dem Buch um Erzählprosa als
offene Bekennerschrift, die sich, an der Grenze "zu Meditation, Essay und Reportage" bewegt - und jedenfalls eine "große Gabe" an seine Leserinnen und Leser.
Bandi Denunziation Erzählungen aus Nordkorea
Piper Verlag, München 2017, 224 Seiten, 20 Euro
Literarische Zeugnisse aus Nordkorea sind ganz unabhängig von ihrer Qualität als Sensation einzustufen, so wenig dringt aus der restriktiven Diktatur nach außen. Tatsächlich ist der Band "Denunziation" des unter Pseudonym schreibenden Autors Bandi "das erste Buch, das von einem Autor, der
noch in Nordkorea sich befindet, herausgetragen wurde",
erläutert der Korea-Experte Eric Ballbach im Gespräch mit Frank Meyer im
DLF Kultur. In den sieben zwischen 1989 und 1995 entstandenen Erzählungen eröffnet sich
laut Markus Schwering (
FR) eine "an Orwell und Kafka erinnernde Alptraumwelt", in der Menschen ihrem Führer und einem repressiven System huldigen, das sie allenthalben zermalmt. Auch Christiane Pöhlmann (
taz)
erhält kostbare Einblicke in ein absurdes System, in dem
öffentliches Weinen als "Auflehnung" gilt und unter Todesstrafe steht, während am Todestag von Kim Il Sung öffentliches Klagen angeordnet war. Hannes Schwenger möchte von dem Hype hingegen nichts wissen. Er
zweifelt im
Tagesspiegel die Echtheit der Erzählungen an und findet die Erzählweise hölzern.
Sachbuch Alexander Betts, Paul Collier Gestrandet Warum unsere Flüchtlingspolitik allen schadet - und was jetzt zu tun ist
Siedler Verlag, München 2017, 336 Seiten, 24,99 Euro
Als wichtigen, hilfreichen und lesenswerten Beitrag zur
Flüchtlingsdebatte begrüßen die Rezensenten das Buch "Gestrandet" der Oxford-Professoren Alexander Betts und Paul Collier. Anstatt Asylanten mehr oder weniger wahllos ins Land zu lassen und dann dort in Heimen zu verwahren, plädieren die Autoren dafür, den Geflüchteten möglichst schnell zu Normalität und Selbständigkeit zu verhelfen, nicht zuletzt, damit sie möglichst schnell wieder
in ihre Heimat zurückkehren können. Den Vorschlag der Autoren, Sonderwirtschaftszonen für Flüchtlinge einzurichten und die damit verknüpfte Forderung, dass reiche Länder die Nachbarstaaten der Krisenländer politisch und wirtschaftlich unterstützen müssten,
findet Barbara Dribbusch (
taz) mit Blick auf die klug gewählten Beispiele, etwa das
Jordanien-Abkommen von 2016, überzeugend. Dass auch "gut gemeinte Maßnahmen Schaden anrichten können, wenn sie nicht ausreichend durchdacht sind", macht der Band Friedemann Bieber (
FAZ) bewusst, der insbesondere die Kernthese
hervorhebt, dass die aktuelle
Flüchtlingspolitik der EU die prinzipielle Fähigkeit der Gemeinschaft gefährde, Menschen in Not zu helfen. "Sehr empfehlenswert"
findet auch Wolfgang Schneider im
DLF Kultur diese "ungewöhnlich sachliche und luzide Analyse". Der
Guardian hat einen Auszug aus dem Buch
veröffentlicht. Und für die
NZZ am Sonntag hat sich Claudia Mäder mit Paul Collier über die Flucht und Migration
unterhalten.
Ulrike Guérot Der neue Bürgerkrieg Das offene Europa und seine Feinde
Propyläen Verlag, Berlin 2017, 96 Seiten, 8 Euro
Die
Krise Europas ist nun wahrlich keine originelle Diagnose, aber die radikalen Vorschläge, die die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot in ihrer Streitschrift "Der neue Bürgerkrieg" zur politischen Umgestaltung der EU unterbreitet, haben es in sich. Guérot sieht die Zukunft der Gemeinschaft in einer europäischen Republik, mit "
gleichem Wahlrecht für alle EuropäerInnen", wobei je ein Abgeordneter pro eine Million Stimmen abgeordnet würde,
fasst Hannes Koch in der
taz die "stürmische Idee" der Autorin zusammen. In der
Zeit freut sich Adam Soboczynski über den Schwung von Guérots Ausführungen und lobt die "glänzende" Analyse der neuesten Paradoxien parteipolitischer Lagerbildungen, etwa wenn Rechte sich für Industriearbeiter, Linke sich für die nationale Ehre einsetzen. Auch der dezidierten
Ablehnung direktdemokratischer Verfahren kann Soboczynski nur zustimmen. Im
DLF Kultur stört sich Ingo Arend zwar mitunter am Hang zu Pathos und Vereinfachung, dennoch hält er den Band für "eine gut begründete, leidenschaftlich vertretene Vision - und damit das Buch der Stunde". Für den
Standard hat sich Lisa Nimmervoll, für den
SWR Rainer Volk und für die
taz Patricia Hecht mit Guérot über die Zukunft Europas unterhalten.
Eckhard Fuhr Schafe Ein Porträt
Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2017, 136 Seiten, 18 Euro
Die von Judith Schalansky bei Matthes und Seitz herausgegebene Buchreihe, die Naturphänomene kulturwissenschaftlich perspektiviert, ist längst zum Liebling von Publikum und Kritik avanciert. Der Beitrag des
Welt-Redakteurs Eckhard Fuhr
über Schafe reiht sich da nahtlos ein. Für Jochen Schimmang (
taz)
ist es ein "hinreißendes Buch", und zwar nicht zuletzt, weil hier das argrarökonomisch heute zwar marginalisierte Schaf als
maßgeblicher Zivilisationsmotor kenntlich wird: Bei der neolithischen Revolution, als der Mensch sesshaft wurde und Viehzucht und Ackerbau zu betreiben begann, spielte das Schaf eine genauso wichtige Rolle wie in der Symbolbildung zahreicher früher Religionen und nicht zuletzt bei der Umgestaltung und Umwidmung der Nutzflächen im Zuge der industriellen Revolution, lernt Schwimmang. "Schafe verstehen heißt
Kultur verstehen",
stellt denn auch Hans von Trotha im
DLF Kultur verblüfft fest. Olaf Velte (
FR)
begreift die komplette Nutzbarmachung des Schafs als "größten aller Menschheitsschritte", weshalb er mit dem emphatischen Aufruf schließt: "Gründen Sie eine
genossenschaftliche Schäferei!"
Anke Fesel (Hg.), Chris Keller (Hg.) Berlin Heartbeats Stories from the wild years, 1990-present
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 256 Seiten, 29,90 Euro
Berlin in den Neunzigern, das ist eine geradezu mythisch verklärte Phase der Freiheit, des Aufbruchs und der Möglichkeiten. Der von Anke Fesel und Chris Keller herausgegebene Bild- und Textband "Berlin Heartbeats" bedient diese Nostalgie, fügt aber auch ein paar neue Facetten hinzu, wie Michael Pilz in der
Welt erfreut
feststellt: Anstatt um
westdeutsche Pioniere, die nach dem Mauerfall die brachliegende Berliner Mitte wieder urbar machten, geht es in den Texten überwiegend um die Perspektive derjenigen, die bereits dort waren. Ihre Freiheit, ihr Lebensgefühl war es, die die westdeutschen "Wirtschaftswunderkinder"
im Osten suchten, weiß Pilz, und ihre Stimmen zu hören, bereichert für ihn das Genre "1990 ff." ungemein. Neben Fotos von Ben de Biel, Hendrik Rauch, Markus Werner, Rolf Zörner und Philipp von Recklinghausen enthält der Band Texte von Künstlern und Aktivisten der Neunziger, unter anderem Judith Hermann, Klaus Biesenbach, Sasha Waltz und Sven Marquardt. Harry Nutt (
FR) kann sich beim Lesen und Betrachten dieser "sentimentalen Reise" einer "Empfindung des Verlusts"
nicht erwehren. Im
DLF Kultur schimpft Gerd Brendel hingegen auf die uninspirierte "Fabrikation der Legende 'Berlin'".
Primo Levi So war Auschwitz Zeugnisse 1945-1986
Carl Hanser Verlag, München 2017, 304 Seiten, 24 Euro
Der gemeinsam mit dem Arzt Leonardo de Benedetti verfasste Bericht über die hygienisch-medizinische Organisation im
Konzentrationslager Monowitz kann als der Auftakt zu Primo Levis Werk angesehen werden. Zum dreißigsten Todestag des Autors erscheint der wenig bekannte Text, angereichert um zum Großteil unveröffentlichte Artikel, Ansprachen, Briefe und Zeugenaussagen aus über vierzig Jahren, erstmals auf Deutsch, wofür die Rezensenten den Herausgebern Domenico Scarpa und Fabio Levi sehr dankbar sind. Einmal mehr
staunt Gustav Seibt (
SZ), mit welcher "unzynischen, ruhig klagenden Wärme" Levi von seinen Erfahrungen in Auschwitz zu berichten vermochte, und erfährt Erschütterndes über die "
höllische Binnenrationalität" des Lagers, wo die Inhaftierten durch Sklavenarbeit, Schlafentzug, Kälte, Hunger und Entzug der Hygiene zu einer mit Wunden bedeckten, "übelriechenden Biomasse reduziert" wurden. In der
Welt hebt Marko Martin hervor, wie skrupulös Levi
Selbsterlebtes von Gehörtem schied. Wie genau Levi sich an alles erinnert,
belegt für Klaus Bittermann (
taz) auch, wie wichtig ihm dieses Erinnern war, das bis in die Achtzigerjahre bei vielen Deutschen auf Ablehnung stieß.