10.05.2010. Alain Mabanckou nimmt uns mit in die schwarzafrikanischen Subkulturen von Paris, Hans-Ulrich Treichel in das seltsame Zwischenreich namens West-Berlin. Wulf Kirstens Gedichtauswahl lehrt uns die Bedeutung des Disparaten. Jean-Henri Fabre erklärt die Charakterfestigkeit der Wespen. Ara Güler fotografiert die große Kränkung Istanbuls. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren
Bücherbriefen, der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2010, den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2010.
LiteraturAlain MabanckouBlack BazarRoman
Liebeskind Verlagsbuchhandlung 2010, 272 Seiten, 19,80 Euro
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Dieser Roman hat in Frankreich großes Aufsehen erregt, unter anderem weil er einen politisch nicht immer der Multikulti-Idylle entsprechenden Blick in die
schwarzafrikanischen Subkulturen von Paris bietet. Autor Alain Mabanckou wurde selbst im Kongo geboren und hat eine Karriere in der französischen Wirtschaft abgebrochen, um zu schreiben. Alex Rühle hat den Autor für die
SZ porträtiert, und zugleich "Black Bazar" vorgestellt: Es wird von Menschen erzählt, die sich mit Chemikalien die
Haut weißer zu färben versuchen, und von den gegenseitigen Vorurteilen. Zentrale Themen sind das Leben in der Fremde, Identität und "
Binnenrassismus" unter den Schwarzen, so Rühle, der deshalb umso beeindruckter ist, wie leichtfüßig und unterhaltsam Mabanckou sein "tonnenschweres" Sujet anpackt. Denn auch wenn er implizit durchaus den "Kolonialismus- und Identitätsdiskurs" aufgreift und sich auf Gewährsmänner wie
Frantz Fanon oder Aime Cesaire bezieht, dominiert ein
burlesker,
lockerer Ton. Jeannette Villachica kommt in der
NZZ zu einer ähnlichen Empfehlung. Hier eine
Hans-Ulrich TreichelGrunewaldseeRoman
Suhrkamp Verlag 2010, 180 Seiten, 19,80 Euro
Hans-Ulrich Treichel ist sicher nicht der lauteste Autor seiner Generation. Sein neuer Roman hat bisher drei ausgesprochen engagierte und begeisterte Kritiker gefunden. Der Roman spielt in jenem seltsamen Zwischenreich namens
West-
Berlin, das mit der Entfernung immer unwirklicher wird. Der Autor zeichnet die Mauerstadt als provinziellen Wartesaal für den erst als Studenten, dann als
Referendariatsanwärter ausharrenden Paul, der sich als Sprachlehrer in Spanien in die schwangere Maria verliebt, erzählt Meike Fessmann in der
SZ. Ebenso wie Wolfgang Schneider in der
FAZ und Christoph Schröder in der
FR ist sie begeistert von Treichels leiser literarischer
Virtuosität - und von seinem
Witz.
Stig DagermanSchwedische HochzeitsnachtRoman
Die Andere Bibliothek/Eichborn 2010, 281 Seiten, 32,00 Euro
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Stig Halvard Dagerman wurde zunächst als
Reporter bekannt. Berühmt sind in Schweden seine Reportagen über das kriegszerstörte Deutschland.
1954 beging er im Alter von 31 Jahren Selbstmord. Seine "Schwedische Hochzeitsnacht" scheint durchaus harter Tobak zu seine, eine Geschichte im
ländlichen Schweden, bevölkert von Charakteren, die sich an
Bösartigkeit überbieten. Andreas Breitenstein liest das Buch als einen "existenziellen Schrei". Der Leser muss auf einen auktorialen Erzähler verzichten, ständig wechseln die Perspektiven, und Zeit und Raum befinden sich in stetigem Fluss, beschreibt Breitenstein in der
NZZ die Schwierigkeiten der Romans. Ungeachtet dessen hat ihn Dagermans Roman mit seiner
sprachgewaltigen Archaik aber tief in den Bann gezogen. Ebenso Thomas Laux in der
FR, der ein Leseerlebnis "von schier
ungeheurer Intensität" verspricht.
Wulf Kirsten (Hrsg.)
Beständig ist das leicht VerletzlicheGedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan
Ammann Verlag 2010, 1120 Seiten, 79,95 Euro
Ein kräftiger Akzent im wehmütigen
Abschiedslied des Ammann-Verlags - ein Gedichtband, 1100 Seiten schwer, nicht ganz billig, zusammengestellt von Wulf Kirsten. Der Band bietet einen Blick auf die entstehende
Moderne in der deutschen Lyrik. Bisher hat nur Jürgen Verdofsky in der
FR den Band besprochen, und zwar geradezu ehrfürchtig. Die Anthologie führte ihm auch vor Augen, wie das Neue immer aus dem
Disparatesten fließt, insofern jedes Gedicht das Gegenstück zu einem anderem bildet. So werde etwa Nietzsche Liliencron, Brecht George, Benn Lehmann an die Seite gestellt. Zudem sieht Verdofsky Prominentes so neben Vergessenes gesetzt, "dass ein neuer Kontext entsteht". Verdofsky hebt auch die
kundigen Informationen und Kommentare zu Gedichten und Autoren hervor.
Josh BazellSchneller als der TodKrimi
S. Fischer Verlag 2010, 304 Seiten, 18,95 Euro
Drastisch ist dieser Krimi über
zwei Mafiosi, die sich im Krankenhaus begegnen. Einer von ihnen ist ein Ex, der sich im Zeugenschutzprogramm
zum Arzt ausbilden ließ und nun einen Patienten aus seiner Vergangenheit vor sich hat. "Wer weiß", seufzt er schließlich. Die Kritiker sind völlig baff und begeistert von diesem "fantastischen kleinen
Geniestreich", so Katharina Granzin in der
taz. Tobias Gohlis in der
Zeit hat sich bei der Lektüre die
Fingernägel abgekaut und fragt am Ende "ob man so etwas Wahnwitziges, überschäumend Intelligentes, irrsinnig Komisches über das Ende eines Mafiakillers und das amerikanische Krankenhaussystem je wieder lesen wird?" Im
Perlentaucher versichert Thekla Dannenberg: "Ganz eindeutig würde Bazell lieber einen Patienten mehr über die Klinge springen lassen als
einen Witz verschenken", gibt aber in ihrer
Krimikolumne doch eindeutig
Adrian McKintys grandiosem Noir-Krimi
"Der sichere Tod" den Vorzug.
Patrick Leigh FermorManiReisen auf der südlichen Peloponnes
Dörlemann Verlag 2010, 480 Seiten, 24,90 Euro
Der Band ist bisher nur einmal besprochen. Wir wählen ihn aus wegen der
mitreißenden Hingerissenheit des Rezensenten Tobias Lehmkuhl in der
SZ. Der Band regt an zum Nachdenken über
Griechenland und setzt einen Gegenakzent zu den aktuellen Wirrnissen. "Die Mani (griechisch Μάνη) ist ein Landstrich im Süden der griechischen Halbinsel Peloponnes - genauer deren '
Mittelfinger'", eine besonders abgelegene Gegend. Patrick Fermor Leigh ist ein britischer Autor, Abenteurer, Geheimdienstagent und erfreut sich mit seinen 95 Jahren seiner späten Tage. Er ist auch ein großer Griechen-Freund, kämpfte dort im Zweiten Weltkrieg. Sein durchaus
umfänglicher Reisebericht über Mani hat Lehmkuhl zugleich wegen seines Informationsreichtums und wegen seiner
poetischen Schreibweise begeistert. Eine Passage ist für Lehmkuhl gar die "schönste, berührendste Szene" der gesamten Reiseliteratur".
SachbuchJean-Henri FabreErinnerungen eines Insektenforschers Band 1
Matthes und Seitz Verlag 2010, 304 Seiten, 36,90 Euro
Eine
editorische Großtat, die zweite des Matthes & Seitz-Verlags in wenigen Jahren, nach der Herausgabe von Schalamows Gulag-Erinnerungen. Auch Jean-Henri Fabre ist ein Memorialist, allerdings ein poetischer. So kühl Schalamow die Menschen in extremer Erniedrigung beschreibt,
so zärtlich ist Fabre mit den
Insekten, wenn man den Rezensenten glauben darf. Auf zehn Bände ist die Edition seiner Erinnerungen angelegt. Fabres Naturbeobachtungen haben
Proust,
Gide und die
Surrealisten inspiriert. Alexander Kissler begeistert in der
SZ die Lebensklugheit, mit der Fabre sich der Insektenwelt widmet und ihn von der "Charakterfestigkeit" der Wespen oder der
Unbeirrtheit von Skarabäen schwärmen lässt. In der
Zeit hat
Sibylle Lewitscharoff höchstselbst den Band besprochen und nennt Fabres Erinnerung schlicht "eines der
großartigsten Werke", die jemals geschrieben wurden.
John Kenneth GalbraithEine kurze Geschichte der SpekulationEichborn Verlag 2010, 123 Seiten, 14,95 Euro
Es sind in letzter Zeit viele Bücher zu den jüngsten Ereignissen an den
Finanzmärkten erschienen (siehe Stichwort
Finanzkrise oder Bankenkrise, auch Inflation). Dieses hier ist schon ein bisschen älter.
Spekulationswellen enden mit tödlicher Sicherheit im Crash, schreibt J. K. Galbraith laut Klappentext. "Das sagt einem der gesunde ökonomische Menschenverstand. Aber warum lassen sich trotzdem zahllose Anleger stets aufs Neue von
abenteuerlichen Gewinnversprechen blenden und hinters Licht führen?" Versteht man Alexander Armbruster in der
FAZ richtig, so sieht Galbraith Spekulation als Eskalation gesellschaftlich bedingter Irrtümer, eine These von schlagender Aktualität, wie Armbruster findet. Für Arno Widmann in der
FR ist es das "Buch eine Weisen", abgeklärt, resigniert, lehrreich und von
angenehm boshaftem Humor.
Robin Lane FoxDie klassische WeltEine Weltgeschichte von Homer bis Hadrian
Klett-Cotta Verlag 2010, 730 Seiten, 34,90 Euro
730 Seiten
antike Weltgeschichte von einem Autor. Leichtes Bedauern schwingt bei Althistoriker
Stefan Rebenich in der
SZ mit, wenn er feststellt, dass solch umfangreiche populärwissenschaftliche Schmöker wie von Robin Lane Fox hierzulande nicht geschrieben werden. Dann übt er keine Zurückhaltung beim Lob des dicken Bandes, den er als
üppiges Lesevergnügen in "herrlich altmodischer" Machart lobt. Dass Lane Fox dabei Themen manchmal nur anreißt, nimmt Rebenich nicht weiter übel: Er weiß "geistreiche Synthese und pointierte Wertung" höher zu schätzen als lückenlose Darstellung, wie er betont. Ähnlich Uwe Walter in der
FAZ, der es besonders schätzt, dass der Autor, Professor in Oxford, episch ans Werk geht,
erzählend und (die Kunst, Literatur, Philosophie, Politik der Griechen und Römer)
rühmend.
BildbandAra Güler, Orhan PamukIstanbulDuMont Verlag 2010, 184 Seiten, 34,95 Euro
Welche andere europäische Metropole zittert derart vor Vitaliät? Ara Gülers Fotos stammen, in
kraftvoll reduzierter Schwarzästhetik, aus den sechziger und siebziger Jahren, einer Zeit also, die auch in Orhan Pamuk einige besonders dichte Erinnerungen auslöst. Die Rezensenten lieben beides, Orhan Pamuks Essay zu den Fotos und ihren Motiven. Und die Fotos selbst, deren Verdienst es ist - so Angela Schader in der
NZZ - die "unwiederbringliche Vergangenheit" als "
große Kränkung" erkannt und mit der Kamera für die Nachwelt festgehalten zu haben.