03.02.2010. Joachim Sartorius nimmt uns mit auf die Prinzeninseln. Alma Guillermoprieto schickt uns ins Kuba der Siebziger. Alek Popov füttert uns mit Erzählungen für Fortgeschrittene. Helene Hegemann und Seyran Ates lassen Rezensentenschläfen pochen. Und Barbara Vine serviert eine bildschöne Leiche. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats.
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Bücherbriefen, der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2009, den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den
Büchern der Saison vom
Herbst 2009.
LiteraturJoachim Sartorius Die PrinzeninselnMarebuchverlag 2009, 18 Euro
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Die Prinzeninseln sind der asiatischen Küste des
Marmarameers vorgelagert, ganz in der Nähe Istanbuls. Der Klappentext schildert sie als "als maritimen Vorort der imperialen Metropole am Bosporus", prächtig und satt von Geschichte und Reminiszenzen.
FAZ-Kritikerin Karen Krüger hat sich von Joachim Sartorius' Reisebuch über die Prinzeninseln bezaubern lassen. In einer Art
autobiografischem Reiseführer erzählt der Berliner Lyriker und Essayist von seinem Aufenthalt in einem Hotel aus der Jahrhundertwende auf der größten der Inseln, er besucht das Haus der Großmutter seines Freundes
Orhan Pamuk und preist die Insellandschaften, die sich wie die Schwärmereien eines
frisch Verliebten lesen, so die Rezensentin. Für jeden Reisenden in die Kulturhauptstadt des Jahres 2010 dürfte das Buch die passende Lektüre sein.
Alma Guillermoprieto Havanna im SpiegelEine Erinnerung an die Revolution
Berenberg Verlag 2009, 25 Euro
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Alma Guillermoprieto gilt als eine der
besten Reporterinnen und Lateinamerika-Kennerinnen der USA, und sie berichtet aus eigener Erfahrung aus Kuba, wohin sie 1970 als
Tanzlehrerin ging. Mit Gewinn, so Merten Worthmann in der
SZ, vollzieht man als Leser die zwiespältige Reaktion der Autorin auf das Land nach. Da ist einerseits ihr Entsetzen über die "strukturelle Kunst- und
Intellektuellenfeindlichkeit" des Landes, dessen sozialistisches Experiment schon 1970 gescheitert ist, andererseits ihre Liebe zu den Menschen und ihrer Begeisterungsfähigkeit. Knut Henkel preist in der
NZZ vor allem Guillermoprietos
Beobachtungsgabe.
Alek Popov Für FortgeschritteneErzählungen
Residenz Verlag 2009, 22 Euro
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Es ist schon das dritte Buch des bulgarischen Autors, das auf Deutsch übersetzt wurde. Besonders erfolgreich war sein Roman
"Die Hunde fliegen tief", der von
FAZ und
NZZ glänzend besprochen wurde. Nun also Erzählungen, bisher nur von Jörg Plath in der
NZZ besprochen. Er lobt den
grotesken Witz der Erzählungen. Ob es um peinliche Internetbekanntschaften, durch plötzlichen Geldbesitz ausgelöste Halluzinationen oder um die Lösung des Hungerproblems durch familiären Kannibalismus geht, der Autor setzt immer noch ein "vergiftetes Sahnehäubchen" drauf, freut sich Plath.
Helene HegemannAxolotl RoadkillRoman
Ullstein Verlag 2010, 14,95 Euro
Ok, Helene Hegemann ist 17, die Tochter des Dramaturgen Carl Hegemann (BE, Volksbühne) und ihr
Debütroman "Axolotl Roadkill" hat die Rezensenten verhext. Hegemann erzählt von der 16-jährigen, in Berlin lebenden Mifti, die abhängt, Drogen nimmt, verzweifelt ist und neunmalklug. Kurz: Ein typischer Fall von Wohlstandsverwahrlosung. Tobias Rapp
eröffnete im
Spiegel den Reigen begeisterter Rezensenten mit einem Porträt Hegemanns und schrieb: "Das Buch erzählt auch davon, wie schwierig es ist, im bunten Berliner Themenpark der alternativen Lebensstile einen
Ort für die Rebellion zu finden." Danach gaben sich die meisten Rezensenten Mühe, in ihrer Kritik dem flotten Tonfall der Autorin gerecht zu werden. Als "Kugelblitz in Prosaform" lobte Ursula März in der
Zeit den Roman. In der
FAS versprach ein verzückter
Maxim Biller : "Es ist, wie jede große Kunst, sehr moralisch, und wer immer sich von ihm getroffen fühlt, bekommt nach der Lektüre die gleichen Schmerzen wie ein
ausgepeitschter Ehebrecher auf dem Marktplatz von Ghom." Und in der
FR bewundert Peter Michalzik die "denkgeile Phantasie" der Autorin.
Alissa Walser Am Anfang war die Nacht MusikRoman
Piper Verlag, München 2010, 252 Seiten, 19,95 EUR
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Alissa Walsers neuer Roman ist gleich nach Erscheinen auf große kritische Resonanz gestoßen - wenn auch auf zwiespältige. Die Autorin greift ähnlich wie Daniel Kehlmann in der "Vermessung der Welt" auf historische Begebenheiten zurück. Es geht um den Magnetiseur und
Wunderheiler Franz Anton Mesmer, der im 18. Jahrhundert die Salons der europäischen Hauptstädte faszinierte. Roman Bucheli zeigt sich in der
NZZ durchaus beeindruckt von der - verbürgten - Geschichte der halben Heilung einer
blinden Pianistin, die Mesmer am Ende Vorwürfe einbringt, ein Scharlatan zu sein. Allerdings gefällt Bucheli der Plot besser als seine sprachliche Ausarbeitung, die er häufig genug prätenziös zu finden scheint. Sandra Kegel lobt in der
FAZ dagegen gerade die
Kargheit der Sprache Walsers.
Krimi Barbara Vine Das Geburtstagsgeschenk Roman
Diogenes Verlag 2009, 22,90 Euro
Die Engländerin
Ruth Rendell - inzwischen Baroness Rendell of Babergh - ist eine der besten und renommiertesten
Krimiautorinnen der Welt. Unter dem
Pseudonym Barbara Vine schreibt sie Romane, die eher Thriller- als Krimicharakter haben. Ihr neuester, "Das Geburtstagsgeschenk", spielt im London der 90er Jahre, als noch die
Torys regierten. Es geht um Politik, Moral, Sex und eine Leiche. Das besondere an dieser Geschichte ist, dass sie von zwei Seiten erzählt wird: von dem
aufrechten Bruder des aufstrebenden jungen Tory-Politikers Ivor Tesham, dessen riskante Liebesspiele mit dem Tod seiner Geliebten enden, und von der
gehässigen Jane, die - selbst auf dem absteigenden Ast - ihrer Verachtung, Wut und und ihrem Neid auf das von Tesham verkörperte Establishment Luft macht. Tobias Gohlis hat den Roman in der
Zeit in einer kurzen Kritik uneingeschränkt empfohlen. Großes Lob auch
im sf-magazin und
der Wiener Zeitung - aber
Vorsicht: wer diese beiden Kritiken liest, erfährt vielleicht mehr über die Handlung, als er möchte.
ComicKerascoet, Fabien VehlmannJenseitsReprodukt Verlag 2009, 18 Euro
In zarten Pastellfarben und mit süßer Harmlosigkeit kommt diese Comic-Koproduktion der Autorenduos
Kerascoet mit
Fabien Vehlmann daher. Und wenn man den Rezensenten Glauben schenkt, steigert sich
der Horror kontinuierlich. Worum es in dieser düsteren Fabel genau geht, ist nicht ganz leicht zu sagen - Kerascoet und Vehlmann verbinden Erinnerungen, Fantasien und Albträume in einer Mischung aus Niedlichkeit und Grauen, die die Rezensenten einfach umgehauen hat. "Jenseits" lockt mit
Schönheit und fesselt mit Schrecken, schwärmt Christian Schlüter in der
FR. In der
NZZ verlieh Sven Jachmann dem Comic das Prädikat "
exzellentes Kunstwerk".
SachbücherSeyran AtesDer Islam braucht eine sexuelle Revolution Eine Streitschrift
Ullstein Verlag 2009, 16,90 Euro
"Wer zu viel differenziert, differenziert Probleme weg", meint die Juristin
Seyran Ates und hat mit diesem Buch auch keine feindifferenzierte Analyse vorgelegt, sondern eine Streitschrift. Ihrer Meinung nach brauchen die islamischen Gesellschaften eine sexuelle Revolution, denn bisher kennen sie die
sexuelle Selbstbestimmung weder für Frauen noch für Männer. In der
SZ war Karin Steinberger sehr beeindruckt von Ates' Berichten über Ehrenmorde,
Jungfrauenkult und
Männlichkeitswahn und findet sie sehr glaubwürdig, immerhin hat die Autorin jahrelang in Berlin als Anwältin muslimische Frauen gegen ihre gewalttätigen Ehemänner verteidigt und dabei
schwer verletzt worden. Susanne Schröter in der
FR und Gustav Falke in der
FAZ war das alles
zu undifferenziert. Claudia Keller
meinte im
Tagesspiegel: "Ates plädiert letztlich für eine
liberale Zwangsbeglückung der Muslime. (...) Manchmal geschehen Veränderungen aber auf leisen Wegen. Und gehen dann tiefer und halten länger vor." Dieses Buch ist "wichtig, sogar dringend nötig",
rief dagegen die Autorin
Pieke Biermann im
Deutschlandradio: "Die hiesige Frauenbewegung ging damals auf die Straße mit dem Slogan 'Mein Bauch gehört mir!' Wenn diese Streitschrift nur ein bisschen so zündet wie seinerzeit
Betty Friedans 'Weiblichkeitswahn', dann hören wir bald bei Demos vielleicht: 'Mein Hymen gehört mir!'"
Terence James ReedMehr Licht in Deutschland Eine kleine Geschichte der Aufklärung
C. H. Beck Verlag 2009, 14,95 Euro
Die
Aufklärung konnte sich in Deutschland nie richtig gegen Romantik und echten Tiefsinn durchsetzen. In seinem Essay "Mehr Licht in Deutschland" verteidigt der britische
Germanist Terence James Reed nicht nur das freie Denken, sondern auch die deutschen Aufklärer
gegen die Weimarer Klassiker. In der bisher einzigen Besprechung dieses Buchs preist Alexander Kosenina in der
FAZ diese kleine Geschichte als "großes Plädoyer für Individualismus und Freiheit", die schon Kant "vorzüglich in Religionssachen" einforderte. Nur recht kurz wies die
NZZ auf das Buch hin, dem sie aber offenbar die erschütternde Erkenntnis entnahm, dass in Deutschland ein "Hang zum Dogmatismus" und zu absoluten Wahrheiten vorherrsche, "der das
Selber-Denken immer wieder aushebelt".
Dominik GrafSchläft ein Lied in allen Dingen Texte zum Film
Alexander Verlag 2009, 19,90 Euro
Dominik Graf gehört zu den wenigen
Filmemachern, die auch gut schreiben können, entsprechend enthusiastisch wurde sein Band "Schläft ein Lied in allen Dingen" von den Kritikern aufgenommen. In verschiedenen Essays huldigt Graf seinen Lieblingsfilmen und -regisseuren, auch dem Genre, besingt die Vergessenen der Filmgeschichte und und wütet gegen den Kleingeist der deutschen Filmbranche. "Einzigartig" findet Tobias Kniebe in der
SZ diese Kombination aus Leidenschaft und Urteilskraft. Ekkehard Knörer attestiert in seinem
Cargo-
Blog den Texten "unendliche Entdeckungslust" sowie eine unmittelbar ansteckende Begeisterungsfähigkeit. Und die
FAZ, deren Filmredakteur Michael Althen das Buch herausgegeben hat, anerkennt das von Graf postulierte "Recht auf Scheitern" und die "Pflicht, sich
quer zu den herrschenden Vorlieben zu stellen".
Steven T. WaxKafka in AmerikaWie der Krieg gegen den Terror Bürgerrechte bedroht
Hamburger Edition 2009, 29,90 Euro
Steven T. Wax ist
Pflichtverteidiger. Von amerikanischen Gerichten wurde er beauftragt, zwei Angeklagte zu verteidigen, die im Kampf gegen den Terror in die Fänge der Ermittlungsbehörden geraten und nach
Guantanamo verfrachtet worden waren. Beide Männer waren
unschuldig. In seinem Buch "Kafka in Amerika" schildert Wax diese beiden geradezu kafkaesken Fälle und seinen zähen Kampf gegen die Mühlen der
amerikanischen Justiz. FAZ, NZZ und taz sind gleichermaßen beeindruckt von Wax' Darstellung des an allen Ecken und Enden knirschenden US-Justizsystems und seiner einleuchtenden, nie polemischen Kritik an der Aushöhlung der
Bürgerrechte durch den
Patriot Act. Nur die sehr genaue Darlegung aller Haftprüfungsanträge hat die Rezensenten mitunter etwas erschöpft.
Hörbuch Juan Rulfo Pedro Paramo Roman. 4 CDs, gelesen von Urs Widmer
Christoph Merian Verlag 2009, 29,90 Euro
Juan Rulfos Roman "Pedro Paramo" hat 1955 den "Magischen Realismus" begründet, schrieb Paul Ingendaay in der
FAZ anlässlich der
Neuübersetzung bei Hanser. Die Handlung ist schnell erzählt: Ein Mann reist in ein Dorf in der
Einöde Mexikos, um seinen Vater zu suchen, einen gewissen Pedro Paramo. Der herrscht dort als
Großgrundbesitzer und Tyrann über die Lebenden - und
die Toten, die noch aus dem Grab heraus sprechen. Susan Sontag und Jorge Luis Borges gehören zu den großen Bewunderern dieses Romans - und
Gabriel Garcia Marquez. Allerdings hat "Pedro Paramo" nichts zu tun mit der farbenfrohen Erzählkunst in Marquez' 'Hundert Jahre Einsamkeit',
warnte Andreas Breitenstein in der
NZZ: "Karg kommt 'Pedro Paramo' daher, man kann kaum anders, als sich den Roman in Schwarzweiß vorzustellen. Dass das Phantastische
szenischer Strenge und sprachlicher Klarheit entwächst, macht sein profundes poetisches Geheimnis aus". Jetzt hat der Schweizer
Autor Urs Widmer den Roman als Hörbuch eingelesen. In der
Zeit findet das Wilhelm Trapp so eindringlich, dass er die "erdige Konkretheit der Einzelheiten" buchstäblich leuchten sieht.