Bücherbrief

Herbstfeuer im Hühnerparadies

Der Newsletter zu den interessantesten Büchern des Monats.
29.11.2007. Im hoffentlich puderweiß verschneiten Advent geht es nach Osten: in die Ukraine auf Erlebnisreise ins Gefängnis, nach Rumänien in den Zerknautschten Traktor, auf den Balkan mit einer Urne. Für lange Winterabende gibt es in den besten Büchern im Dezember außerdem Biografien über Kleist und Balzac, lange Gespräche mit Julien Gracq und böse Hamster.
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Noch mehr Anregungen gibt es natürlich weiterhin
- im vergangenen Bücherbrief
- in Vorgeblättert
- in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag"

Übrigens: Die Literaturbeilagen zur Frankfurter Buchmesse sind komplett ausgewertet!


Buch des Monats

Dan Lungu
Das Hühnerparadies
Ein falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen



Wie beschreibt man ein Land, das über den Realsozialismus noch nicht hinweg und im Postsozialismus noch nicht angekommen ist? Mal fantastisch-grotesk und dann wieder knallhart und direkt, das ist das Rezept des rumänischen Soziologen Dan Lungu. Die Bewohner der Akazienstraße tauschen sich in ihrer Stammkneipe "Zerknautschter Traktor" über alte und neue Zeiten, Begegnungen mit Onkel Nicu und die Müllhalde unter dem Haus des Oberst aus. Die weitgereiste NZZ muss dabei an Lungus Heimatstadt Iasi denken, alle anderen sollten einfach genießen, wie sich unbändige Fabulierfreude und postkommunistisches Chaos kongenial die Hand reichen.


Literatur


Vladimir Tasic
Abschiedsgeschenk
Roman in drei Sätzen



Als die Asche des vor zwölf Jahren verstorbenen Bruders per Post eintrifft, erinnert sich ein serbisch-kanadischer Wissenschaftler an die gemeinsame Zeit in Novi-Sad, in einem Jugoslawien der siebziger und achtziger Jahre. Vladimir Tasic kennt sich mit dem Thema aus. Er lebt selbst in Kanada, ist Mathematiklehrer und Serbe. Ob er einen Bruder hat, wissen wir nicht. Sicher ist aber, dass die virtuose Melancholie seines 2001 im Original veröffentlichten Debütromans die Lektüre für die NZZ zu einer Achterbahnfahrt durch die Imperien des pubertierenden Intellekts machte. Auch die SZ ist hingerissen, ihr gefallen besonders die absurden Einsprengsel und die wundersam enthobenen Vergleiche (Leseprobe hier).

Richard Swartz (Hrsg.)
Der andere nebenan
Eine Anthologie aus dem Südosten Europas



Diese Sammlung literarischer Erinnerungen und Essays von 22 Autoren des Balkans erscheint gleichzeitig in fünf Ländern und in allen Sprachen der Beteiligten. Die FAZ ist sichtlich beeindruckt und konstatiert: "Auf höherem Niveau als in diesen Texten kann man sich kaum verwirren lassen vom Balkan". Die allermeisten Beiträge finden ihr Wohlwollen, zum Beispiel jene von Slavenka Drakulic und David Albahari. Und dass Richard Swartz kein schlechtes Nachwort schreibt, ist fast schon selbstverständlich.

Andrej Kurkow
Herbstfeuer
Erzählungen



Surreal kommt vielen osteuropäischen Autoren die Gegenwart in ihren ehemals kommunistischen Heimatländern vor. Der bekannteste Schriftsteller der Ukraine, Andrej Kurkow, macht da keine Ausnahme. In seinen acht neuen Erzählungen geht es um zu entsorgende Steinway-Flügel, Erlebnisreisen in Gefängnisse oder Telefonzellen, in denen eine Verbindung ins Jenseits angeboten wird. Die FAZ sorgt sich, dass die Leser dies alles für unglaubwürdig halten könnte. Ist es nach ihren Informationen nämlich gar nicht. Für Glaubwürdigkeit sorgt Kurkow auch, indem er immer kurz vor dem Umschlag ins Märchenhafte einen kräftigen Schuss Realkapitalismus injiziert.

Georges Hyvernaud
Der Viehwaggon
Roman



Der allzu bescheidene Georges Hyvernaud muss einem einfach sympathisch sein. Nachdem "Der Viehwaggon" 1953 floppte, gab er das Schreiben einfach auf. Beim zweiten Roman. Und fing nie wieder an. Wohl auch ein Grund, warum es seit 54 Jahren nie zu einer deutschen Übersetzung seines schmalen Werks kam. Die polyglotte NZZ kannte Hyvernaud natürlich schon länger. Umso mehr freut es sie, dass sich nun auch deutsche Leser mit den scharfsinnigen Beobachtungen des zweifelhaften Helden über die französischen Nachkriegswehen rund um Resistance und Kollaboration amüsieren können.


Sachbuch

Jens Bisky
Kleist
Eine Biografie



Zum 230. Geburtstag von Heinrich von Kleist sind gleich zwei Biografien herausgekommen, die nicht nur beide ähnlich tauglich scheinen, sondern auch exakt gleich betitelt sind. Jens Biskys Versuch wird von FR und FAZ als die zumindest stilistisch zupackendere und schwungvollere Variante angesehen. Der taz fehlen bei Bisky dagegen die eigenen Thesen. Bei Gerhard Schulz allerdings auch. Gerhard Schulz schreibt seinen "Kleist" zurückhaltend, was im Großen und Ganzen auch gut ankommt. Solide und plausibel, urteilt die FR. Überspannte Thesen zum überspannten Leben von Kleist sucht man hier vergeblich, notiert die SZ. Nur Schulz' Hang zum etwas umständlichen Formulieren steht für sie in eigentümlichem Gegensatz zum eleganten Stil des Untersuchungsobjekts (Leseprobe hier).

Johannes Willms
Balzac

Eine Biografie



Johannes Willms erliegt nicht wie Stefan Zweig der Versuchung, aus Balzacs Leben einen Roman zu machen, konstatiert die FAZ zufrieden. Der nüchterne Blick auf den umtriebigen und durchaus gewieften Lebenskünstler scheint ihr angemessen. So zynisch wie Willms ihn erscheinen lässt, sei er allerdings nie gewesen, der Balzac. Die Schwesterzeitung FAS stößt ins gleiche Horn, legt aber ein dickes Lob für die Präzision, Knappheit und Unbefangenheit des Biografen obendrauf.

Julien Gracq
Gespräche



Viele Interviews hat der inzwischen 97-jährige Julien Gracq ja nicht gegeben. Sieben Gespräche mit dem zurückgezogen lebenden französischen Schriftsteller aus den vergangenen dreißig Jahren sind hier versammelt, und sowohl NZZ als auch FR sind fast eingeschüchtert von den messerscharfen Argumentationen, der intellektuellen wie stilistischen Klasse sowie vom großen Wissen des Redenden. In den Gesprächen geht es weniger um eigene Befindlichkeiten, der Blick richtet sich nach außen, auf Landschaften oder die Erinnerungen an den Surrealismus. Durchdrungen von einem wunderbaren Hauch des Altmodischen, wie die NZZ selig vermerkt.


Hörbuch


Alfred Brehm
Brehms Tierleben - Heimische Säugetiere
2 CDs



Wer im Advent mehr über die Bosheit des Hamsters, den Blutdurst des Maulwurfs oder den Esel als "verabscheuungswürdigen Tonverderber" hören will, dem sei Roger Willemsens Vortrag aus Brehms unsterblichem Tierleben empfohlen. Zur Auswahl stehen außerdem noch Sitzungen mit den Kriechtieren und den exotischen Säugetieren


Bildband


Anton Holzer
Die andere Front
Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg



Im Ersten Weltkrieg wurde schnell deutlich, dass die Hoheit über die Bilder fast ebenso wichtig ist wie die Herrschaft über das Schlachtfeld. Die Geschehnisse im Osten und Südosten waren in dieser Hinsicht bisher noch seltsam unterbelichtet. Ein Missstand, den Anton Holzer mit seiner laut FAZ Standards setzenden Untersuchung von 500 zum großen Teil unveröffentlichten Kriegsfotografien aus dem Archiv der Österreichischen Nationalbibliothek behebt. Großartig der Text über die rasche Entwicklung der Propaganda während des Konflikts, brillant die Bildinterpretationen, umsichtig die Argumentation: die FAZ ist fasziniert.