09.06.2014. Georgi Gospodinov beschreibt mit Witz die Physik der Schwermut in Bulgarien. Javier Cercas erzählt eine postfranquistische Gangstersaga. Glenn Greenwald erklärt uns noch einmal das Ausmaß der globalen Überwachung, und Faramerz Dabhoiwala erzählt die Geschichte der ersten sexuellen Revolution. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Juni.
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Büchern der Saison vom
Frühjahr 2014, unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2014, den
Leseproben in
Vorgeblättert, in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturGeorgi GospodinovPhysik der SchwermutRoman
Droschl Verlag 2014, 336 Seiten, 23 Euro
Georgi Gospodinov durchschreitet in seinem Roman "Die Physik der Schwermut" ein ganzes finsteres Jahrhundert
bulgarischer Geschichte. Und weil er in seinem gewaltigen Erzähllabyrinth nie die Orientierung verliert, sondern sich lustvoll fabulierend über alle Konventionen hinwegsetzt, preist Andreas Breitenstein in der
NZZ den Autor als
Retter der Literatur und eigentlich der ganzen Welt: "So tief und witzig hat schon lange kein Autor über sich nachgedacht." In der
SZ bewundert Christopher Schmidt die akrobatischen Gedankengänge des Autors als "Ein-Mann-Schwarmintelligenz". Jan Volker Röhnert kann im
Tagesspiegel sehr schön
erklären, warum Gospodinov so hoch aus der bulgarischen Literaturszene herausragt, in der sich ansonsten laut Röhnert Ostalgiker und die Zöglinge der Schiwkow-Nomenklatura tummeln. In der
Welt unterhält sich Inga Pylypchuk mit dem Autor über seinen Roman und die
Traurigkeit Bulgariens. Im
taz-Interview
macht Gospodiniv auf einen Mangel im kapitalistischen System aufmerksam: "Die
Produktion von Empathie ist ausgelaufen."
Javier CercasOutlawsRoman
S. Fischer Verlag 2014, 512 Seiten, 24,99 Euro
Javier Cercas
nimmt sich auch mit seinem neuen Roman "Outlaws" ein düsteres Kapitel der spanischen Geschichte vor: die Zeit der Transición nach Franco. Cercas erzählt anhand zweier Jugendlicher, die zusammen in einer
Jugendbande ins Leben starten, die Geschichte einer verlorenen Generation: Während der eine, Zarco, zum berühmtesten Gangster des Landes avanciert, aber schnell im Gefängnis landet, wird der andere, der Erzähler Ignacio, ein anerkannter, aber fader Strafverteidiger. Im
RBB nennt Claus-Ulrich Bielefeld Cercas" Roman eine
kluge Parabel über gesellschaftliche Brüche und Grenzen. In der
FAZ bedauert Jakob Strobel Y Serra zwar etwas die kühle Konstruktion des Romans, die den Leser auf Abstand hält, lernt aber viel über die
Bigotterie des bürgerlich-katholischen Spaniens. In der
SZ preist Ralph Hammerthaler die
postfranquistische Gangstersaga als bitteres, aber zutiefst menschliches Werk. beim
Perlentaucher)
Tomas EspedalWider die NaturMatthes und Seitz 2014, 192 Seiten, 19,90 Euro
Radikal neu ist das nicht, wovon Tomas Espedal in "Wider die Natur" erzählt: Ein
älterer Mann verliebt sich in eine jüngere Frau, die ihn schließlich sitzen lässt. Wie der norwegische Autor das Geschehen jedoch schildert, es mit Erinnerungen an seine verstorbene Frau verknüpft und ihm bei aller Beiläufigkeit
tiefe Gefühle und Erkenntnisse abringt, das hat die Rezensenten umgehauen. Die lakonische Erzählweise und das tiefe Sinnieren, das gefühlvolle Sehen und das drängende Erleben verbinden sich zu einem "Amalgam von existentialistischer Dringlichkeit",
staunt Andreas Breitenstein in der
NZZ. Iris Radisch, die sich bei der Lektüre bisweilen an Espedals Kollegen und Freund Karl Ove Knausgård erinnert fühlt,
preist "Wider die Natur" in der
Zeit als "ein
Meisterwerk des literarischen Understatements" und spricht gar von einem "Liebesroman, wie es noch keinen gegeben hat". Edelgard Abenstein
beschreibt das Buch im
Dradio Kultur als eine "eindrucksvolle Etüde über das Scheitern und das Älterwerden, über die Vergänglichkeit und darüber, dass die Bibel mit ihrer Liebesbehauptung doch recht hat."
Marie N"DiayeLadivineRoman
Suhrkamp Verlag 2014, 444 Seiten, 22,95 Euro
Von einer
doppelten Mutter-Tochter-Beziehung erzählt Marie N"Diaye in ihrem Roman, jener zwischen der dunkelhäutigen Putzfrau Ladivine und ihrer hellhäutigen Tochter Malinka, die sich Clarisse nennt und aus Scham und latenter Verachtung ihre Herkunft nach Kräften zu verleugnen sucht, sowie jener zwischen Clarisse und ihrer Tochter, die wie die Großmutter, die sie nicht kennt, Ladivine heißt. Als "kristallines Meisterwerk"
feiert Ina Hartwig in der
SZ den Roman und zeigt sich beeindruckt von der "
biblischen Wucht", mit der N"Diaye das Geschehen ausbreitet. Maike Albath (
NZZ), die von der "vibrierenden Intensität" der Sprache gefangen ist,
lässt der Duktus mitunter an
Chateaubriand und Claude Simon denken. In der
FAZ betont Lena Bopp das Vermögen der Goncourt-Preisträgerin von 2009, das Innenleben ihrer Figuren in
feinsinnigen und poetischen Beobachtungen zu schildern. Lediglich Katrin Hillgruber
zeigt sich in der
FR nicht restlos überzeugt von diesem animistisch angehauchten "Mutter-Tochter-Endlos-Loop".
MawilKinderlandReprodukt Verlag 2014, 280 Seiten, 29 Euro
In "Kinderland" schildert der Berliner Comiczeichner Markus "
Mawil" Witzel den Alltag in der späten DDR, den
Fall der Mauer und die Wende aus der unbefangenen Perspektive eines Kindes. Damit bleibt er seinen autobiografisch geprägten Geschichten treu, öffnet aber zugleich den Fokus auf den zeitgeschichtlichen Zusammenhang - und das bravourös, finden die Rezensenten. Als "mitreißend, witzig, tiefgründig"
preist Lars von Törne im
Tagesspiegel den Band, während Christian Schlüter in der
FR die durch den "flüchtigen, immer leicht krakeligen Strich" erzeugte
Dynamik der Zeichnungen hervorhebt. Thomas von Steinaecker sieht in der
SZ seine hohe Erwartung eines "Opus Magnum" wegen gelegentlicher Klischeehaftigkeit zwar nicht vollkommen erfüllt, dennoch sei auch dieser Band letztlich "schlicht wunderbar gelungen". Im Gespräch mit dem
DLF erzählt Mawil, wie er selbst das Ende der DDR erlebt hat.
SachbuchMarc EngelhardtHeiliger Krieg, heiliger ProfitAfrika als neues Schlachtfeld des internationalen Terrorismus
Ch. Links Verlag 2014, 224 Seiten, 16,90 Euro
Auf das Konto der im Norden Nigerias wütenden Terrortruppe
Boko Haram geht in diesem Jahr nicht nur die aktuelle Entführung von
200 Schulmädchen, sondern auch schon die Ermordung von 1500 Menschen. In Somalia terrorisieren die Milizen der
al-Shabaab die Bevölkerung, im Maghreb
al-Qaida und in Uganda die
Lord Resistance Army. Der langjährige Afrika-Korrespondent Marc Engelhardt beschreibt in seinem Buch "Heiliger Krieg, heiliger Profit" die fanatischen Trupps nicht als Vorhut des religiösen Kampfes, sondern als brutale
Banden Organisierter Kriminalität, die aus einem "globalen Geschäft mit der Angst" Profit schlagen. In der
SZ empfiehlt Michael Bitala sehr nachdrücklich das Buch, das gründlich recherchiert sei und auch erkläre, warum das korrupte Militär meist keine Hilfe ist. In der
FR lernt Thomas Schmid unter anderem über das System Boko Haram, das seine Mitglieder in den Moscheen rekrutiert,
von Gouverneueren unterstützt wird und seine Gewinne mit Schutzgelderpressung macht. Im
SWR findet Günter Beyer allerdings die religiöse Komponente unterbewertet.
Glenn GreenwaldDie globale ÜberwachungDer Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen
Droemer Knaur Verlag 2014, 368 Seiten, 19,99 Euro
Großer medialer Aufmerksamkeit kann sich
Glenn Greenwald sicher sein, wenn er in "Die globale Überwachung" ausführlich die Einzelheiten seines Kontakts zu
Edward Snowden, die Übergabe der Enthüllungsdokumente und deren Inhalt ausbreitet. Und auch, wenn das meiste schon bekannt war, zeigen sich die Rezensenten von der Lektüre aufs Neue schockiert. "Wie ein
Spionagethriller" liest sich das für Brigitte Baetz (
DLF) - kein Wunder, arbeiten Snowden und Greenwald doch "wie Dramaturg und RegissEuro", wie Andrian Kreye in der
SZ feststellt. An der Frage, wie es mit dem Whistleblower weitergeht, entscheidet sich für Stefan Schulz in der
FAZ, wo unsere Gesellschaft hinsteuert. "Engagierter,
furchtloser Journalismus" ist das für Ole Reißmann (
SpOn), der hervorhebt, dass der Autor auch komplexe technische Zusammenhänge für den Laien verständlich macht. Außerdem bringt die
Zeit einen
Auszug und die
Welt ein ausführliches
Interview mit Greenwald.
Faramerz DabhoiwalaLust und FreiheitDie Geschichte der ersten sexuellen Revolution
Klett-Cotta Verlag 2014, 536 Seiten, 29,95 Euro
Wie sich die Vorstellungen von Sexualität und Sitte im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, das ergründet
Faramerz Dabhoiwala, Professor für Moderne Geschichte am renommierten Exeter-College in Oxford, in seiner Studie "Lust und Freiheit" und löst damit bei den Rezensenten helles Entzücken aus. Ebenso kühn wie überzeugend
findet Urs Haffner in der
NZZ den Ansatz, die
sexuelle Revolution als "entscheidenden Aspekt" der Aufklärung zu begreifen, während Judith von Sternburg in der
FR staunt, wie sich das
Frauenbild dabei wandelt und die Frau doch im Nachteil belässt. In der
Zeit würdigt Yvonne Schymura den Band als "wertvollen Beitrag der Euroopäischen Kulturgeschichte", und Hannes Stein
schildert in der
Welt die
hohen Wellen, die er in England und den USA ausgelöst hat. Wenn Emily Bartels im
Spiegel schreibt, dass Buch lese sich "eher wie eine wissenschaftlich fundierte Boulevardzeitschrift als ein Geschichtsbuch", dann ist das durchaus positiv gemeint. bei Klett-Cotta)
Juri Andruchowytsch (Hrsg.)
EuromaidanWas in der Ukraine auf dem Spiel steht
Suhrkamp Verlag 2014, 207 Seiten, 14 Euro
Dieses Buch über den
Euroomaidan enthält vieles:
Augenzeugenberichte von Schriftstellern und Aktivisten (darunter Katja Petrowskaja, Kateryna Mishchenko, Serhij Zhadan, Andrzej Stasiuk und Martin Pollack), aber auch
Essays und Analysen von Historikern und Soziologen (darunter Timothy Snyder und Anton Shekhovtsov) über die Ereignisse in der Ukraine seit dem November 2013. Der von
Juri Andruchowytsch herausgegebene, im Mai erschienene Band ist so aktuell, wie ein Buch nur sein kann, aber er wird natürlich trotzdem jeden Tag von den Ereignissen überholt. Dennoch fand
taz-Rezensentin Katharina Granzin ihn sehr erhellend. Denn er bietet neben einem
beeindruckenden Gesamtbild der Lage in der Ukraine auch Informationen über die Rolle
rechter Gruppen bei den Protesten auf dem Maidan-Platz, lobt sie. In der
SZ empfiehlt Jens Bisky den Band, der daraus einiges über
Putins Politik gelernt hat. In der
FAZ würdigt Sandra Kegel vor allem die besondere Rolle
Katharina Raabes, die als Suhrkamp-Lektorin viele der hier schreibenden ostEuroopäischen Autoren schon vor Jahren entdeckt hat und auch am Zustandekommen dieses Bandes maßgeblich beteiligt war.
Ulrich HerbertGeschichte Deutschlands im 20. JahrhundertC. H. Beck Verlag 2014, 1451 Seiten, 39,95 Euro
1451 Seiten deutsche Geschichte - von 1914 bis 1990, mit dem Jahr 1945 als Zäsur: Das ist Ulrich Herberts
Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Spannend und vielseitig findet sie
FAZ-Rezensent Carsten Kretschmann, der insbesondere die
Dynamik der Gewalt, die im Holocaust mündete, überzeugend herausgearbeitet sieht. Kretschmann und sein
FAZ-Kollege Patrick Bahners beschreiben das Buch als
klassische Nationalgeschichte. In den Kritiken von Matthias Arning (
FR) und Tim B. Müller (
SZ) liest sich das ganz anders. Beide sehen hier deutsche Geschichte als
Teil Euroopäischer Geschichte beschrieben. Wie die
FAZ-Rezensenten fanden auch sie das Buch
höchst anregend. bei C.H. Beck)