08.02.2014. Rafael Chirbes' ultimativer Roman zur Krise, Zadie Smiths multiperspektivische Roman über London, Max Frischs brillante Porträts seiner Schriftstellerkollegen im Berliner Journal, Johannes Frieds anschauliche Biografie über Karl den Großen - dies alles und mehr in den besten Büchern des Februar.
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Leseproben in
Vorgeblättert, in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Herbst 2013 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2013 und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturRafael ChirbesAm UferRoman
Antje Kunstmann Verlag 2014, 432 Seiten, 24,95 Euro
Ganz klar den ultimativen Roman zur Krise hat
Rafael Chirbes mit "Am Ufer" vorgelegt, da sind sich die Rezensenten einig. In der
Welt beschreibt Claus-Ulrich Bielefeld
beschreibt die wütende Geschichte um Krisenprofiteure, Urheber und mitschuldige Verlierer in der
maroden spanischen Baubranche als "eine Art Totentanz der Moderne". Dass Chirbes die Wurzel des Übels im Franqismo findet, der dem Land das Streben nach Höherem ausgetrieben habe,
hat Ralph Hammerthaler in seiner Besprechung in der
SZ besonders gefallen. Paul Ingendaay
zieht es, mit dem Autor selbst, in der
FAZ vor, das Buch als
Zustandsbeschreibung der Menschenseele in den westlichen Gesellschaften zu lesen. An diesem Punkt bringt Merten Worthmann in der
Zeit milde Kritik an: die conditio humana ist doch ein arg wohlfeiler Schuldiger für die Finanzkrise.
Zadie SmithLondon NWRoman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2014, 432 Seiten, 19,99 Euro
In ihrem Roman "London NW" erzählt
Zadie Smith von vier Personen, die aus dem ärmlichen Viertel Kilburn im Nordwesten Londons stammen und in unterschiedliche Milieus auseinanderdriften. Dabei versucht Smith gar nicht erst, die
verschiedenen Perspektiven durch eine Handlung in ein Gesamtgefüge zu bringen, sondern lässt sie disparat nebeneinander stehen. Katharina Granzin
stört sich in der
taz nicht weiter daran, dass in "London NW" im engeren Sinne nichts passiert, denn: "Ein echtes Erzähltalent darf fast alles". Und erzählen kann Smith, so gut, dass Tilman Spreckelsen in der
FAZ bisweilen an
James Joyce und "Ulysses"
denken muss. Johan Schloemann
preist in der
SZ Smiths "souveräne, illusionslose und
niemals behäbige Prosa", auch wenn sie mitunter "ein wenig steif und konstruiert" daherkommt. Eine gewisse Kühle, die sich daraus ergibt, dass sich die Autorin weitestmöglich aus ihrer Schilderung heraushält, stellt auch Ijoma Mangold in der
Zeit fest, weshalb er
bekennt: "Es ist leichter, diesen Roman zu bewundern, als ihn zu lieben." Hier einebeim Verlag.
Michael StavaricKönigreich der SchattenRoman
C. H. Beck Verlag 2013, 256 Seiten, 19,95 Euro
Noch ist niemand auf die Idee gekommen, diesen Roman von einem der zahlreichen Tierethiker und deutschen Autoren besprechen zu lassen. Es geht um
Fleisch, um Fleischer, um Fleischereien und die ganz große Zerfleischerei des Zweiten Weltkriegs. Schon Worte wie "
Kotelettklopfer" oder "Fleischsignierstift" verzaubern den
FR-Kritiker Christoph Schröder ganz durch ihre Schönheit und führen ihn auf direktem Wege ins Fleischerei-Gewerbe, in dem die beiden Protagonisten Rosi Schmieg und Danny Loket tätig sind, aber auch den schicksalhaften Verflechtungen in dieser Groteske folgt er atemlos. Ernst Osterkamp hat sich in der
FAZ prächtig amüsiert, aber er bemerkt auch eine gewisse Unentschiedenheit des Autors, der sich zwischen Groteske und Parabel auf den Zweiten Weltkrieg nicht ganz entscheiden könne. Schröder findet
Mari Otbergs Illustrationen harmlos, Osterkamp lobt sie dagegen. Hier einebeim Verlag.
Max FrischAus dem Berliner JournalSuhrkamp Verlag 2014, 235 Seiten, 20 Euro
Dass
Max Frischs Tagebücher aus seiner Berliner Zeit 1973/1974 aus Rücksicht auf die erwähnten Zeitgenossen jahrzehntelang weggeschlossen waren, leuchtet den Rezensenten ein - dass das Journal nun
lediglich in Auszügen erscheint, bedauern sie jedoch sehr. Was nicht zuletzt daran liegt, dass das Gebotene Lust auf mehr macht. Als "faszinierend banal"
beschreibt Sabine Vogel die Aufzeichnungen in der
FR, während sich Martin Meyer in der
NZZ besonders von der "obsessiven" Selbstkritik des Autors beeindruckt
zeigt. Volker Weidermann
hebt in der
FAZ insbesondere die
brillanten Porträts von Schriftstellerkollegen, etwa dem gegen jegliche Selbstkritik immunen "Gegen-Frisch"
Günter Grass, hervor. Detlef Kuhlbrodt
nimmt in der
taz Anteil an Frischs (unbegründeten) Sorgen um seine Produktivität und sein Gedächtnis und ist enttäuscht, dass offenbar vieles Private aus dem Journal gestrichen ist. Dazu
stellt Richard Kämmerlings in der
Welt fest: "Bei einem Autor wie Max Frisch Aufzeichnungen für zu privat zu halten, ist natürlich
einigermaßen absurd."
Uljana Wolfmeine schönste lengevitchGedichte
Kookbooks Verlag 2013, 88 Seiten, 19,90 Euro
SZ-Kritikerin Sibylle Cramer hat sich anstecken lassen von der vielsprachigen Kunst der Lyrikerin Uljana Wolf. Daran, dass Wolf zur Riege junger
deutschsprachiger Poesiebestäuberinnen gehört, hat Cramer spätestens nach diesem Band keinen Zweifel mehr. Das Gedicht blüht!, findet sie. Auch wenn inmitten der verspielten, Cramer an Wunderblock-Strukturen erinnernden Zyklen hin und wieder ästhetische Spannungslosigkeit lauert, etwa wenn Wolf Merkel-Reden aufs Korn nimmt, bietet der Band der Rezensentin insgesamt eine assoziationsreiche Sprache, vielfältige Bezüge und Unterhaltung auf
hohem Niveau. Bei der
Lyrikline ist die 1979 geborene Autorin schriftlich und akustisch mit einem Gedicht "aufwachruam I"
vertreten:
"ach wär ich nur im aufwachraum geblieben
traumverloren tropfgebunden unter weißen
laken neben andern die sich auch nicht fanden
eine herde schafe nah am schlaf noch nah an
gott und trost da waren große schwesterntiere
unsre hirten die sich samten beugten über uns (...)"
SachbuchJohannes FriedKarl der GroßeGewalt und Glaube. Eine Biografie
C. H. Beck Verlag 2013, 736 Seiten, 29,95 Euro
Die
FAZ hat dieses Monumentalwerk gleich zweimal besprechen lassen. Auf den Geisteswissenschaftenseiten der Zeitung wurde der Kunsthistoriker
Horst Bredekamp, selbst Autor eines
Buchs zum Karlsjahr, geradezu feierlich: Ein "Ereignis" sei das Buch, am Ende ringe Fried gar um Karls Seelenheil. Dass Fried dem Kaiser dabei das Epitheton "
der Große"
versagt, versteht Bredekamp keineswegs als "das Abschmirgeln aller Größe", das er dem immer noch modischen Dekonstruktivismus zuschreibt, sondern im Gegenteil als eine Strategie, die Karls Größe am Ende noch
um so zwingender erscheinen lasse. Ein paar Tage später attestierte der Mittelalterhistoriker Steffen Patzold in der
FAZ Frieds Summa aber auch ein paar Schwächen: Patzold vermisst wohl vor allem eine stärkere Beachtung der aktuellen akademischen Diskurse zum Thema. Dafür lobt er die
Anschaulichkeit des Bandes. Karl wird ihm hier zum Anlass eines prächtigen Gemäldes über das frühe Mittelalter. In der
Zeit feiert Alexander Cammann den Band als "historiografisches Meisterwerk", in der
SZ lobt Rudolf Neumaier überdies den
literarischen Charakter des Bandes. Hier einebeim Verlag.
Wolfgang Beltracchi,
Helene BeltracchiSelbstporträtRowohlt Verlag 2014, 608 Seiten, 29,95 Euro
Cornelius Tittel spricht es in der
Welt aus: Der Mann ist immerhin ein
Krimineller, was Giovanni di Lorenzo nicht hinderte, ihn in seine Talkshow einzuladen: "Dass Beltracchi mit beachtlicher krimineller Energie Karrieren und Biografien zerstört, dass er Millionenschäden nicht nur für Sammler, sondern auch für vom Steuerzahler finanzierte deutsche Museen verursacht hat, das schien in der Talkrunde niemanden zu stören",
schreibt Tittel: "Im Gegenteil - Beltracchi wurde empfangen wie ein Held." Das Buch fällt Niklas Maak in der
FAZ vor allem durch
Leerstellen auf, gewisse Namen werden nicht genannt, als gäbe es da Absprachen. Ein paar diskrete Verweise hat Maak aber doch bemerkt: Unter dem Schutzumschlag des Buches verstecken sich
gefälschte Unterschriften unter anderem von Picasso und Matisse, von denen bisher keine Beltracchi-Fälschungen bekannt sind. Auch Renate Meinhof berichtet in der
SZ distanziert über das Buch: Neue Enthüllungen findet sie nicht. Ob es zumindest
farbige Episoden über einen Kunstbetrieb gibt, der sich allzu gern betrügen ließ, lassen beide Rezensenten offen. Man kann es mittels dieser
ausführlichen Leseprobe auf
Zeit online selbst überprüfen.
Rainer NonnenmannDer Gang durch die KlippenHelmut Lachenmanns Begegnungen mit Luigi Nono anhand ihres Briefwechsels und anderer Quellen 1957-1990
Breitkopf und Härtel Verlag 2013, 478 Seiten, 54 Euro
Das ist so ein Buch, zu dem man sich ein
dreistündiges Radio-Feature wünschte, mit kundigen Geprächen, Zitaten aus den Briefen und natürlich Auszügen aus den Werken. Wenn es je realisiert wird, wird der
Perlentaucher in seiner "Spätaffäre" drauf verweisen! Bisher hat es in den Zeitung nur May Nyffeler in der
NZZ besprochen, dafür aber eingehend und kenntnisreich. Er lobt zumal die eingehenden biografischen, zeitgeschichtlichen und werkanalytischen Erläuterungen des Bandes, der dadurch gleichsam den Charakter einer "
umfangreichen Doppelbiografie" erhalte. Der Band ist dabei nicht nur für die Biografie sener beiden Protagonisten von Interesse,
meint Markus Bandur auf
info-netz-musik, er kann auch "als exemplarische Darstellung der Probleme und
Tendenzen des Komponierens der Jahrzehnte nach 1945 gelesen werden".
Jürgen KaubeMax WeberEin Leben zwischen den Epochen
Rowohlt Verlag 2014, 496 Seiten, 26,95 Euro
Jürgen Kaube ist einer der führenden Feuilleton-Redakteure der
FAZ, seine Max-Weber-Biografie wird hier also von Kollegen besprochen. Anders als Joachim Radkau mit seinem monumentalen Werk
"Die Leidenschaft des Denkens" hat Kaube nicht neues Material erschlossen, sondern sich darauf beschränkt, mit dem vorhandenen zu arbeiten. Wie Gustav Seibt in der
SZ lobt, schildert Kaube mit Souveränität und journalistischem Witz das
intellektuelle Panorama jener Zeit, vor allem aber Webers Großthemen: die Unreife des deutschen Bürgertums, die Formen legitimer Herrschaft, die protestantische Ethik. Auch in der
NZZ lobt Stefan Breuer Professionalität und
Sachkundigkeit und nennt das Buch ein "Glanzstück des Genres". Im
Deutschlandfunk hofft Norbert Seitz vor allem, dass im Berliner Politbetrieb nicht mehr nur Allgemeinplätze von Weber zitiert werden, nach denen Politik das "Bohren dicker Bretter" sei, natürlich mit "Augenmaß und Leidenschaft".
Kathi DiamantDora DiamantKafkas letzte Liebe
Onomato Verlag 2013, 464 Seiten, 19,80 Euro
Bisher war nur wenig über Dora Diamant bekannt, mit der
Kafka sein letztes Lebensjahr in Berlin verbrachte. Die mit ihr nicht verwandte, amerikanische Autorin Kathi Diamant erzählt in ihrer Biografie von dem Leben einer sehr lebenshungrigen, rebellischen Frau, die ihrem jüdisch-orthodoxen Elternhaus in Polen entfloh, um sich in Berlin der
kommunistischen-zionistischen Jugend anzuschließen. Nach Kafkas Tod 1924 verschrieb sich Dora Diamant seinem Werk und ging 1934 nach England. Doch Kathi Diamant erzählt nicht nur die Geschichte dieser Liebe, sondern auch die des
osteuropäischen Judentums, wie Lothar Müller betont, der sich in der
SZ sehr berührt von diesem Buch zeigte. Das englische Original
feierte Ian Thomas bereits vor zehn Jahren im
Observer, weil es eine sehr traurige Geschichte auf sehr schöne Weise erzähle.