03.07.2012. Angelika Meier zeichnet ein witziges Bild unserer durchtherapierten Gesellschaft. Goncalo M. Tavares lehrt uns das Fürchten. Felix Philipp Ingold stellt uns russische Dichter vor, die wir noch nicht kannten. Serhij Zhadan führt uns auf eine polnisch-ukrainische Fußballreise. Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt erzählen die ganze Geschichte Südosteuropas. Dies alles und mehr in den Büchern des Monats Juli.
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Leseproben in
Vorgeblättert, der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2012 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2012.
LiteraturAngelika MeierHeimlich, heimlich mich vergissRoman
Diaphanes Verlag 2012, 336 Seiten, 22,90 Euro
Angelika Meier, Autorin und promovierte Philosophin, ist zwar mit allen diskurstheoretischen Wassern gewaschen, doch wenn sie in ihrem Antipsychiatrie-Roman "Heimlich, heimlich mich vergiss" auch das Bild einer
durchtherapierten Gesellschaft entwirft, so gerät ihr diese Dystopie doch nicht keineswegs trocken oder akademisch, versichern die Rezensenten, sondern, ja wirklich, "fürchterlich komisch". Im
Freitag erkennt Katrin Schuster nicht nur
Thomas Mann als Referenzgröße (die Klinik, um die es hier geht, und die niemand verlassen möchte, liegt auf zauberischer Berghöhe), sondern auch Augustinus, Rilke und Freud. Oliver Jungen feiert in der
FAZ den Roman mit einer hymnischen Besprechung als anspruchsvoll, spannend und witzig und jubelt: "Volltreffer!" In der
Jungle World kann man
einen Auszug lesen.
Goncalo M. TavaresDie VersehrtenRoman
Deutsche Verlags-Anstalt 2012, 240 Seiten, 19,99 Euro
Für diesen Roman wurde Goncalo M. Tavares in Portugal mit Preisen überschüttet, der inzwischen verstorbene Nobelpreisträger Jose Saramago erklärte bei der Verleihung des Premio Saramago 2005: "Tavares hat kein Recht,
im Alter von 35 Jahren so gut zu schreiben. Man hätte Lust, ihn zu schlagen." Acht Jahre später sind die "Versehrten" nun auch auf Deutsch herausgekommen, und die Rezensenten lesen beeindruckt, beklommen und zum Teil auch entsetzt dieses düstere Werk, in dem Verrückte fiebernd durch die Nacht irren und
Liebe,
Mord und Wahnsinn zu einem einzigen Gemälde des Schreckens verschmelzen. Geradezu expressionistisch findet die
FR den Roman, dessen Protagonisten deutsche Namen wie Ernst, Theodor und Hinnerk tragen, und nennt Tavares ein
Jahrhunderttalent. Die
NZZ sieht "schwarzes Magma" durch den Roman fließen, der für sie ohne jede Erklärung reine Anschauung der
Finsternis bietet. Die
SZ war dagegen zwar sehr beeindruckt, aber auch fest entschlossen, sich nicht in den "heillosen Verschuldungszusammenhang" verstricken zu lassen. Hier eine
Lisa-Maria SeydlitzSommertöchterRoman
DuMont Verlag 2012, 208 Seiten, 18,99 Euro
In ihrem Debütroman "Sommertöchter" lässt die 1985 geborene Lisa-Maria Seydlitz eine junge Frau auf den Spuren väterlicher Geheimnisse an die
bretonische Küste reisen. Hier lernt sie, den
Selbstmord des Vaters, der sie als 12-Jährige hart getroffen hat, zu akzeptieren. In der
NZZ und
im Deutschlandradio bewundert Rainer Moritz die äußerst geschickte Konstruktion des Romans, der mit verschiedenen Zeitebenen spiele. Margarete Stokowski lobte in der
taz die indirekte Erzählweise der Autorin, die
Gefühle nicht ausbuchstabiert, sondern über Gegenstandsbeschreibungen vermittele. Und am Ende, versichert sie, richtet die Autorin den Blick
nach vorn.
Felix Philipp Ingold (Hrsg.)
"Als Gruß zu lesen"Russische Lyrik von 2000 bis 1800. Russisch - Deutsch
Dörlemann Verlag 2012, 352 Seiten, 33 Euro
Einen ungewöhnlichen Zugang wählt der anerkannte Slawist, Autor und Literaturkritiker Felix Philipp Ingold für seine
Anthologie russischer Dichtung: nicht als chronologische Sammlung von Meisterwerken ist sein Band "Als Gruß zu lesen" angelegt, sondern als radikal subjektive Auswahl, die von einem Gedicht Boris Ryshijs aus dem Jahr
2000 ausgehend bis ins Jahr
1817 zu Konstantin Batjuschkow
zurückführt. Dabei verfolgt Ingold einen basisdemokratischen Anspruch: jeder Dichter ist mit nur einem Gedicht vertreten, wodurch
große Bandbreite und Bezüge abgebildet, nicht ein Kanon an Klassikern erstellt werden soll. Die bewusst eigenwillige Auswahl bietet neben der einen oder anderen Kuriosität (wie etwa einem auf Russisch verfassten Gedicht Rainer Maria Rilkes) eine Vielzahl von Entdeckungen. Olga Hochweis
freut sich im
Deutschlandradio besonders über die
Wegbereiterinnen der lesbischen Lyrik, die "selbst in Russland nicht allzu vielen vertraut" sind. Viele der Gedichte wurden für diesen Band erstmals ins Deutsche übertragen. Birgit Veit
lobt in der
NZZ die gelungenen Übersetzungen, reagiert aber leicht verstört darauf, dass Ingold im Interpretationsteil einige Dichter
sehr kritisch sieht. Ingold hat darauf in der
Lyrikzeitung geantwortet.
Ko UnBlüten des AugenblicksGedichte
Suhrkamp Verlag 2012, 154 Seiten, 15,90 Euro
Seit
Korea 2005 Gastland der Buchmesse war, ist es - zumindest literarisch - um in deutschen Zeitungen wieder sehr still geworden um das Land. Damals wurde erstmals auf Deutsch ein Gedichtband des 1933 geborenen südkoreanischen Dichters
Ko Un veröffentlicht, "Die Sterne über dem Land der Väter". Man könnte, schrieb damals Katharina Borchardt in der
Zeit, Südkoreas Geschichte "durchaus als eine Geschichte der
Inhaftierung seiner Dichter schreiben". Die Gedichte Ko Uns, der als Kind von den japanischen Kolonialherren zwangsjapanisiert, später gegen die südkoreanische Diktatur protestierte und verhaftet und gefoltert wurde, sind Teil seines andauernden Projekts, "über
alle Personen, die ihm in seinem Leben begegnen, ein Gedicht zu schreiben", informierte Borchardt. Inzwischen sind zwei weitere Gedichtbände Ko Uns übersetzt worden, 2007 "Beim Erwachen aus dem Schlaf" und, in diesem Jahr, "Blüten des Augenblicks".
FAZ-Rezensent Steffen Gnam blieb nicht unbeeindruckt von dieser Mischung aus "Revolution und Zen". In der
NZZ empfahl Ludger Lütkehaus die Gedichte auch wegen ihres "
unüberbietbaren Witzes" und zitierte: "Ein Spinnennetz, den ganzen Tag durchnässt vom / Monsun-Regen - / du machst ja wirklich allerhand mit."
Sachbuch Konrad Clewing,
Oliver Jens SchmittGeschichte SüdosteuropasVom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart
Friedrich Pustet Verlag 2012, 839 Seiten, 39,95 Euro
Der
Balkan ist der Horror der Politik - und offenbar auch der Geschichtsforschung. Der Begriff steht für
undurchdringliche Komplexität, unverständliche Sprachen, Clash der Kulturen. Natürlich fällt er nicht im Titel dieser "Geschichte Südosteuropas". Statt dessen verspricht der Klappentext eine "epochenübergreifende Darstellung der gesamten Balkanhalbinsel einschließlich ihres maritimen Umfelds und der Länder der ungarischen Krone" - und
hält dieses Versprechen laut Karl-Peter Schwarz auch. Er spricht dem Band in der FAZ großes Lob aus: Er schaffe es, trotz der Aufteilung der Arbeit auf verschiedene Autoren, die Geschichte dieser Region "raumbezogen und länderübergreifend" zu erzählen und die großen Zusammenhänge herauszuarbeiten. Dass sie dennoch ein "
Albtraum der europäischen Diplomatie" ist, versteht sich für Schwarz von selbst. Da ist es gut, wenn jeder Diplomat und interessierte Leser diesen Band zur Hand hat!
R.M. Douglas"Ordnungsgemäße Überführung"Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
C. H. Beck Verlag 2012, 556 Seiten, 29,95 Euro
Dass nach dem Krieg zehn bis zwölf Millionen Deutsche aus mittel- und osteuropäischen Ländern vertrieben wurden, ist als Folge des Zweiten Weltkriegs und der alliierten Beschlüsse im westlichen Ausland
keineswegs allgemein bekannt. Nun legt der irische Historiker R. M. Douglas eine Gesamtdarstellung dieses Themas vor. Im
Chronicle of Higher Education annoncierte Douglas seinen amerikanischen Lesern die Vertreibung als Aufdeckung einer "European Atrocity You Never Heard About", was die Leserkommentare zum Teil bestätigen. In The New Republic
lobte der Historiker
Richard J. Evans: "This important, powerful, and
moving book should be on the desk of every international policymaker as well as every historian of twentieth-century Europe. Characterized by assured scholarship,
cool objectivity, and convincing detail, it is also a passionate plea for tolerance and
fairness in a multicultural world." Auch in Deutschland reagierten die Zeitungen mit großem Interesse auf diesem Blick von außen. In der
NZZ lobt Cord Aschenbrenner die
Klarheit und Unvoreingenommenheit des Bandes. Unbelastet von den vergifteten deutschen Debatten ergibt sich hier, wie "kalt und unbarmherzig" die Vertreibung der Deutschen, auch mit Unterstützung der Alliierten, von sich gegangen ist, meint Aschenbrenner. Fast alle Kritiker anderer Zeitungen sehen es mit mehr oder weniger großen Einschränkungen ebenso. Stellvertretend sei der Historiker
Andreas Kossert in der
SZ genannt, der hervorhebt, dass Douglas
bisher unbekannte Quellen einbezieht. Hier eine
Christian Fuchs,
John GoetzDie ZelleRechter Terror in Deutschland
Rowohlt Verlag 2012, 272 Seiten, 14,95 Euro
Es handelt sich um das erste Buch, das Aufschluss über die
Zwickauer Nazibande geben will. Die Autoren sind versierte Journalisten. Christian Fuchs etwa legte im
Zeit-Dossier eine lesenswerte Reportage über die mutmaßliche Mittäterin
Beate Zschäpe vor, die man auf der Website des Journalisten
nachlesen kann. Die Reaktionen auf das Buch fallen höchst
widersprüchlich aus. Peter Carstens sieht es in der
FAZ als gründlich recherchiert und aufschlussreiche. Allerdings kritisiert er auch einige "Infamien", besonders wenn es darum geht, wie die Autoren das politische Klima beschreiben, in dem diese Mordtaten möglich wurden - Carstens findet, das die
CDU einseitig verantwortlich gemacht werde. Sehr kritisch bespricht Andreas Förster das Buch in der
FR: eben doch ein Schnellschuss, oberflächlich und - in dem verständlichen Wunsch nach einer schnellen Veröffentlichung -
zu nah an den offiziellen Versionen der Geheimdienste. In der
taz kann Wolf Schmidt dagegen nur Bestes über das Buch sagen: Er hebt hervor, dass die Autoren nicht bei einer guten Zusammenfassung stehen bleiben, sondern auch eine detailreiche und
erhellende Rekonstruktion der Biografien von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe leisten.
Julia FischerAffengesellschaftSuhrkamp Verlag 2012, 281 Seiten, 26,95 Euro
Unsere biologische Nähe zu
Menschenaffen ist hinlänglich bekannt. Aber wie sieht es eigentlich mit dem
Sozialleben von Primaten aus? In ihrer Forschungsarbeit schildert die Primatologin Julia Fischer kenntnisreich und anschaulich, wie solche "Affengesellschaften" organisiert sind. Dabei treten
interessante Parallelen zum Menschen, aber auch faszinierende Eigenheiten zutage. Dass die Autorin auf wilde Thesen verzichtet, weiß Helmut Mayer in der
FAZ zu schätzen. Dagegen führt Fischer für ihn überzeugend und mittels zahlreicher Details vor Augen, dass die kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten der Primaten erst in der Interaktion und sozialen Organisation der Affen angemessen zu verstehen sind. Johan Schloemann freut sich in der
SZ, dass Fischer mit
verbreiteten Fehlurteilen über die Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Affen aufräumt: so verfügen Affen zwar beispielsweise über Vorstellungen von Zeit, Mengen und Größen - ohne jedoch unsichtbare kausale Zusammenhänge erfassen zu können. Katharina Granzin lobt in der
taz die
gute Lesbarkeit der Studie und feiert sie als "akademische Pionierleistung".
Serhij ZhadanTotalniy FutbolEine polnisch-ukrainische Fußballreise
Suhrkamp Verlag 2012, 242 Seiten, 18 Euro
Die Europameisterschaft ist vorbei, das Bedürfnis nach Fußball vorübergehend etwas abgeklungen, aber das Interesse an den Gastgeberländern
Polen und
Ukraine möglicherweise geweckt. Da ist der vom ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan herausgegebene Band "Totalniy Futbol" genau das Richtige:
vier polnische und vier ukrainische Autoren porträtieren die acht Austragungsorte - Breslau, Danzig, Posen, Warschau, Lemberg, Kiew, Charkiw, Donezk - und erzählen, wie sich der tiefgreifende Transformationsprozess der letzten Jahrzehnte auf ihr Leben, auf ihre Städte und auf den Fußball ausgewirkt hat. Abgerundet wird der Band von einem Fotoessay von Kirill Golovchenko.
SZ-Rezensent Christoph Schröder lobt den "originellen Blickwinkel" der Autoren, während sich Oliver Jungen in der
FAZ über ihre humorvolle Note und
leidenschaftliche Fußballbegeisterung freut. Sebastian Hammelehle
hebt auf
Spiegel Online den entspannten, aber kritischen Ton hervor, der sich von den üblichen beschönigenden oder skandalisierenden Reisegeschichten angenehm abhebt und
Lust auf eine Reise in diese beiden Länder macht.