02.03.2007. Hundert Prozent Geschichten diesmal: über letzte Silvesternächte, Kalibergwerke, Kondomfabrikanten. Traurige Huren, ein moderner Orpheus und ein irrer Koch treten ebenfalls auf in den besten Büchern im März.
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Noch mehr Anregungen gibt es natürlich weiterhin
- im vergangenen
Bücherbrief- in
Vorgeblättert- in der
Krimikolumne "
Mord und Ratschlag"
Die besten Bücher der zweiten Jahreshälfte finden Sie übrigens in den
Büchern der Saison. Und natürlich haben wir ständig die neuesten
Literaturbeilagen ausgewertet.
Buch des MonatsPeter HandkeKaliEine Vorwintergeschichte
Einen grandiosen
Befreiungsschlag hat der Schriftsteller Handke gegenüber dem umstrittenen Politikkommentator Handke da hingelegt, wenn man der fast einmütigen Begeisterung der Kritikerrunde trauen darf . Für die
Zeit hat Handke mit diesem strukturstarken,
szenischen Konzentrat über die Suche nach einem verschwundenen Mädchen seinen Platz in der handverlesenen Gruppe von Deutschlands interessantesten Schriftstellern eindrucksvoll verteidigt. Die
SZ versetzt das hochgestimmte Epos konsequenterweise in Hochstimmung, die
NZZ erliegt der
schrecklichen Schönheit der kleinen Erzählung. Atemberaubend frei sei das komponiert, lobt die FR. Einzig die
FAZ behauptet, vor Langeweile fast umgekommen zu sein.
LiteraturIngo SchulzeHandyDreizehn Storys in alter Manier
Pudelwohl fühlt sich die
SZ, wenn sie an
Ingo Schulzes Stammtisch sitzt und ihm zuhört, wie er Liebe und Weltenlauf kunstreich verstrickt. Die
taz spürt die Liebe auch im Aufbau der Erzählungen und genießt Schulzes Komik, die vor der eigenen Person nicht Halt mache. Leichtigkeit und
Raffinesse vermerkt die
FAZ. Ein Höhepunkt scheinen nach Meinung der Rezensenten die "Verwirrungen der Silvesternacht" sein. Die
überraschende Pointe versöhnt auch die
FR, die sonst einige Schwächen anmahnt.
Alaa al-AswaniDer Jakubijan-BauRoman aus Ägypten
Einen unterhaltsameren Roman als
Alaa al-Aswanis Schilderung der Bewohner eines traditionsreichen
Mietshauses in Kairo wird man in der ägyptischen Literatur nicht so schnell finden, meint die
taz. Zugegegeben, das Konzept, die Gesellschaft in einem Haus zu spiegeln, sei schon mal dagewesen. Aber genau beobachtet und witzig erzählt ist es trotzdem. Das Buch war ein
Bestseller in Ägypten, der dazugehörige Film lief im vergangenen Jahr auf der
Berlinale. Hier eine
Elisabeth BinderOrfeoRoman
"Wie die alternden Partner sich zu finden scheinen und halbwegs wieder auseinander geraten, das muss man lesen", rät die
NZZ. Hatte sich
Elisabeth Binder in ihren beiden ersten Romanen noch ein wenig zu sehr um Kunstfertigkeit bemüht, ist ihr in ihrem dritten eine Geschichte wie aus einem Guss geglückt, die mit einer
liquiden Sprache überzeugt. Das Beste daran: Sowohl die Orpheus- als endlich auch die Eurydike-Figur kommen zu ihrem vollen Recht.
Martin Kluger Der Koch, der nicht ganz richtig warGeschichten
Außerordentlich, dieser
Martin Kluger, befindet die
FAZ. Ebenso wie die hier enthaltenen Geschichten, die sich mit
subtilem Aberwitz, Melancholie und exotischer Sprachmagie für höhere Weihen empfehlen. Die
FR würde die welthaltigen Erzählungen wegen ihrer Sprachverliebtheit am liebsten vorgelesen bekommen. Kluger kombiniert die Schrecken des vergangenen Jahrhunderts mit der Unzuverlässigkeit der Erinnerung. Das sorgt für entzückende
kleine Irritationen, die für die
FR den Reiz dieses Buches ausmachen.
SachbuchGötz Aly, Michael Sontheimer FrommsWie der jüdische Kondomfabrikant Julius F. unter die deutschen Räuber fiel
Nicht nur was
Bückware ist, lernt die begeisterte
FR aus der bestens lesbaren und spannenden Geschichte der Firma "
Fromms Act". Sondern auch, wie ein Zigarettenverkäufer das Kondom perfektionierte und zum Leiter eines technologisch führenden internationalen Unternehmens aufstieg. Um dann von den Nationalsozialisten enteignet zu werden. Die
minuziöse Rekonstruktion der Arisierung zeige sehr anschaulich, wie Hitlers "Gefälligkeitsdiktatur" funktionierte, lobt die
FR und spricht den Autoren
Götz Aly und
Michael Sontheimer ihre Hochachtung aus. Hier eine
Anonymus Wohin mit Vater?Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem
Jedem Sohn und jeder Tochter kann jeden Tag das Gleiche passieren, konstatiert die
SZ bewegt. In diesem außergewöhnlichen und wunderbar differenzierten Buch beschreibe ein Journalist, wie
unmenschlich das deutsche Pflegesystem erscheint, wenn man wie er den Vater oder die Mutter nicht in ein Heim abschieben will, die häusliche Pflege aber unbezahlbar ist. Die humane Lösung, die der anonym bleibende Autor gefunden hat, ist
offiziell illegal. Auch deshalb sollte dieser Bericht zur Pflichtlektüre für alle Politiker werden, meint die
SZ.
Amartya SenDie IdentitätsfalleWarum es keinen Krieg der Kulturen gibt
Es muss keineswegs zum Krieg der Kulturen kommen, beweist
Amartya Sen hier originell und überzeugend, und die
taz atmet erleichtert auf. Zustimmung erntet auch Sens Ansatz, die
kulturelle Identität weiter als etwa Samuel Huntington oder diverse Multikulti-Ideologen zu definieren. Einleuchtend findet sie auch Sens Diagnose, die ehemaligen Kolonien seien "parasitär besessen" von ihren Exkolonialherren. Nur ein Wörtchen noch zum radikalen Islamismus in Indonesien und Malaysia hätte sie sich gewünscht. Hier eine
HörbuchGabriel Garcia Marquez Erinnerung an meine traurigen Huren3 CDs
Der Provinzintellektuelle, der Zeit seines Lebens nur mit Prostituierten geschlafen hat, arrangiert zu seinem neunzigsten Geburtstag eine
Nacht mit einer Jungfrau. Er rührt sie nie an, sondern beobachtet sie nur beim Schlafen. Ein Stoff, den
Gabriel Garcia Marquez aus Japan stiebitzt hat. Zum Glück, findet die
FAZ. Hanns Zischler macht mit seinem
melancholisch-schlichten Vortrag das Ganze auch noch zum Hörerlebnis, wie sie versichert.
BildbandDirk Schindelbeck, Volker IlgenAm Anfang war die LitfaßsäuleIllustrierte deutsche Reklamegeschichte
"
Ein Land,
ein Volk,
eine Zigarette." Dieser Werbeclaim aus der Zeit des Nationalsozialismus verdeutlicht für die
taz auf gruselig-eindrückliche Art, wie sehr die Reklame auch immer ein Spiegel der Gesellschaft ist. Und so werden ihr in
grandioser Optik und eleganter Schreibe auch zugleich hundert Jahre deutscher Geschichte offenbar. Ein schönes Buch, verspricht die
taz, bei dem man sich nie langweile, während man durch die
Faktenfülle einiges erfahre.