04.09.2015. Ein philosophischer Psychothriller von Clemens Setz, eine Heimkehr nach Bukarest von Dana Grigorcea, ein Liebesreigen von Monique Schwitter und Navid Kermanis ästhetische Betrachtungen christlicher Kunst - dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats September.
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Weitere Anregungen finden Sie in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den älteren
Bücherbriefen.
Literatur Clemens J. Setz Die Stunde zwischen Frau und GitarreRoman
Suhrkamp Verlag, 1021 Seiten, 29,95 Euro
Begeisterung, Faszination, Schwindel, Horror - das alles ruft Clemens J. Setz mit seinem Tausendseiter bei den Rezensenten hervor. Im Zentrum des Romans steht eine irritierende Konstellation: Der geistig und körperlich behinderte Alexander Dorm, der in seinem Heim für
betreutes Wohnen regelmäßig Besuch bekommt von ausgerechnet jenem Mann, den er einst stalkte und damit dessen Frau
in den Selbstmord trieb. Geschildert wird das Szenario aus der Perspektive von Dorms neurotischer Betreuerin Natalie, die das rätselhafte Verhältnis der beiden Männer zu durchschauen versucht. Als "ein einziger Reigen der Manipulation" und eine Art "
philosophischer Psycho-Thriller"
beschreibt Richard Kämmerlings in der
Welt den Roman und bekennt, dass die Lektüre bei ihm Paranoia ausgelöst habe: "Es ist der Roman selbst, der uns stalkt." Kompliziert und amüsant, urteilt Jan Wiele in der
FAZ. Unterhalb der Handlungsebene
meint Bernhard Oberreither im
Standard auch eine
Reflexion über die Rolle des Schriftstellers zu erkennen, wenn Setz die poetologische Frage erörtert: "Was kann man mit Sprache leisten - oder wahlweise: ausrichten, anrichten?"
Dana Grigorcea Das primäre Gefühl der SchuldlosigkeitRoman
Dörlemann Verlag, 220 Seiten, 22 Euro
Der dritte Platz beim diesjährigen
Bachmann-Wettbewerb für einen Auszug aus diesem Roman war verdient, stellt
FAZ-Rezensentin Wiebke Porombka nach Lektüre des ganzen Romans fest. Überall wird die 1979 in Bukarest geborene und seit 2007 in der Schweiz lebende Dana Grigorcea von der Kritik als große Entdeckung gefeiert. Von einer
Heimkehr in die Heimat erzählt die Autorin, von der Bankangestellten Victoria, die, nach einem miterlebten Überfall krankgeschrieben, im Bukarest der Gegenwart mit ihren Kindheitserinnerungen und Vorwendeerfahrungen konfrontiert wird. Die "leichte Softblende", mit der Victoria die einst vertraute Umgebung sieht, nimmt ihrem Blick nichts von seiner
Schärfe,
stellt Judith von Sternburg in der
FR begeistert fest und bescheinigt der Autorin, einen "komischen, traurigen, munteren, düsteren" und insgesamt äußerst "eleganten" Roman vorgelegt zu haben, dessen unzähligen Motive sich nicht zu einem Epos, sondern in ein Mosaik fügen. Beziehungsweise in ein "
flirrendes Kaleidoskop", wie Roman Bucheli es in der
NZZ beschreibt. Er hebt besonders hervor, dass Grigorcea bei ihrem "präzisen Sinn fürs Komische und die Hinterhalte des Alltags" nicht die dunklen, gewalttätigen Elemente ihrer Erinnerung außer Acht lässt. Im
DLF unterhielt sich die Autorin mit Joachim Scholl über den autobiografischen Gehalt des Romans.
Maylis de Kerangal Die Lebenden reparierenRoman
Suhrkamp Verlag, 255 Seiten, 19,95 Euro
Ein Herz steht im Mittelpunkt dieses französischen Romans: das noch immer schlagende Herz des neunzehnjährigen Simon, der nach einem Autounfall hirntot im Krankenhaus liegt. Aus allen Perspektiven schildert die Autorin die 24 Stunden vom Unfall über die
Organentnahme bis zum Abschalten der Maschinen und springt dabei zwischen einzelnen Angehörigen, Ärzten und Krankenhauspersonal hin und her. Die
rasanten Perspektivwechsel tragen zum Sog und der Faszination des Texts bei, sind aber auch eine "schlichte Notwendigkeit", um das geschilderte Geschehen für den Leser einigermaßen erträglich zu machen,
konstatiert Georg Renöckl merklich mitgenommen in der
NZZ. Als "bisweilen
brutal detailreich", dabei aber "hervorragend recherchiert"
beschreibt Dana Buchzik auf
Spiegel Online das Buch. Im
Tagesspiegel lobt Wolfgang Schneider die "geschmeidige Übersetzung" von Andrea Spingler. Und in der
Welt versucht Peter Praschl erst gar nicht, seine Ergriffenheit zu verbergen: "So also ist
gloriose Literatur." Und: "So sollte Literatur immer sein."
Monique Schwitter Eins im AndernRoman
Droschl Verlag, 232 Seiten, 19 Euro
Der
Selbstmord ihrer ersten großen Liebe bringt die Protagonistin in Monique Schwitters neuem Roman "Eins im Andern" dazu, sich in eine
biografische Liebesrecherche zu stürzen. Sie möchte herausfinden, was aus ihren Verflossenen geworden ist, und vor allem, wohin die Liebe geht, wenn sie geht. Dass die zwölf Männer, die sie dafür aufspürt, die Namen der Apostel tragen, ist ein Hinweis auf das dichte Gewebe aus
biblischen Bezügen, die die Autorin in einer komplexen Dramaturgie zusammenführt. Großartig konstruiert, und dabei doch gar nicht konstruiert wirkend
findet das Alexander Cammann in der
Zeit: "Mit großem Tempo, schnellen, assoziativen Gegenschnitten und Überblendungen, lakonischen Dialogen, stimmigen Tonlagenwechseln und schönstem Sinnieren wird hier
erstaunlich perfekt erzählt." "Der Roman jedenfalls ist grandios",
meint auch Paul Jandl, der Schwitter für die
Literarische Welt in Hamburg traf. Und für Phillip Theisohn (
NZZ)
steht fest: "Unter den Autorinnen deutscher Zunge ist Monique Schwitter gegenwärtig die mit dem sanftesten Blick und dem härtesten Tritt."
Jenny Erpenbeck Gehen, ging, gegangenRoman
Albrecht Knaus Verlag, 352 Seiten, 19,99 Euro
Keine Frage:
Flüchtlinge sind das Thema der Stunde. Wenn ein Roman ein so aktuelles, brisantes Themas behandelt, sind ihm einerseits Aufmerksamkeit und Relevanz gewiss. Andererseits gilt es bei den Rezensenten den Vorbehalt zu überwinden, das Thema sei aus ebendiesem Grund gewählt worden. Jenny Erpenbeck erzählt - angelehnt an die Ereignisse auf dem Kreuzberger Oranienplatz, wo zwischen 2012 und 2014 ein
Protestcamp von Flüchtlingen stand - von einem
ostdeutschen Rentner, der sich zur Unterstützung afrikanischer Flüchtlinge durchringt. Dass die Autorin dabei nicht auf Mitleid, sondern
auf Verständnis abzielt, hebt Friedmar Apel in der
FAZ hervor und freut sich, dass dabei auch der Humor nicht zu kurz kommt. In der
Welt schreckt Hannah Lühmann zunächst vor dem moralischen Sendungsbewusstsein der Autorin zurück, findet dann aber doch Gefallen an dem Roman als einer "poetischen, traurigen und
spannenden Utopie". Dana Buchzik
kritisiert auf
Spiegel Online hingegen die Entscheidung für einen weißen Protagonisten, Jörg Magenau (
SZ) kann mit dem Roman gar nichts anfangen.
Jonathan FranzenUnschuldRoman
Rowohlt Verlag 2015, 832 Seiten, 26,95 Euro
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Heute ist der neue Franzen erschienen und es liegen bereits
sechs Besprechungen in den überregionalen Blättern vor. Franzen erzählt die Geschichte einer Gruppe von Hackern, die sich nach dem Ende des Kalten Krieges in Bolivien um einen ehemaligen ostdeutschen Dissidenten schart. Dabei verknüpft er mehr oder weniger überzeugend das
Internet mit der DDR. In der
FR feiert Christian Bos die
Kolportagehaftigkeit des Romans und die Kritik am Internet. Genau die
findet Zeit-Rezensent Adam Soboczynski - jedenfalls im forcierten Vergleich mit der DDR - total übertrieben. Sandra Kegel
in der FAZ und Christopher Schmidt in der
SZ sind hin und weg von Franzens Talent für Figuren- und Milieuzeichnung: Franzen "ist ein Seelenergründer", rühmt Kegel. Sehr ermüdend
findet im
Standard Dominik Kamalzadeh die geschilderten
Männlichkeitsmiseren, denen jeder Houellebecqscher Witz fehle. In der
taz beschreibt Katharina Granzin die Lektüre als "Lesefron". Vielleicht muss man es so zusammenfassen: Wer Franzen mag, wird auch dieses Buch mögen.
Sachbuch Navid KermaniUngläubiges Staunen Über das Christentum
C. H. Beck Verlag, 303 Seiten, 24,95 Euro
Kann man sich einer Religion nur über ihre
ästhetische Seite nähern? In vierzig Bildbetrachtungen christlicher - oder eher: katholischer - Kunst versucht Navid Kermani genau dies. Maliziöserweise hat die
FAZ sein Buch ausgerechnet von einem protestantischen Ex-Bischof besprechen lassen, Wolfgang Huber, der Kermani
daran erinnert, dass Religion auch mit Geist und Gewissen zu tun hat, zwei Tugenden, die er wohl in höherem Maße dem Protestantismus als dem Katholizismus zurechnet. Andere Rezensenten hegen diese Skrupel nicht. In der
SZ liest Johann Hinrich Claussen Kermanis Buch als wunderschönen Beweis für wachsende Gelassenheit und ein neues
Interesse der
Religionen für einander. Laut
Welt-Rezensent Martin Ebel
zeigt Kermani, dass die Gegensätze zwischen Christentum und Islam "nur im dogmatischen Bereich liegen, nicht da, worauf es wirklich ankommen sollte". Kermani beschreibt ein Christentum, das "nicht allein erfüllt ist von
Nächstenliebe und Barmherzigkeit, sondern auch von Schmerzenslust, Selbstüberschätzung und
Weltverachtung",
lobt Christiane Florin im
DLF, die allerdings auch zugibt: "Protestanten müssen bei der Lektüre tapfer sein." Für den Rundfunk unterhielt sich Kermani mit Liane von Billerbeck (
DradioKultur) und Andreas Main (
DLF).
Mona EltahawyWarum hasst ihr uns so?Für die sexuelle Revolution der Frauen in der islamischen Welt
Piper Verlag, 208 Seiten, 16,99 Euro
Im April 2012 schrieb die Journalistin Mona Eltahawy einen vielbeachteten Artikel für
Foreign Policy (
hier im pdf), in dem sie die
systematische Unterdrückung von Frauen in der islamischen Welt anprangerte. Daraus ist nun das Manifest "Warum hasst ihr uns so?" entstanden, in dem Eltahawy die unterschiedlichen Arten schildert, auf die Frauen in Nordafrika und dem Nahen Osten benachteiligt und ausgebeutet werden, von den starren gesellschaftlichen Geschlechterrollen über die rechtliche Ungleichstellung bis zu entwürdigenden und brutalen Praktiken wie
Jungfräulichkeitstest und Genitalverstümmelung. "Gleichzeitig Anklage und Aufruf zum Widerstand" ist Eltahawys Buch für Marie Wildermann (
DradioKultur): "Sie liefert keine Generalabrechnung mit dem Islam, sondern kritisiert Rückständigkeit, politische Missstände und die Instrumentalisierung der Religion für männliche Machtinteressen." Auf
Qantara hebt Claudia Kramatschek besonders hervor, dass die Autorin ihre
eigenen Erfahrungen - etwa die sexuellen Übergriffe auf dem Tahir-Platz - in ihre Analyse einbezieht: "
Für sich zu sprechen, ist die Botschaft, die sie an die Frauen hat." Ein wichtiger Beitrag zur feministischen Literatur im Nahen Osten, meint in der
FAZ Susanne Fischer.
Ralf Konersmann Die Unruhe der WeltS. Fischer Verlag, 464 Seiten, 24,99 Euro
Die Rezensenten, die bei Ralf Konersmanns Studie offenbar mit einem kulturpessimistischen Entschleunigungsratgeber oder einer Slowfood-Bibel gerechnet hatten, sind erleichtert: Tatsächlich liefert ihnen der Kieler Kulturphilosoph einen
stilistisch eleganten ideengeschichtlichen Überblick über die Unruhe und wie sie in die Welt kam. Und zwar nicht erst in der Neuzeit, sondern bereits mit der Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies. Was sich dann in der Moderne ereignete, ist lediglich die Umwidmung der Unruhe vom biblischen Fluch zur verlockenden Verheißung der Zukunft. Dabei handelt der Autor das Thema nicht erschöpfend ab, sondern beweist, "dass
apartes Erkenntnisinteresse oft erhellender ausfällt als die Meistererzählung fürs große Ganze",
meint Marc Reichwein in der
Welt. Maren Keller (
Spiegel Online), Michael Stallknecht (
SZ) und Christian Thomas (
FR) sind ebenfalls begeistert. Als Antrieb menschlicher Zivilisation ist die Unruhe ein "Schicksal, das man eben nicht wegtherapieren kann", wie Thorsten Jantschek in der
FAZ bei dieser "
glücklich machenden Theorielektüre" höchst angeregt feststellt. Für
DradioKultur hat sich Jantschek mit Konersmann
unterhalten.
Helen MacdonaldH wie Habicht Allegria Verlag, 416 Seiten, 20 Euro
"
Falknerei ist schon etwas ziemlich Spezielles", wie
Welt-Autor Eckhard Fuhr
weiß. Insofern ist es erstaunlich, dass das Buch "H wie Habicht" der britischen Historikerin Helen Macdonald auf der Insel Bestsellerstatus erlangte. Wie sie sich nach dem Tod ihres Vaters in geradezu ungesund konsequenter Weise der Aufgabe widmete, einen Habicht "abzutragen", wie das Zähmen in der Fachsprache heißt, ist für Fuhr "der Stoff für einen grandiosen Bildungsroman" und ein spannender Einblick in eine
seit Jahrtausenden nahezu unveränderte Kulturtechnik. Sylvia Staude
zeigt sich in der
FR beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit die Autorin die Grenzen zwischen (Auto)Biografie, Lyrik, Natur- und Tierbeschreibung ("besonders letzteres grandios") überschreitet und bezieht aus der Lektüre eine tiefe Erkenntnis: "Das kreatürliche Anders-Sein des Tiers kann der Mensch nur zur Kenntnis nehmen - was für eine bewegende,
grandiose Erfahrung doch auch." Tiemo Rink, der das Buch ausführlich im
Tagesspiegel bespricht, lernt, "die Natur sei kein Allheilmittel für die menschliche Seele." Für
DradioKultur unterhielt sich Joachim Scholl mit der Autorin.
David BarrieSextant Die Vermessung der Meere
Marebuchverlag, 352 Seiten, 26 Euro
Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein waren die
Umrisse ganzer Kontinente und selbst die genauen Formen der europäischen Gewässer unbekannt. Zwar ließ sich mit Hilfe des sogenannten Jakobsstabs bereits seit dem 13. Jahrhundert der Breitengrad ermitteln, doch die Errechnung des Längengrads war, besonders unter den Bedingungen auf einem schwankenden Schiff, nicht präzise möglich. Zur Verbesserung der
Navigation (und Ausweitung ihrer Seemacht) lobte die britische Krone 20.000 Pfund für denjenigen aus, der eine Technik zur exakten Berechnung der Position eines Schiffes entwickelte. Der britische Schmetterlingsforscher und Diplomat a.D. David Barrie erzählt anekdotenreich, wie die Erfindung des
Sextanten die Seefahrt revolutionierte - "ein Genuss insbesondere für all diejenigen, denen beim modernen Reisen ein
Teil der Romantik fehlt",
meint Ulli Kulke in der
Welt. Auch
FAZ-Rezensent Henning Sietz hat das Buch mit Gewinn gelesen, stört sich allerdings an dem an Kehlmann angelehnten deutschen Untertitel (im Original: "A Voyage Guided by the Stars and the Men Who Mapped the World"s Oceans"), geht es doch nicht um die Vermessung der Meere, sondern der Küstenlinien neu entdeckter Länder.