Bücherbrief

Momente heftiger Schönheit

09.08.2017. Arundhati Roy führt in ihrem zweiten Roman nach zwanzig Jahren in die anarchischen Ecken von Delhi. Aras Ören erinnert an deutschtürkisches Zusammenleben im Kreuzberg der Siebziger und Achtziger. Ivan Krastev erzählt mit Scharfsinn und Wärme von einem Europa in der Krise. Und Lutz Klevemann reist in die Geschichte Lembergs. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats August.
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Weitere Anregungen finden Sie der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Hanne Orstavik
Liebe
Roman
Karl Rauch Verlag 2017, 120 Seiten, 18 Euro



Höchste Zeit, Hanne Orstaviks bereits vor zwanzig erschienenen Roman "Liebe" auch hierzulande zu entdecken. Für NZZ-Kritiker Peter Urban-Halle ist der Roman eine Art "Vorläufer" der gefühlsbetonten Literatur ihrer Landsmänner Knausgard, Espedal, Petterson oder Renberg. Genauso viel Einsamkeit, Sehnsucht und Selbstzweifel - aber weniger Drama, fährt Urban-Halle fort. Keine leichte Lektüre also, aber eine absolut virtuose, wie die RezensentInnen versichern: In der SZ nennt Kristina Maidt-Zinke diese "traurige, kleine" Geschichte um die alleinerziehende Mutter Vibeke und ihren achtjährigen Sohn Jon, die isoliert nebeneinander leben, gar ein "Wunderwerk minimalistischer Prosa". Abwechselnde Perspektiven und "harte" Schnitte sorgen dafür, dass die Erzählung ordentlich an Fahrt aufnimmt, schwärmt die Rezensentin. Wie leichthändig Orstavik von der Sprachlosigkeit einander nahestehender Menschen erzählt, norwegische Atmosphäre spürbar macht und die Psyche des Jungen auslotet, hat Maidt-Zinke schier den Atem verschlagen.

Aras Ören
Wir neuen Europäer
Ein Lesebuch
Verbrecher Verlag 2017, 260 Seiten, 16 Euro



Nur wenige, aber begeisterte Besprechungen hat dieses Buch des Autors Aras Ören erhalten, das einen Querschnitt aus seinen Romanen, Gedichten und Reden bietet. In den Versen des Journalisten und Schriftstellers, der seit 1969 in Berlin lebt, lernt man wesentlich mehr über Deutschtürken als aus einem kühl analysierenden Sachbuch, meint etwa Marko Martin im Deutschlandradiokultur. Und in der FR gelangt Harald Jähner mit Örens Lesebuch zurück zu den Anfängen des migrantisch geprägten Kreuzbergs, als die türkischen Gastarbeiter "das Salz und der Safran der Stadt" waren. In den Texten, die überwiegend in den 70er und 80er Jahren entstanden, lernt der Kritiker nicht nur, dass für die Beziehung zwischen Deutschen und Türken einst statt der trennenden Religion der gemeinsame Klassenkampf prägend war, sondern erlebt auch eine noch nicht re-islamisierte Türkei, in der man Raki trank statt an Allah zu denken. Während Marko Martin hier eine wunderbare Mischung aus "Berliner Straßen-Schnoddrigkeit" und Poesie vernimmt, entgeht Harald Jähner nicht die "archaische Melancholie", die kunstvoll lakonisch mit orientalischen Verzierungen zu "Momenten heftiger Schönheit" zusammenfließen kann. Und wenn der Autor, sich um rassistische Klischees nicht kümmernd, vom Sex mit einer Eselstute erzählt, denkt Jähner wehmütig an längst vergangene Zeiten.

Arundhati Roy
Das Ministerium des äußersten Glücks
Roman
S. Fischer Verlag 2017, 560 Seiten, 24 Euro



Zwanzig Jahre nach dem "Gott der kleinen Dinge" hat Arundhati Roy ihren zweiten Roman vorgelegt - eine Sensation, finden die KritikerInnen. FR-Kritiker Arno Widmann nennt den Roman zwar eine "unerträgliche" Lektüre für jene Leser, die alles verstehen wollen, und in der Zeit findet Jan Ross das Buch ebenso brillant wie "misslungen". Doch können sich die RezensentInnen der Rasanz, der Gesprächsdichte, der überbordenden Poesie und dem Witz des Romans kaum entziehen. Die im ersten Teil erzählte Geschichte um den jungen Transgender Anrum erscheint Ross wie ein "subversiver, gegen den Strich gebürsteter Heimatroman", der ihn in die anarchischen und volkstümlichen Ecken von Delhi führt. Wenn Roy dann anhand der Geschichte von vier Studienfreunden das gesamte politische Spektrum Indiens von der Gewalt gegen die "Unberührbaren" bis zur Rebellion in Kaschmir schildert, geht jedoch die politische Aktivisten allzu sehr mit der Autorin durch, meint Ross. Im Guardian attestiert auch Alex Clark dem Buch einige Längen, vor allem aber entdeckt in diesem "merkwürdigen Tier" von einem Roman eine ebenso locker wie atemberaubend zusammengeworfene Mischung verschiedenster Erzählungen, die abwechselnd "schmerzvoll, lustig, sexy, gewaltsam, erdig oder jenseitig" sind. Während Arno Widmann nach der Lektüre mit einem veränderten Blick auf die eigene Umgebung schaut, vermisst Parul Sehgal in The Atlantic allerdings Subtilität, psychologische Figuren-Entwicklung, den überspringenden Funken, der das Buch zu Kunst macht.

Artjom Wesjoly
Blut und Feuer
Roman
Aufbau Verlag 2017, 640 Seiten, 28 Euro



Dieser nun auch um die zensierten Passagen erweiterte Roman hat den im Jahre 1938 nach mehrmonatiger Folter in der Moskauer Lubjanka erschossenen Artjom Wesjoly wohl das Leben gekostet, mutmaßt FAZ-Kritikerin Christiane Pöhlmann. Humor und Satire waren unter Stalin längst verpönt waren, als "Blut und Feuer" 1932 erstmals erschien. Fein, aber scharf ist der Spott, mit dem Wesjoly in "Blut und Feuer" aus eigenem Erleben von der russischen Oktoberrevolution und dem darauffolgenden Bürgerkrieg erzählt, so Pöhlmann. Für Olga Hochweis vom Deutschlandradiokultur liest sich der Roman wie ein "universaler Antikriegsroman": Verschiedene Erzähler berichten in harten Schnitten zwischen Naturschönheit und Kriegsgräuel aus der Türkei, der Ukraine, Japan oder dem Irak. Angetan hat es den Kritikerinnen vor allem der anarchische Gestus des Romans, der auch formell und sprachlich zum Ausdruck kommt: Wesjoly holt den Lärm der Zeit und die Dramatik der Ereignisse in sein "exzessives und opulentes" Buch, meint Christine Hamel im br-Radio, poetische Töne wechseln mit Zoten, schreibt Christine Pöhlmann in der SZ und Olga Hochweis staunt, wie Wesjoly zwischen "hartem Naturalismus" und klangvoller "ornamentaler Prosa" switcht und dabei Hoch- und Vulgärsprache, Folklore und Neologismen, Briefausschnitte und Plakattexte, grafisch abgesetzte Ausrufe und Dialogfetzen vereint. Thomas Reschkes Übersetzerleistung ist gar nicht genug zu würdigen, schließt Pöhlmann.

Stefanie Sargnagel
Statusmeldungen
Rowohlt Verlag, 304 Seiten, 19,95 Euro



Stefanie Sargnagel, österreichischer Facebook-Superstar, beliebte Shitstorm-Zielscheibe und Mitbegründerin der feministischen Burschenschaft "Hysteria" hat mit "Statusmeldungen" ihr viertes Buch vorgelegt und die Feuilletons knien nieder: In der SZ bewundert Nicolas Freund die Mischung aus öffentlichem Tagebuch, "zynischem" Witz und Do-it-yourself-Journalismus und amüsiert sich prächtig, wenn ihm die junge Wiener Autorin in ihren Facebook-Meldungen von Sauf-Exzessen berichtet, ihn kurz wissen lässt, dass man im Café Weidinger "gut scheißen" kann, ihr Clownworkshop wegen Kolonialismus abgebrochen wurde oder ihr Interesse, sich während der Flüchtlingskrise als Schlepperin zu betätigen, nur kurzzeitig anhielt. taz-Kritikerin Shirin Sojitrawalla  attestiert den hinreißend komischen Alltagsdiagnosen gar den Größenwahn von Rainald Goetz. Und in der SZ spürt Nicolas Freund bei aller Ironie immer auch ein zartes Gefühl von "Hilf- und Ratlosigkeit", etwa wenn ihm die Autorin die ganze "Armseligkeit" und "eigenwillige Schönheit" von Lugner-City in kurzen Szenen vor Augen führt. Für Zeitonline hat Eva Biringer mit Sargnagel über Therapien, Körperkult und ihre Forderung nach einem Matriarchat gesprochen.


Sachbuch

Patsy l'Amour laLove (Hg.)
Beißreflexe
Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten
Quer Verlag 2017, 272 Seiten, 16,90 Euro



Der von der Berliner Aktivistin Patsy l'Amour laLove herausgegebene Sammelband "Beißreflexe" hat für viel Unmut bei Genderforschern und in der queeren Community gesorgt. In der Zeit klagen etwa Judith Butler und Sabine Hark in einem bitterbösen Brief, hier werde "mit unvergleichlichem Furor und beißender Härte" genussvoll "Bashing der Gender- und Queer-Studies" betrieben. (Unser Resümee) Ebenfalls in der Zeit lobte dagegen Kritiker Caspar Shaller den Band als längst überfällig: Er findet die 27 Essays, die sich der "autoritären Wende" in der LGBT-Community widmen, kenntnisreich, überwiegend klar und stringent argumentiert. Gelernt hat er dabei, dass einiges falsch läuft in den identitätspolitischen Theorien. Statt Kritik an der heterosexuellen Normativität zu äußern, mache sich eine autoritäre Kultur der Denk- und Sprechverbote breit, wenn beispielsweise cis-Männern verboten werde, sich über Diskriminierung von Trans-Menschen zu äußern. Während dem Zeit-Kritiker nur einige der Beiträge zu polemisch, dünn und "unreflektiert" geraten, fehlt es Philipp Schnee auf Deutschlandfunkkultur insgesamt an sachlicher Analyse: Ein berechtigtes Anliegen werde hier durch Übertreibungen, Diffamierungen und ein "Best-of der Horrorgeschichten" lächerlich gemacht, findet er. In einem Gastbeitrag im Tagesspiegel nimmt Patsy l'Amour LaLove Stellung zur Kritik.

Ivan Krastev
Europadämmerung
Ein Essay
Suhrkamp Verlag 2017, 143 Seiten, 14 Euro



Kaum ein Autor verbindet stilistische Brillanz, Liebe zur Literatur, politische Illusionslosigkeit und "Schönheit der Gedanken" so wunderbar wie der bulgarische Intellektuelle Ivan Krastev, findet Zeit-Kritikerin Elisabeth von Thadden. Scharfsichtig und doch voller Wärme erzählt ihr der Politologe aus osteuropäischer Perspektive von einem Europa in der Krise, das gespalten ist zwischen jenen, die den Zerfall des Kommunismus' selbst erfuhren, und jenen, die davon verschont blieben. Während Thadden bei Krastev versteht, weshalb sich viele Osteuropäer mit Blick auf Zu- und Abwanderung heute noch stärker traumatisiert fühlen als nach dem Zerfall der Sowjetunion, liest SZ-Kritiker Gustav Seibt den Essay als wichtigen Beitrag zur Versöhnung zwischen Ost und West. Ihn überzeugt nicht nur Krastevs These, dass die Flüchtlingskrise die EU, Europa und seine Gesellschaften spalte, da sie die Ungleichheit zwischen den Völkern sichtbar mache, sondern er staunt auch über den antithetischen Drive des Autors, der ihm neue "Strukturbrüche" sichtbar macht. Thadden hätte sich allerdings gewünscht, Krastev hätte etwas mehr Fantasie bei Vorschlägen für eine künftige Europapolitik bewiesen.

Lutz Klevemann
Lemberg
Die vergessene Mitte Europas
Aufbau Verlag 2017, 315 Seiten, 24 Euro



In Lemberg, dem heutigen Lwiw in der Ukraine lebten bis zum Zweiten Weltkrieg noch Polen, Juden, Ukrainer und Deutsche zusammen. Nach Stalins Terrororganisationen und dem Vernichtungskrieg der SS wurde die multiethnische Stadtgesellschaft der einstigen Hauptstadt von Galizien fast vollständig ausgelöscht. Der Journalist Lutz C. Klevemann hat die leidvolle Geschichte "der vergessenen Mitte Europas" nun aufgeschrieben. In der taz lobt Stefan Reinecke den zwischen Essay, historischer Recherche und Reisebericht mäandernden Text, der tiefe Einblicke in die von totalitären Regimen geprägte Geschichte und das rohe, "narbige" Antlitz der Stadt gebe. Doch lernt er dank Klevemann auch den eigenwilligen Charme der Stadt kennen, etwa wenn er erfährt, dass Gäste in einem Sacher-Masoch gewidmeten Restaurant mit zwei Peitschenhieben begrüßt werden. Für FAZ-Kritiker Stephan Stach ist der Blick Klevemanns, insbesondere auf die ethnischen Spannungen, zu westeuropäisch. Das Geistesleben zwischen 1918 und 1939 und den Zauber des "postsozialistischen Flairs" kann ihm der Autor aber anschaulich vermitteln. In der Badischen Zeitung staunt Bettina Schulte über die enorme Rechercheleistung des Journalisten, und im Deutschlandfunk lobt Sabine Adler das Werk als "sorgfältiges und umfassendes Geschichtsbuch".

Siddharta Mukherjee
Das Gen
Eine sehr persönliche Geschichte
S. Fischer Verlag 2017, 768 Seiten, 26 Euro



Selten sind sich die Kritiker so einig wie bei Siddharta Mukherjee, der in seinem zweiten Buch "eine sehr persönliche Geschichte" des Gens vorlegt. Auf Deutschlandfunkkultur bewundert Michael Lange, wie anschaulich, kenntnisreich und unterhaltsam der Arzt und Schriftsteller in die Genetik einführt und dabei persönliche Anekdoten mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verknüpft. Fasziniert liest er, wie ihm Mukherjee mit viel Humor, Fantasie und Einfühlungsvermögen von seiner Familie in Indien erzählt, etwa von dem an Schizophrenie erkrankten, aber genialen Onkel oder den beiden Zwillingsschwestern, die ganz unterschiedliche Lebenswege einschlagen. Im MDR braucht Bettina Baltschev zwar ein wenig Konzentration, wenn Mukherjee sehr detailreich in die komplexe Genforschung einführt - der enorme Erkenntnisgewinn lohnt die spannende Lektüre aber allemal, findet sie. Mukherjees Darstellung der Geschichte der Genetik möchte FAZ-Kritiker Thomas Weber häufig widersprechen. Wenn ihm der Autor allerdings Einblicke in Gegenwart, Zukunft und Grenzen der modernen Genetik gewährt und aufzeigt, kann der Kritiker das Verdienst des Buches gar nicht genug würdigen. In der New York Times lobt James Gleick das Buch.

Frank Trentmann
Herrschaft der Dinge
Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute
Deutsche Verlags-Anstalt (DVA) 2017, 1104 Seiten, 40 Euro



Mehr als tausend Seiten umfasst die globale Konsumgesichte des Historikers Frank Trentmann, die von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart reicht. Für FAZ-Kritiker Werner Plumpe leistet das enzyklopädische Werk einen zukunftsoffenen Beitrag zur aktuellen Kapitalismus-Debatte, vor allem weil der Autor den Konsum "weder in konsumkritischer Perspektive verdammt noch in liberaler Sicht zum Heilsgeschehen erklärt": Unaufgeregt und gut lesbar erläutert ihm der Autor Zusammenhänge wie jenen zwischen Welthandel und Konsumkulturen und zeigt auf, wie sehr Konsum unsere Geschichte und unsere Vorstellung der Welt prägt. Zeit-Kritiker Kevin Neuroth lobt neben der sorgfältigen Recherche und dem reichhaltigen "Wissensfundus verschiedener akademischer Disziplinen" insbesondere Trentmanns Darstellung der "emotionalen Dimension des Konsums". Nicht unbedingt ein Buch für ein Einsteiger, meint Edelgard Abenstein auf Deutschlandfunkkultur, verspricht aber jenen Lesern, die bereit sind, einen "Schock an Mußestunden" zu verbringen, nachhaltige Erkenntnisse.