03.06.2013. Zülfi Livaneli führt uns auf das Flüchtlingsschiff Struma, Ralph Dutli in das Paris des Malers Soutine, Yoram Kaniuk in die Palmach, Patrick Roth nach Hollywood, Hans-Peter Riegel ins Beuys-Land und Malte Herwig zu den Flakhelfern. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Juni.
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Leseproben in
Vorgeblättert, in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2013 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2013 und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturZülfü LivaneliSerenade für NadjaRoman
Klett-Cotta Verlag 2013, 335 Seiten, 21,95 Euro
"Es war eine
Schande vieler",
schreibt Achim Engelberg in der
NZZ über die Geschichte des Flüchtlingsschiffs Struma: "Die
Nazis zwangen die Menschen zur Flucht, die
britischen und
türkischen Behörden ließen die Erschöpften in Istanbul nicht an Land oder untersagten ihnen die Weiterfahrt nach Palästina. Sie zwangen sie stattdessen, Kurs auf das Schwarze Meer zu nehmen, wo die 'Struma' von einem
sowjetischen Torpedo versenkt wurde." 762 Flüchtlinge ertranken im sinkenden Schiff. Die Geschichte ist Hintergrund des neuen Romans "Serenade für Nadja" von Zülfü Livaneli, der sich laut
SZ-Rezensentin Christiane Schlötzer wie ein Krimi liest: die große Geschichte wird verwoben mit einer Liebesgeschichte. Livaneli, merkt Astrid Kaminki in der
FR an, nimmt sich gern solcher in der Tükei verdrängter Theman an: auch das Schicksal der
Armenier und der
Krim-Tartaren beschäftige Livaneli in diesem Buch. Karen Krüger, die Türkei-Korrespondent der
FAZ, empfiehlt den Roman ebenfalls.
Ralph DutliSoutines letzte FahrtRoman
Wallstein Verlag Göttingen, 272 Seiten, 19,90 Euro
()
Ralph Dutli ist als Lyriker bekannt, Übersetzer und
Biograf Ossip Mandelstams. Mit diesem Buch hat er seinen ersten Roman vorgelegt. Hauptfigur ist der weißrussische jüdische Maler
Chaim Soutine (1893-1943), der 1943 in Paris am Magen operiert werden muss und auf der viel zu langen Fahrt - die deutschen Kontrollposten müssen umgangen werden - Episoden aus seinem Leben vorbeiziehen sieht: die Kindheit in einem Dorf nahe Minsk, erste Malversuche in Wilna, dann die
Reise nach Paris und die Freundschaft mit Picasso, Chagall und Modigliano. Für
NZZ-Rezensentin Beatrice von Matt
hat Dutli genau die richtige Balance zwischen Dokumentation und Fiktion gefunden. Im
Deutschlandradio Kultur lobt Verena Auffermann Dutlis
profunde Kennerschaft von Leben und Werk Soutines. Für den
SZ-Rezensenten Hans-Peter Kunisch hat sich Dutli mit seinem "expressiv-poetischen" Stil seinem Gegenstand geradezu kongenial anverwandelt. Ähnlich
beschreibt es
Tagesspiegel-Rezensent Rolf Strube, der sich hat hineinziehen lassen in diese Erinnerungen eines Kranken, die sich mit alten Ängsten vor Pogromen mischen und "der Ahnung, den Belastungen seiner
rauschhaften Malweise nicht mehr gewachsen zu sein". Die Lektüre ermuntert daneben, sich mit der
Malerei Soutines zu beschäftigen (2009
beschrieb Josef Winkler in der
Presse, wie weit Soutine dabei gehen konnte), aber auch mit seinem größten
Förderer, dem Pharmazeuten
Albert C.
Barnes, den Jed Perl letztes Jahr anlässlich eines Streits um seine nachgelassene Kunstsammlung in
The New Republic als kühnen Verrückten
würdigte: "Perhaps it takes somebody who is a bit of a madman to so fully embrace the
madness of art."
Yoram Kaniuk1948Roman
Aufbau Verlag 2013, 248 Seiten, 19,99 Euro
()
1948 war Yoram Kaniuk
17 Jahre alt und kämpfte in Jitzchak Rabins Palmach für die
Unabhängigkeit Israels. Als der neue Staat dann existierte, war es Kaniuk ergangen wie Stendhals Fabrizio in der Schlacht von Waterloo: vom eigentlichen Akt hatte er nichts mitbekommen. Der
kritische Blick auf die Palmach, den Mythos um die Staatsgründung und auf den naiven 17-Jährigen, der er damals war, hat die Rezensenten stark beeindruckt. Das Buch ist weniger Roman als Zwiegespräch eines
Unbequemen,
meint in der
SZ Thorsten Schmitz. Und es ist "wie jedes gute Kriegsbuch, ein
Anti-Kriegsbuch",
versichert im
Tagesspiegel Jörg Magenau. In der
Welt lobt Anat Feinberg Kaniuks "eigensinnige und
subversive"
Version des Kriegs von 1948, aber auch des Verhältnisses von einheimischen Sabras zu den eingewanderten Überlebenden des Holocaust: "Sie waren stärker als die Israelis. Verglichen mit ihnen waren wir wandelnde Witzfiguren", zitiert Feinberg den Autor. (Hier eine
Ned BeaumanEgon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beförderung eines Menschen von Ort zu OrtRoman
DuMont Verlag 2013, 416 Seiten, 19,99 Euro
()
Liebesroman, Krimigroteske, Science-Fiction-Gaudi - das alles ist Ned Beaumans neuer Roman,
verspricht ein enthusiastischer Oliver Jungen in der
FAZ. Hauptfigur ist ein junger Mann, der im
Berlin der dreißiger Jahre lebt, und dort weder seinen Schwanz noch seinen Teleportationsapparat in Gang bekommt. Und so folgt er schlecht gelaunt der
unerreichbaren Adele Hitler (nicht verwandt oder verschwägert) von Berlin über Paris nach Los Angeles. Riesenhaft,
fett ironisch und gespickt mit Anspielungen auf die deutsche Moderne, den Expressionismus, Döblin, Brecht, Atomphysik, Nazis: so charakterisiert in der
SZ Gustav Seibt den Roman, in dem er unter all dem Schabernack eine
große Trauer wittert. Für die
Welt hat sich Felix Stephan mit dem 28-jährigen britischen Autor getroffen und
gelernt: "Wenn ein Londoner Schriftsteller aus unserer globalisierten Gegenwart auf die Routen der deutschen Emigranten blickt, stellt sich deren Geschichte nicht mehr zwangsläufig als peinvolle Vertreibung dar, sondern als Trip in eine
sonnige Zukunft mit Jetski und Jazz." Darauf einen Daiquiri! Großes Lob auch an den Übersetzer
Robin Detje, der noch seinen frischen Lorbeerkranz für die Übersetzung von William T. Vollmanns "Europe Central" trägt.
Rajesh ParameswaranIch bin HenkerLiebesgeschichten
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2013, 285 Seiten, 18,99 Euro
()
Neun Geschichten über die Macht der Liebe und die Liebe zur Macht, verspricht der Klappentext. Und ungewöhnliche Erzähler, darunter einen liebeskranken Tiger, einen frisch verheirateten Henker und ein neidischen Filmemacher. In der
taz ist Shirin Sojitrawalla
hin und weg:
so viele Ideen, so viele Ausdrucksmöglichkeiten. Selten hat sie einen so
spielerischen Umgang mit der Literatur erlebt. Das wirkt manchmal "etwas prahlerisch selbstbewusst", ist aber immer unterhaltsam, versichert Sojitrawalla. Ein "Lesevergnügen",
versichert auch Wolfgang Schneider im
Deutschlandradio Kultur. Ihm hat es besonders die Geschichte um den Tiger angetan, der "auf atemberaubende Weise" der Verwechslung von
Küssen und Bissen erliegt. (Hier eine)
Patrick RothDie amerikanische FahrtStories eines Filmbesessenen
Wallstein Verlag 2013, 294 Seiten, 19,90 Euro
()
Stories eines
Filmbesessenen, so lautet der Untertitel dieses Buchs und damit ist fast schon alles gesagt. Es geht um die Liebe zum Kino, einzelne Bilder, Schauspieler und unvorgessene, manchmal sogar nur
imaginierte Momente auf der Leinwand. Für den
Zeit-Rezensenten Ulrich Rüdenauer
haben die Geschichten "etwas Magisches", obwohl Roth, der seine Gedanken bei Autofahrten durch Hollywood entwickelt, darauf besteht, dass selbst die verschlüsselten Bilder von David Lynch oder Alfred Hitchcock immer
einen Sinn ergeben. In der
FAZ findet es Anja Hirsch findet es höchst gewinnend, wie Roth immer auch sein
Unbewusstsein mitspielen lässt, selbst wenn es ihn in die Irre führt. Es sind nicht nur Geschichten für Filmkenner,
verspricht Manuela Reichart im
Kulturradio. Vielmehr lehrt Roth einen das Sehen, "genau hinzuschauen,
immer wieder aufs neue, weil man nur so verborgene Spuren entdeckt". Es gibt auch einen
knapp zweistündigen Film zum Buch (oder ist es umgekehrt?) den der Wallstein Verlag bei Youtube eingestellt hat. Hier der
erste Teil und hier der
zweite.
Elmore LeonardRaylanRoman
Suhrkamp Verlag 2013, 308 Seiten, 19,95 Euro
()
86 Jahre ist
Elmore Leonard, sieht auf
Fotos genauso fies aus, wie man sich seine Helden vorstellt, und schreibt hartgekochte Krimis, dass den Rezensenten die Ohren wackeln. In "Raylan" geht der schon bekannte Marshall gleichen Namens seinem Job diesmal in Kentucky nach, wo der Drogenhandel fast genauso darnieder liegt wie der Kohlebergbau. Die findige neue Idee lautet:
Organhandel. Das dazu benötigte Material wird den widerwilligen Spendern gern auch mal bei lebendigem Leib entnommen. Dass diese Art böse Geschichten sich nicht wie Cartoons lesen, das liegt, so die einstimmige Meinung der Rezensenten, an Leonards lakonischem Stil: "Wenn es
wie Schriftstellerei klingt, schreibe ich es neu",
zitiert Zeit-Rezensent Tobias Gohlis den Autor. Im
Deutschlandradio Kultur stellt Thomas Wörtche Leonards Gesamtwerk - vierzig Romane, drei Erzählbände, mehrere Drehbücher und zwei Sachbücher - ohne mit der Wimper zu zucken neben das von Balzac oder Zola: "Es ist nur
pointierter und pointillistischer." (Und landet natürlich immer wieder auf der
Krimi-Bestenliste).
SachbuchHans-Peter RiegelBeuysDie Biografie
Aufbau Verlag 2013, 595 Seiten, 28 Euro
()
Mit seiner Enthüllungsbiografie "Beuys" hat
Hans Peter Riegel eine Debatte ausgelöst. Sein Anspruch, die Legenden um
Joseph Beuys' Leben als Lügen zu entlarven, stößt bei einigen Rezensenten auf Kritik. So
geißelt Christof Siemes in der
Zeit Riegels Vorgehen als tendenziös und spekulativ, sein langjähriger Verleger
Klaus Staeck verteidigt Beuys im
Deutschlandfunk gegen den Vorwurf des "reaktionären Alt-Nazitums". Auch Volker Weidermann (
FAS) will sich nicht allzu sehr von Beuys
Bekenntnissen zum Krieg und der anhaltenden Treue zu den Veteranen irritieren lassen: die Nazi-Vorwürfe gegen Beuys seien alt, meint er, dennoch liest er Riegles Biografie als "einen schöner Enträtselungsroman". Ulrike Knöfel zeigt sich im
Spiegel von der Enttarnung des Künstlers "als Ewiggestriger" erschüttert. In der
Welt unterhält sich Christiane Hoffmans, selbst Autorin eines Beuys-Buches, mit Riegel über die Nähe des Künstlers zu
rechten und völkischen Ideologien: Ein Antisemit war Beuys sicher nicht, meint Riegel, aber er habe sich auch nie vom Nationalsozialismus distanziert. Und er sei ein großer Anhänger
Rudolf Steiners gewesen, dessen Weltbild Riegel schlicht "
totalitär" findet.
Georg PichlerGegenwart der VergangenheitDie Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien
Rotpunktverlag 2012, 336 Seiten, 29,50 Euro
()
Bis heute ist die Franco-Diktatur in Spanien kaum aufgearbeitet worden.
Georg Pichler rührt an dieses bis heute tabuisierte Thema und spürt der "Gegenwart der Vergangenheit" nach. Adriaan Kühn hebt in der
SZ hervor, dass sich der Autor dabei - trotz seiner offensichtlichen Sympathien für die Republikaner - um ein
ausgewogenes Bild bemüht. In der
taz lobt Knut Henkel die akribischen Recherchen sowie die spannende Darstellung des Buches, das die "komplexen Realitäten Spaniens 38 Jahre nach dem Ende der Diktatur zu Tage fördert". Und auch Uwe Stolzmann
zeigt sich im
Deutschlandradio Kultur hellauf begeistert: "frisch und facettenreich, auch
stilistisch ein Genuss", lobt er.
John F. KennedyUnter DeutschenReisetagebücher und Briefe 1937-1945
Aufbau Verlag 2013, 256 Seiten, 22,99 Euro
()
Dass
John F.
Kennedy als junger Mann 1937, 1939 und 1945
Reisen ins faschistische Deutschland unternahm, gehört zu den weniger bekannten Kapiteln der Biografie des späteren 35. Präsidenten der USA. Seine Reiseeindrücke hielt er in privaten Aufzeichnungen fest, die nun erstmals veröffentlicht wurden. Bei aller Faszination rufen diese Einblicke bei den Rezensenten auch Unbehagen hervor, wenn Kennedy etwa über den soeben verschiedenen
Hitler mutmaßt, er "war aus dem Stoff, aus dem Legenden sind" und werde "in einigen Jahren als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten hervortreten, die je gelebt haben", wie Alan Posener in der
Welt zitiert. Auch Harald Jähner
fragt sich in der
FR, ob JFK "ein
Bewunderer Hitlers" war. "Sicherlich nicht",
antwortet Oliver Lubrich, Herausgeber der Texte, im Interview mit
DRadio Kultur, attestiert Kennedy aber, einer "unheimlichen Faszination des Faschismus" erlegen zu sein, die eher erotische oder ästhetische als politische Gründe gehabt haben mag.
Malte HerwigDie FlakhelferWie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden
Deutsche Verlags-Anstalt 2013, 320 Seiten, 22,99 Euro
()
Als Jugendliche wurden sie in einen Krieg eingezogen, der nicht mehr zu gewinnen war. Später prägten sie das Bild der Bundesrepublik und engagierten sich für ein friedliches Europa.
Malte Herwig porträtiert in seiner Studie "Die
Flakhelfer" die Generation der zwischen 1926 und 1929 Geborenen und ihre Rolle im und nach dem Krieg. "Ein Muss-Buch",
jubelt Thomas Schmid in der
Welt, als "sehr informativ und
wohltuend differenziert"
adelt Rainer Blasius die Studie in der
FAZ, und Alexandra Senfft
hebt in der
Zeit hervor: der Autor "fordert die Wahrheit, ohne anzuklagen". Ernst Piper
bemängelt im
Tagesspiegel allerdings, dass Herwig "die einschlägige Forschungsliteratur nicht rezipiert" und die DDR nicht in seine Untersuchung einbezogen hat. (Hier eine)
Gordon ParksA Harlem Family 1967Steidl Verlag 2013, 112 Seiten, 28 Euro
()
Der fotografische Autodidakt
Gordon Parks bekam 1948 als erster Schwarzer eine Festanstellung beim damals führenden Fotomagazin
Life, für das er bis 1972 vor allem
Armut und Rassendiskriminierung dokumentierte, bevor er mit "Shaft" als erster schwarzer Regisseur einen Hollywood-Hit landete. Die Buchveröffentlichung seiner berühmten Fotoreportage "A Harlem Family 1967" (
Ausstellung) hat die begeisterten Rezensenten an glorreiche Tage des Journalismus erinnert: Lennart Laberenz
erinnert sich in der
taz wehmütig an die Zeit, als
Reportagen Konsequenzen hatten und "nicht im Sensationswert erstarben". Freddy Langer
weist in der
FAZ darauf hin, dass es Parks gelang, Einblicke in damals kaum öffentlich wahrgenommene Sphären zu gewähren. Wem die Fotos in diesem Band nicht genügen, dem legt Langer noch Gordon Parks' sechs Bände füllende
Collected Works () ans Herz, die die Reportagen für
Life etc. im
Originallayout wiedergeben und neben den Sozialreportagen mit abstrakten Experimenten oder
Modefotos die ganze Bandbreite dieses Fotografen widerspiegeln. Hier bekommt man einen
kleinen Gesamteindruck.