07.05.2012. Matthias Nawrat erzählt von einem schwer verliebten Gemüsefahrer. Helene Bessette erzählt von einem besessenen Pfarrer. Ketil Bjoernstadt erzählt von der Sandwich-Generation, Nedim Gürsel von Allahs Töchtern. Außerdem reisen wir mit Stephen Greenblatt in die Renaissance und mit David van Reybrouck in den Kongo. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Mai.
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Weitere Anregungen finden Sie in den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2012, unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2012, den älteren
Bücherbriefen, den
Leseproben in
Vorgeblättert und der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag".
LiteraturMatthias NawratWir zwei alleinRoman
Nagel und Kimche Verlag 2012, 161 Seiten, 17,90 Euro
Der Studienabbrecher Benz schlägt sich in Freiburg als
Gemüsefahrer durch, verliebt sich in die unberechenbare Theres und erlebt das große Abenteuer seines Lebens. "Das ist eine oft erzählte Geschichte. Doch ... Nawrat lässt Theres' Spiel mit Entzug und Hingabe
ins Unheimliche kippen",
lobte in
Kultur West Andrej Klahn den Debütroman des 1979 im polnischen Opole (Oppeln) geborenen und seit 1989 in Bamberg lebenden
Matthias Nawrat. Auf der lit.cologne wurde Nawrat denn auch als bester Debütant 2012 ausgezeichnet. In der
FAZ sah Martin Halter in dem Roman eine "Liebeserklärung an den Schwarzwald" in der Tradition
romantischer Naturschwärmerei. Und Thomas Strässle
lobte in der
NZZ die Dialoge und die Zeichnung eines
schwer Verliebten.
Helene BessetteIst ihnen nicht kaltRoman
Secession Verlag 2012, 188 Seiten, 21,95 Euro
Eine Wiederentdeckung. Hélène Bessette gilt als Wegbereiterin des
Nouveau Roman und wurde von dessen Repräsentanten verehrt, aber beim allgemeinen Publikum und der Kritik war sie vergessen. Nun bringt der kleine Schweizer Secession Verlag einige ihrer vierzehn Romane wieder heraus und fand gleich in der
Zeit und der
FAZ begeisterte Aufnahme für "Ist Ihnen nicht kalt". Ein
Pfarrer schreibt an seine Frau, die ihn verlassen hat, obsessiv, tags, nachts, wann immer es geht. Bessette mag hier persönliche Erfahrungen verarbeitet haben, denn sie war selbst mit einem Pastor verheiratet, den sie irgendwann verließ. Helmut Böttiger in der
Zeit und Anja Hirsch in der
FAZ bewundern die
Sogwirkung dieser Briefe. Gleichzeitig eine Erinnerung an eine Genre, das in diesen Tagen nun wohl endgültig ausstirbt: den Briefroman.
Ketil BjoernstadDie UnsterblichenRoman
Insel Verlag 2012, 303 Seiten, 19,90 Euro
Sehr realistisch. Der norwegische Autor
Ketil Bjørnstad erzählt in "Die Unsterblichen" von Thomas, einem verheirateten Arzt in den Endfünfzigern, der
eingeklemmt ist zwischen seinen pflegebedürftigen
Eltern und seinen erwachsenen
Töchtern, die Angst haben, auf eigenen Füßen zu stehen. Thomas und seine Frau kümmern sich, so gut es geht, aber langsam zeigen sich Verschleißerscheinungen. Klaus Birnstiel zeigt sich in der
FAZ höchst beeindruckt von diesem "sprachlich präzisen" und
nachdenklichen Buch. Der
NZZ hat in einer
Kurzkritik besonders gefallen, wie Bjørnstad die Situation kühl in die Katastrophe treibt: Zwar erkennt Thomas, was falsch läuft, "aber innere wie äußere
Zwänge sind stärker als die Erkenntnisse des Grüblers". Für Carola Wiemers im
Deutschlandfunk ist der Roman auch ein Porträt des
Arztberufs im 21. Jahrhundert.
Nedim GürselAllahs TöchterRoman
Suhrkamp Verlag 2012, 346 Seiten, 24,95 Euro
Der 1951 geborene Schriftsteller Nedim Gürsel ist einer der renommiertesten Autoren der Türkei. Nach dem Militärputsch 1980 wurde er wegen Diffamierung des Türkentums in seinen ersten Romanen angezeigt. Gürsel ging zurück nach Paris, wo heute türkische Literatur lehrt. Jetzt wurde er in der Türkei wieder angezeigt: Sein Roman "Allahs Töchter"
verunglimpfe den Islam. Auch die türkische Religionsbehörde ist dieser Auffassung. "Wie kommt
diese Behörde dazu, ihre Meinung über ein literarisches Werk abzugeben und sich noch dazu in ein laufendes Verfahren einzumischen", fragt ein erboster Gürsel im
Interview mit der
NZZ. In der
Zeit kann auch
Hans Christoph Buch die Anzeige
nicht verstehen: "Allahs Töchter" erzählt in drei Schichten von der Geschichte des Islam, schreibt Buch. Gerade der Teil über Mohammed, der die zerstrittenen, polytheistischen, arabischen Nomaden unter dem Banner des Islam eint, ist eigentlich "eine
Hommage an den Propheten Mohammed, dessen Zeit- und Lebensumstände das Buch liebevoll rekonstruiert". Im
Tagesspiegel sieht Susanne Stemmler es ähnlich:
freigeistig,
aber respektvoll setze sich Gürsel mit dem Islam auseinander. Lesenswert auch dieses
Interview mit Gürsel in
Deutschlandradio Kultur.
Patricia GörgHandbuch der ErfolglosenJahrgang zweitausendundelf
Berlin Verlag 2012, 224 Seiten, 19,90 Euro
Das Buch scheint aus einem Auftrag hervorgegangen. Patricia Görg sollte ein
Tagebuch des Jahres 2011 führen, ein Jahr in dem glücklicherweise so manches los war, Stichwort Guttenberg und Fukushima. Görg hat sich des Auftrags in einer Weise entledigt, die Jochen Schimmang in der
taz und Christoph Bartmann in der
SZ die
Freudentränen in die Augen treibt. Spöttisch, aber nicht hämisch verknüpft Görg demnach die aktuellen Ereignisse mit eigenen Erfindungen und Assoziationen. Bartmann scheut sich nicht, die junge Grög, mit
Alexander Kluges nimmermüder Assoziationsprosa zu vergleichen, ja, er findet sie irgendwie sogar
frischer, frecher, freier.
HörbuchHeinrich MannProfessor UnratGelesen von Dieter Mann
Argon Verlag 2012, 7 CDs, 19,95 Euro
Sieben CDs, 475 Minuten. Der ganze Unrat wird hier gelesen. Und zwar von
Dieter Mann (nicht verwandt, oder?), einem Schauspieler der den
FAZ-Rezensenten Friedmar Apel zu dem höchstmöglichen Kompliment führt: So komisch, wie Mann ihn liest, hatte Apel den Roman gar nicht in Erinnerung. Und das gelingt Mann laut Apel nicht etwa mit übertriebenem Chargieren, sondern mit "
verhaltener Ironie". Weder Professor Raat, genannt "Unrat", noch die fesche Lola erscheinen so als Charaktermasken, sondern als ganz neu zu entdeckende Personen.
Lesen lassen ist vielleicht manchmal instruktiver als selber lesen. Sehr gut besprochen wurde auch
Kafkas Roman
"Der Verschollene" den Beate Andres für den SWR auf 2 CDs als Hörspiel inszeniert hat. Herausgekommen ist dabei "
großes Hörkino", versichert in der
FAZ ein begeisterter Wolfgang Schneider. Dabei wurde nichts hinzugefügt. Sogar die lautstarke
Martial-Arts-Szene kommt im Roman vor!
Sachbücher Stephen Greenblatt Die Wende Wie die Renaissance begann
Siedler Verlag 2012, 345 Seiten, 24,99 Euro
Der als Shakespeare-Spezialist bekannte Harvard-Professor
Stephen Greenblatt schildert den ideengeschichtlichen Wandel vom Mittelalter zur Renaissance anhand eines antiken Schlüsseltexts - "De rerum natura" des römischen Dichters
Lukrez. Ausgehend vom Januar 1417, als dem Humanisten
Poggio Bracciolini in einem süddeutschen Kloster das letzte erhaltene Exemplar dieses Manuskripts in die Hände fällt, beschreibt Greenblatt, wie der Text das Weltbild des mittleralterlichen Menschen revolutioniert. In der
SZ zeigt sich Johan Schloemann fasziniert, wie Greenblatt das Thema des antiken Atomismus in einen veritablen und
schwungvollen Schmöker über Philologie und Humanismus, Klosterwesen und Textkritik, Altertum und Renaissance verwandelt. Und Ruth Fühner
schwärmt in der
FR, Greenblatts pulitzerprämiertes Buch vollbringe genau das, "was Bracciolini schon an Lukrez faszinierte: die Verschwisterung von
Gelehrsamkeit und Eleganz".
David van Reybrouck KongoEine Geschichte
Suhrkamp Verlag 2012, 783 Seiten, 29,95 Euro
Wahrscheinlich hat kein Land der Welt eine solch traurige Geschichte wie der Kongo. Oder eine solch faszinierende. Der belgische Autor
David van Reybrouck erzählt diese Geschichte nun auf siebenhundert Seiten in einer Mischung aus Geschichtserzählung, Reportage und Wirtschaftskrimi. Dabei schlägt er den Bogen vom Beginn der Kolonialherrschaft 1885, als König
Leopold II. sich das Land als Privatbesitz unter den Nagel riss, über
Mobutus Diktatur bis zum
Großen Afrikanischen Krieg, der seit mehr als fünfzehn Jahren mal mehrm, mal weniger intensiv das Land verheert. In der
Zeit pries Andrea Böhm das Buch als Beispiel für eine neue, moderne Art über Afrika zu schreiben. Im
Spiegel bewunderte Sebastian Hammelehle, dass Reybrouck ebenso mitreißend von der afrikanischen Katastrophe erzählt wie von den großen Momenten seiner Geschichte. Im
Freitag feierte Robert Stockhammer das Buch und beschloss angesichts der Rohstoffkriege, chinesischer Massenproduktion und unvermeidlicher Conrad-Zitate ("The Horror! The Horror!"), den Kongo in das
Herz der Globalisierung umzubenennen. Hier eine
John Freely Platon in Bagdad Wie das Wissen der Antike zurück nach Europa kam
Klett-Cotta Verlag 2012, 388 Seiten, 24,95 Euro
Der Amerikaner
John Freely lehrt in Istanbul Physik und Wissenschaftsgeschichte, in seiner Kulturgeschichte "Platon in Bagdad" zeichnet er nach, wie
Erkenntnis in den vergangenen zweieinhalbtausend Jahren zwischen Orient und Okzident ausgetauscht wurde. Er erzählt von den Anfängen der griechischen Naturphilosophie in Milet und Athen, von wo aus das Wissen über Rom und Byzanz ins abbasidische
Bagdad und fatimidische
Kairo wanderte und weiter über
Toledo und Palermo zurück nach Europa. Der Schriftsteller
Najem Wali konnte sich
gar nicht sattlesen an diesen spannenden Geschichten über Philosophen und Physiker, Astronomen und Ärzte, wie er in der
taz schwärmt. "
Der Geist weht, wo er will", lernte Wolfgang Günter Lerch und versichert in der
FAZ, selten eine solch fesselnde und stilistisch überzeugende Wissenschaftsgeschichte gelesen zu haben.
Laurie Penny Fleischmarkt Weibliche Körper im Kapitalismus
Edition Nautilus 2012, 128 Seiten, 9,90 Euro
Von jahrzehntelangen feministischen Auseinandersetzung zermürbt, neigen manche Frauen zur Resignation, während andere der Illusion erliegen, ihre Ziele bereits erreicht zu haben. Nicht so die 25-jährige
Laurie Penny, Anorektikerin,
angry young woman und
Star der britischen Bloggerszene. Oft polemisch, aber präzise und pointiert legt sie zur Freude der Rezensentinnen den alltäglichen Sexismus des Mainstreams offen und entwickelt dabei, wie die Rezensentinnen versichern, intelligente, zeitgemäße Positionen zu Fragen wie Prostitution und Genderkonstruktionen, auf die der Feminismus meist nur reflexhaft reagiere. Sabine Rohlf zeigt sich in der
FR von Pennys Thesen ebenso begeistert wie von dem Furor, mit dem sie vorgetragen werden, und dem "
Nerv für klare Worte". Marie Schmidt
stellt auf
Zeit Online fest: "Es ist
befreiend, Laurie Penny zu lesen."
Tony Judt Das Chalet der Erinnerungen Carl Hanser Verlag 2012, 224 Seiten, 18,90 Euro
Voller Bewunderung haben die Rezensenten diese autobiografischen Essays gelesen, die der britische Historiker
Tony Judt kurz vor seinem Tod auf recht diffizile Weise verfasst hat. Judt
litt an der Nervenkrankheit ALS, konnte nicht mehr selbst schreiben, und ordnete nachts seine Erinnerungen wie in einem Schweizer Chalet, um sie am nächsten Morgen zu diktieren. Er erinnert sich an seine Studienjahre, an das London der 50er Jahre, an die Jahre im Kibbuz und an all die intellektuellen Auseinandersetzungen, die er mit Freunden und Feinden führte. In der
FAZ attestiert Matthias Weichelt den Essays "
poetische Kraft", "existentiellen Ernst" und eine "
ironische Melancholie". In der
taz imponierte Robert Misik besonders, wie der Freigeist Judt alle
akademischen Gepflogenheiten hinter sich ließ. In der
NZZ nannte Martin Meyer die Essays einen "Glücksfall", ein "Trostbuch" und schon heute einen "
Klassiker der Erinnerungsliteratur".