10.03.2014. Jonathan Lethem führt uns in den Garten der Dissidenten, Alfonsina Storni führt uns in das Großstadtleben von Buenos Aires in den Dreißigern. Tom Reiss erzählt die Geschichte des wahren Grafen von Monte Christo. Jaron Lanier macht Umverteilungsvorschläge für die Profite aus dem Digitalen. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats März.
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Weitere Anregungen finden Sie in den
Leseproben in
Vorgeblättert, in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Herbst 2013 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2013 und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturJonathan LethemDer Garten der DissidentenRoman
Tropen Verlag 2014, 476 Seiten, 24,95 Euro
Schon lange hat kein Roman von Jonathan Lethem die Kritiker so umgehauen wie "Der Garten der Dissidenten". Es ist der zweite autobiografisch geprägte nach der
"Festung der Einsamkeit". Angelehnt an die Geschichte seiner
kommunistischen Großeltern mit europäisch-jüdischem Hintergrund erzählt Lethem vom Ende der Utopien und dem anhaltenden Willen, die
Welt zu verbessern. Es ist vor allem die Geschichte der New Yorker Kommunistin Rose, die aus der Partei ausgeschlossen wird, weil sie ein Verhältnis mit einem
schwarzen Polizisten hat.
Zeit-Rezensent Andreas Schäfer
sieht in der "Ofen-Szene" alle Fragen zu Kommunismus und Familie auf den Punkt gebracht, wenn nämlich Rose erst den eigenen Kopf in den Ofen steckt, dann den ihrer Tochter. Doris Akrap
zeigt sich in der
taz ganz hingerissen von den "brutal lebendigen" Figuren des Romans. In der
FR sieht Balzer hier den Beweis erbracht, dass eine Gesellschaft erst dann frei ist, wenn sie ihre Menschen
auch glücklich macht. Klug, schön und subtil findet auch Jörg Häntzschel (
SZ) das Ganze erzählt: "Identität, das ist hier kein postmodernes Spielchen, sondern ein Lebensproblem." In der
Welt gibt es ein
großes Interview mit Lethem. beim Verlag)
Patrick DevillePest und CholeraRoman
Bilger Verlag 2013, 240 Seiten, 19,90 Euro
Patrick Deville erzählt in seinem Roman "Pest und Cholera" von dem Schweizer Arzt, Forscher und Weltenreisenden
Alexandre Yersin, der 1894 in Hongkong den
Erreger der Pest entdeckte, aber auf Ruhm und Karriere zugunsten eines geglückten Lebens verzichtete. In der
FR feiert Sabine Vogel das Buch als einen "
Abenteuerroman voller Empathie und Weltklugkeit", der ihr Indochina ebenso nahe brachte wie die mikrobiologische Forschung. In der
FAZ rühmt
Hans Christoph Buch Deville als wahren Weltbürger, der ihn, von wegen Exotismus, lehrte,
den Schnörkel als die Hauptsache zu erkennen. Im
Guardian fand auch Steven Poole großen Gefallen an diesem schönen Beispiel
postmodern fiktionalisierter Biografie aus Frankreich.
Alfonsina StorniMeine Seele hat kein GeschlechtErzählungen, Kolumnen, Provokationen
Limmat Verlag 2013, 315 Seiten, 38 Euro
Als echte Entdeckung feiern vor allem die Schweizer Feuilletons "Meine Seele hat kein Geschlecht". Der verdienstvolle, von Hildegard Keller herausgebene Band versammelt Erzählungen und Kolumnen der in der Schweiz geborenen - ihre nach Argentinien emigrierten Eltern waren gerade zu Besuch in der alten Heimat - Reporterin und Feministin
Alfonsina Storni, die im deutschsprachigen Raum nahezu unbekannt ist, in Lateinamerika aber zu den bedeutendsten literarischen Stimmen gehörte.
Mercedes Sosa widmete der Schriftstellerin, die sich 1938 in Mar del Plata das Leben nahm, das Lied
"Alfonsina y el mar". In der
NZZ bewundert Miriam Hefti die Autorin als höchst moderne Beobachterin des Großstadtlebens von
Buenos Aires, die sowohl die Provokation wie auch die genauen Zwischentöne beherrsche. Die Basler
Tageswoche vergleicht Stornis "eigenwilliges, poetisches, kraftvolles Werk" sogar mit dem
Virginia Woolfs. Das Schweizer Fernsehen widmete ihr bereits
mehrere Sendungen. Und die
NZZ brachte in ihrer Beilage
Literatur und Kunst in einem
kleinen Dossier zu Alfonsina Storni auch ihr Gedicht "Über die Traurigkeit von Buenos Aires".
Angelika KlüssendorfAprilRoman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2014, 224 Seiten, 18,99 Euro
In "April" schreibt
Angelika Klüssendorf die Geschichte ihres gefeierten Romans
"Das Mädchen" fort, mit dem sie es 2011 in die engere Auswahl für den Deutschen Buchpreis brachte. Die Protagonstin ist mittlerweile volljährig, Mutter und Ehefrau geworden, doch mit diesen Rollen kommt sie ebenso wenig klar wie mit ihrem sozialen und politischen Umfeld.
Parallelen zur Biografie der Autorin werden sichtbar, doch "bedeutend ist der Roman ganz für sich alleine",
stellt Tobias Becker auf
Spon fest. In dieser Einschätzung sind sich die Rezensenten ebenso einig wie in der Faszination für Klüssendorfs klare, karge Sprache. "Ich bin
wie ein Bildhauer, der seinen Stein bearbeitet",
beschreibt die Autorin ihre Arbeitsweise in einem Interview auf
Zeit Online: "Hier noch was weg und da und dann da noch was". "Alles muss hier ganz schmal sein, auch das Buch selbst",
schreibt Judith von Sternburg sehr angetan in der
FR, und Christoph Schröder
bekennt im
Tagesspiegel, dass Klüssendorfs Mischung aus "mentaler Hitze und sprachlicher Kälte" bei ihm "
tiefe Beklemmung" ausgelöst hat. Hier unser
Vorgeblättert.
Per LeoFlut und BodenRoman einer Familie
Klett-Cotta Verlag 2014, 352 Seiten, 21,95 Euro
Mit der thematischen Ausrichtung seines Romans "Flut und Boden" stößt
Per Leo bei den Rezensenten zunächst auf gewaltige Vorbehalte. Der Bedarf an Geschichten über die Nazivergangenheit in der Autorenfamilie scheint vorerst gesättigt zu sein. Doch mit der
Doppelbiografie seines Großvaters, einem strammen Nazi, und dessen älterem Bruder, einem körperlich behinderten Künstler, erntet Leo dann doch nichts als begeisterte Zustimmung: "Ein großes, wichtiges Buch",
urteilt Jan Küveler in der
Welt, "ein literarisches Debüt von
ungewöhnlicher Fertigkeit und Kunstfertigkeit",
meint Judith von Sternburg in der
FR, "klug, temperamentvoll und vor allem: erkenntnisstiftend"
findet es Ijoma Mangold in der
Zeit. Uneinigkeit besteht lediglich in der Frage, ob Leo mit "Flut und Boden" die nicht für möglich gehaltene "
Wiederbelebung des Familienromans" gelingt, wie Sebastian Hammelehle auf
Spon jubelt, oder ob der Autor eher "ein glanzvoller Nachzügler" in dieser Gattung ist, als den ihn Stephan Wackwitz in der
taz rühmt. beim Verlag)
SachbuchTom ReissDer schwarze GeneralDas Leben des wahren Grafen von Monte Christo
dtv 2013, 540 Seiten, 24,90 Euro
Tom Reiss ist Historiker und Publizist und hat für das Buch den
Pulitzer-Preis erhalten. Zu Recht, findet Harald Eggebrecht in der
SZ, der die genaue Recherche und Spurensuche in Nachlässen und Tresoren hervorhebt, aber auch den
Witz des Autors beim Verfertigen dieser an Abenteuern reichen Lebensgeschichte. Reiss erzählt die Geschichte des
Alex Dumas, Vater Alexandre Dumas dem Älteren und Großvater des Jüngeren, selbst Sohn einer Sklavin und eines Adeligen und schwarzer Viersterne-General Napoleons - der ihn hasste und verriet. Das Buch liefert nach Auskunft der Rezensenten ein Panorama des
napoleonischen Zeitalters und der komplizierten Zusammenhänge von Sklaverei und Kolonialismus. Jens Balzer (
Berliner Zeitung) hat in diesem Buch sogar etwas über den Zusammenhang von Rassismus und Sozialismus gelernt, schreibt er in der Berliner Zeitung. Bei NPR.org findet sich ein
Audio-Interview mit Reiss.
Elisabeth BronfenHollywoods KriegeGeschichte einer Heimsuchung
S. Fischer Verlag 2013, 528 Seiten, 22,99 Euro
"Zwingend zeigt Bronfen die gleichzeitige
Dringlichkeit und Unmöglichkeit des filmischen Unterfangens, durch Jahrzehnte und Genremutationen hindurch eine
authentische Gewalterfahrung inszenatorisch zu fassen",
schreibt David Kleingers etwas umständlich auf
Spon. Ihm hat die Lektüre des Buchs wirklich eingeleuchtet. Krieg ist die "wiederkehrende kulturelle Heimsuchung" in Hollywood, seine Verarbeitung ein zentraler Bestandteil amerikanischer Identitätsfindung. So sieht es auch der Politologe
Herfried Münkler, selbst Autor eines aktuellen Buchs über den Ersten Weltkrieg, in der
FAZ. Anders als Kleingers findet er Bronfens Rückgriff auf
Foucaults Kriegsbegriff zwar nicht einleuchtend. Dennoch liest Münkler das Buch mit Gewinn und einiger Faszination, insbesondere hinsichtlich der Frage, weshalb unsere postheroische Gesellschaft nach wie vor nach Heldengeschichten verlangt.
Diedrich DiederichsenÜber Pop-MusikKiepenheuer und Witsch Verlag 2014, 474 Seiten, 39,99 Euro
Das Buch heißt zwar "Über Pop-Musik", es geht aber gar nicht in erster Linie um Musik: "
Pop-Musik, sagt Diederichsen, ist gar keine Musik. Musik ist bloß
der Hintergrund für die viel tiefer liegenden, viel weiter ausstrahlenden Signale des Pop", so lautet schon die erste Zeile des Klappentextes. Und auch im
Interview mit der
FAS besteht Diederichsen darauf, "dass man die Musiker nicht als die
Verursacher des Ganzen sehen sollte. Sie spielen darin mal eine größere, mal eine kleinere Rolle, aber der
Rezipient ist genauso wichtig. Er reißt den Mund auf und schreibt selbst darüber. Deswegen mussten in den fünfziger Jahren schon Fanclubs gegründet werden." Thomas Groß
bemängelt in der
Zeit, dass Diederichsens Beispiele durchgehend mindestens
zwanzig Jahre alt sind, und dass der Großkritiker seinen Gegenstand in seiner eigenen Lebenszeit als erledigt ansehen will. Ulf Poschardt
findet"s in der
Welt großartig, während Gerrit Bartels im
Tagesspiegel skeptischer
urteilt: Zwar warte das Buch mit vielen Erkenntnissen auf, doch "ist mancher Abschnitt mitunter quälend zu lesen". beim Verlag)
Jaron LanierWem gehört die Zukunft?Hoffmann und Campe Verlag 2013, 480 Seiten, 24,99 Euro
Jaron Lanier ist inzwischen der Lieblingsstichwortgeber aller
Internetskeptiker - schon weil er die Street Credibility des digitalen Pioniers hat. Aber Lanier ist kein Kulturpessimist, sondern ein
Apostat, betont Rezensent Andrian Kreye in seiner
SZ-Kritik zu Laniers Buch. Denn die kalifornischen Monopolisten haben die Idee des Internets pervertiert, stellt Lanier jetzt fest, und Kreye findet das sehr richtig. Von den Aktivitäten der Internetnutzer profitieren inzwischen nur noch
Geheimdienste und Konzerne, der Demokratie ist nicht geholfen und dem Mittelstand schon gar nicht. Ähnlich sieht es Thomas Thiel in der
FAZ. Aber beide Rezensenten sind mit Jaron Laniers Umverteilungsvorschlägen, die er als Lösung skizziert, nicht einverstanden. Da schlägt wohl der alte
digitale Libertäre, der von kostenlosem Teilen schwärmt, zu sehr durch.
Martin HeideggerÜberlegungen II-VI (Schwarze Hefte 1931-1938)Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen. Band 94
Vittorio Klostermann Verlag 2014, 600 Seiten, 58 Euro
Was wurde über diese schwarzen Hefte diskutiert! Die Franzosen waren entsetzt: Der
große Dunkeltöner, der so entscheidend war für die französische Philosophie von Sartre bis Derrida, soll Antisemit gewesen sein? Wie, er hatte was
mit den Nazis zu tun? Die
Zeit brachte ganze Debattenseiten zu dieser unglaublichen Enthüllung (
hier,
hier,
hier und
hier). Peter Trawny, der Herausgeber der Schwarzen Hefte,
musste konstatieren, dass Heidegger hier einen "seinsgeschichtlichen Antisemitismus" entwickelt: "So erhält das Ressentiment eine ... erschreckende Dimension." Dann erschienen die ersten Schwarzen Hefte, und bisher ist in den Feuilletons eher Ruhe. Allein Jürgen Kaube nahm sich die Hefte einigermaßen gründlich in der
FAZ vor und
las sie vor allem als
Niederlage eines Philosophen, dessen Denken sich die Welt einfach nicht fügen wollte. Jens Balzer ist in der
Berliner Zeitung über die Überraschung
überrascht: "Schon aus einer berühmten Schilderung Karl Jaspers oder aus Briefen Heideggers an Hannah Arendt sind antisemitische Äußerungen bekannt." Aber der Antisemitismus, so Balzer (der sich auf Micha Brumlik,
hier, bezieht) ist inzwischen ganz wo anders virulent, etwa in der
postkolonialen Linken.