06.06.2016. Postreligiöses Erzählen aus Bulgarien, ein biografischer Roman über den spanischen Bürgerkrieg, rumänisches Kleinstadtleben, eine Geschichte der Violine - dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Juni.
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Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den älteren
Bücherbriefen.
Literatur
Lydie SalvayreWeine nichtRoman
Karl Blessing Verlag 2016, 256 Seiten, 19,99 Euro
Seit Lydie Salvayre 2014 für ihren Roman "Weine nicht" mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, wurde die deutsche Übersetzung mit Spannung erwartet. Dass sich die Poesie des "
Frangnol", jener skurrilen französisch-spanischen Mischsprache, nicht verlustfrei ins Deutsche herüberretten lässt, bedauern die Rezensenten zwar, wollen es aber nicht der gelungenen Übersetzung durch Hanna van Laak anlasten. Stattdessen geben sie sich ganz dem Sog der aus
dreifach gebrochener Perspektive erzählten Geschichte um eine alte Frau hin, die ihrer Tochter wieder und wieder vom Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs im Sommer 1936 erzählt. Als "frisch und fesselnd geschrieben,
prall und saftig in der Darstellung von Menschen und Dingen"
lobt Markus Schwering das Buch in der
FR. In der
SZ staunt Joseph Hanimann, wie virtuos die Autorin die Freiheiten des Romans nutzt, um mit der Montage von dokumentarischem Material, Assoziationen und den Erzählungen der Mutter Historisches und Biografisches zu vermischen. "Ein
bewegender, vielstimmiger Roman: politisch wie emotional",
meint Christoph Vormweg im
DLF.
Georgi Gospodinov
8 Minuten und 19 SekundenErzählungen
Droschl Verlag 2016, 144 Seiten, 19 Euro
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8 Minuten und 19 Sekunden sind exakt die Zeit, die das Licht braucht, um von der Sonne zur Erde zu gelangen, und damit auch die Dauer, die der Menschheit nach dem Erlöschen der Sonne noch bliebe. Diese
apokalyptische Grundstimmung zieht sich als roter Faden durch Georgi Gospodinovs Geschichten, bemerken die Rezensenten, heben aber auch das enorme Einfühlungsvermögen des Autors und seine
feine Ironie hervor. Wie "geöffnete Zeitkapseln" erscheinen Sandra Kegel (
FAZ) die Erzählungen, die ihr nicht selten melancholisch-absurde Einblicke in die Geschichte Bulgariens eröffnen. In der
Zeit betont Konstantin Ulmer von Elling den tröstlichen Kern von Gospodinovs Geschichten, die Jörg Plath in der
NZZ als "
postreligiöses Erzählen"
beschreibt: "ein Beharren auf dem vergänglichen Menschlichen ohne anderen Trost als durchs verschlungene Erzählen selbst". Im
Bayerischen Rundfunk erzählt Gospodinov die Hintergründe der Geschichte "Vor dem Hotel Bulgaria". Die
Welt hat die Titelgeschichte
vorabgedruckt.
Antje Ravic StrubelIn den Wäldern des menschlichen HerzensEpisodenroman
S. Fischer Verlag 2016, 272 Seiten, 19,99 Euro
"Dieser Roman ist wie das Leben selbst: unendlich kompliziert und doch einfach herrlich", schwärmt Andreas Platthaus in der
FAZ über den Episodenroman "In den Wäldern des menschlichen Herzens" von Antje Ravic Strubel. Einen Reigen von Liebesgeschichten und -abenteuern
über Länder- und Gendergrenzen hinweg breite die Autorin darin aus, genial komponiert und sprachlich überzeugend. Strubel gelinge es, subtil, bisweilen herrlich altmodisch von Liebesgeschichten unter Frauen zu erzählen, ohne dabei je in den "scheußlichen" LGBT-Jargon zu verfallen,
lobt Tilman Krause in der
Welt, beeindruckt von dieser "
erotischen Delikatesse". Im
Tagesspiegel betont Nadine Lange die "Eleganz, mit der Strubel von diesem Identitäts- und Begehrenskosmos erzählt". In der
Zeit bedauert Burkhard Müller allerdings, dass sich die episodische Struktur bisweilen "literarisch auf Kosten der emotionalen Kraft verwirklicht". Für
DradioKultur hat Joachim Scholl mit der Autorin
gesprochen. Und in der "Lesezeit" des
DLF hat sie zwei Passagen aus dem Roman
gelesen.
Filip Florian Alle Eulen Roman
Matthes und Seitz Berlin 2016, 213 Seiten, 19,90 Euro
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Mit 213 Seiten ist "Alle Eulen" zwar nicht gerade dick, aber dennoch gewaltig,
staunt Paul Jandl in der
Welt über Filip Florians neuen Roman. Das liege daran, dass der Autor die Geschichte um die Freundschaft zwischen einem Jungen und einem alten Mann in einer rumänischen Kleinstadt überreich mit Atmosphäre, Natursymbolik und "
mikroskopisch kleinen Wahrnehmungen" aufgeladen habe. Die Unschuld der Kindheit finde dabei genauso ihren Platz wie der repressive Alltag im kommunistischen Totalitarismus. "Zauberhaft melancholisch"
findet der Schriftsteller Jan Koneffke in der
NZZ das Buch, dessen
große Sinnlichkeit "an keiner Stelle gewollt oder aufdringlich wirkt". Als Vorgänger und Nachfolger des Autors erkennt Koneffke die Protagonisten, verbunden durch kindliche Weisheit beim Jungen und poetische Kindlichkeit beim Alten.
FluxFM bringt mehrere knapp dreiminütige Hörproben aus dem Buch, das Sprecher Jörg Petzold als "in einer großartigen Sprache geschrieben, detailverliebt und üppig und fantasievoll" lobt.
Jane GardamEine treue FrauRoman
Hanser Berlin 2016, 272 Seiten, 21,90 Euro
In England wird
Jane Gardam seit langem hoch geschätzt, in Deutschland erlangte sie erst im vergangenen Herbst - bereits 87-jährig - Bekanntheit, als ihr
Roman "Ein untadeliger Mann" zum Bestseller avancierte. Nun erscheint mit "Eine treue Frau" der zweite Teil der "Old Filth"-Trilogie über den Kronanwalt Edward Feathers, dessen Frau Betty und ihren Liebhaber Terry Veneering, und die Rezensenten sind erneut durchweg begeistert. Dabei handelt es sich nicht um eine Fortsetzung, sondern um dieselbe Geschichte aus einem anderen Blickwinkel, nämlich den der Ehefrau, wodurch es der Autorin gelinge, die
Täuschungen und Selbsttäuschungen, die zwangsläufig einer bestimmten Perspektive anheften, zu demaskieren und "das Eindimensionale von Geschichte aufzuheben", wie Rainer Moritz in der
Welt feststellt. Auch wenn die Romane eng miteinander verwoben sind, ist jeder der Romane auch für sich gut lesbar,
versichert Lothar Müller in der
SZ, dem dieser Band herrliche Innenansichten der "Englishness" im
niedergehenden Empire beschert. Für die
Zeit hat Susanne Mayer die Autorin in England
besucht und sich über den autobiografischen Gehalt der Trilogie informiert.
SachbuchDavid SchoenbaumDie ViolineEine Kulturgeschichte des vielseitigsten Instruments der Welt
Bärenreiter Verlag 2015, 744 Seiten, 49,95 Euro
"Es gibt viele Bücher über die Geschichte der Geige, aber eigentlich sind es wenige, weil sie alle dieselben sechs Anekdoten verwerten",
erklärt David Schoenbaum im Gespräch mit
Violinist.com. Dieser dürftigen Bearbeitungslage setzt der Historiker das Ergebnis seiner zwanzigjährigen Arbeit entgegen: über 700 Seiten prall mit Informationen, Hintergründen und Anekdoten, ein "massives literarisches Monster", wie es Amanda Mark im
New York Journal of Books beeindruckt
nennt. Ganz klar ein
Standardwerk, aber dabei äußerst amüsant und unterhaltsam, schwärmt Eleonore Büning in der
FAZ, dabei mit einem guten Register ausgestattet, das das Buch
auch als Lexikon wertvoll macht. Unerschöpflich lehrreich
findet auch Angela Schader (
NZZ) die Lektüre: Ob Geigenbau, Geigenhandel, Intrigen, Spielkultur und Interpreten, Geigen in der Literatur, alles erkundet und vermittelt der Autor ihr mit Neugier und einem Wissen, das politische, soziale und wirtschaftliche Bezüge miteinfließen lässt. Da Schoenbaum zügig und unaffektiert schreibt, so Schader, wird ihr die Stofffülle nicht zur Last, sondern zur mitunter
höchst spannenden Erfahrung. Pflichtlektüre für Geiger und alle, die es werden wollen,
meint Tim Page in der
Washington Post.
Martin BossenbroekTod am KapGeschichte des Burenkriegs
C. H. Beck Verlag 2016, 624 Seiten, 29,95 Euro
Im Oktober 1899 eskalierte der Konflikt zwischen
Großbritannien und den Burenrepubliken Oranje-Freistaat und Transvaal, und die anschließenden Kriegshandlungen, bei denen Hunderttausende in Konzentrationslager interniert wurden und zehntausende Zivilisten starben, gaben der Welt eine Vorahnung auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts. In "Tod am Kap" schildert der Historiker Martin Bossenbroek das Geschehen aus der Perspektive des niederländischen Juristen
Willem Leyds, des britischen Kriegsberichterstatters
Winston Churchill und des burischen Kämpfers
Deneys Reitz. Eine "brillante Meistererzählung"
nennt Cord Aschenbrenner (
NZZ) das Buch und hebt besonders hervor, dass es verdeutlicht, "wie tief die Geschichte Südafrikas bis zum Ende des Apartheidregimes von den Folgen dieses Krieges geprägt war." Dass am Ende die weiße Perspektive dominiert, findet
FAZ-Rezensent Andreas Eckert schade. Doch beeindruckt auch ihn, wie der Autor die Forschungsliteratur einbezieht und auf breiter Quellenbasis das Kriegsgeschehen schildert, Akteure porträtiert und politische, diplomatische und militärische Perspektiven anbietet. "Wer die Geschichte Südafrikas im 20. und 21. Jahrhundert begreifen will, kommt an Bossenbroeks brillant geschriebenem und
auf profunder Sachkenntnis basierendem Buch nicht vorbei",
meint Theodor Kissel im
Spektrum der Wissenschaft.
Didier EribonRückkehr nach ReimsSuhrkamp Verlag 2016, 240 Seiten, 18 Euro
In Frankreich erschien "Rückkehr nach Reims" bereits 2009 und löste eine andauernde Debatte aus. Didier Eribon, Intellektueller, Philosoph und
Soziologieprofessor in Amiens erzählt darin vom Tod seines Vaters, der ihn zur Rückkehr in die Provinz und zur Auseinandersetzung mit seiner
Herkunft aus der Arbeiterklasse zwang. Den sieben Jahren Verspätung zum Trotz kommt die deutsche Übersetzung "zum genau richtigen Zeitpunkt", wie Gustav Seibt in der
SZ feststellt, ergründet der Autor doch, wie es zum Aufstieg des
Front National kam und wie das französische Proletariat von Kommunismus und "schickem Sozialismus" zu Nationalismus, Europafeindschaft, Hass auf Islam und Fremde überlief. Da muss Seibt an die Erfolge von Pegida und AfD in den ostdeutschen Bundesländern denken und erkennt eine "ähnliche postkommunistische Genealogie". Für Seibst ist es ein zwischen
Autobiografie,
Klassenanalyse und Kulturdiagnose changierendes, "überragend aufschlussreiches, dazu auch menschlich anrührendes Buch". Als "ein literarisches Monument für die Ursprungsklasse"
bezeichnet Johnny H. Van Hove das Buch im
Freitag: "ambivalent, deprimierend, hoffnungsvoll, nachdenklich und menschlich".
Patrick KingsleyDie neue OdysseeEine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise
C. H. Beck Verlag 2016, 332 Seiten, 21,95 Euro
Drei Kontinente und
17 Länder hat Patrick Kingsley, Migrationsexperte des
Guardian, für die Arbeit am Reportageband "Die neue Odyssee" bereist, um das meist abstrakt als
Flüchtlingskrise oder Flüchtlingsstrom bezeichnete Phänomen mittels authentischer Einzelschicksale begreifbar zu machen. Dass das Buch hin und wieder wie mit heißer Nadel gestrickt wirkt, kann Felix Simon (
FAZ) verkraften, lernt er doch die Strapazen und das Leid der Flucht, aber auch die Hintergründe, Ursachen und Auswirkungen der Migrationswelle und die Motivation von Menschenschmugglern wie Helfern besser kennen. "Kingsley schreibt - trotz vieler literarischer Assoziationen - nicht literarisch, sondern protokolliert schlicht, aber zum Glück
nie zynisch",
stellt Marc Reichwein in der
Welt fest und hebt hervor, dass der Reporter auch seine eigene Rolle in den bereisten Krisengebieten selbstkritisch und hellsichtig beleuchtet. Und im
DradioKultur staunt Holger Heimann, wie dem Autor gelingt, "die vielen unterschiedlichen, packenden und berührenden Geschichten zu einer großen Erzählung, tatsächlich einer
Odyssee unserer Zeit, zu verweben". Im Gespräch mit Nadja Schlüter
erzählt Kingsley auf
jetzt.de von seinen Erfahrungen als Migrationsreporter.
Felix StalderKultur der DigitalitätSuhrkamp Verlag 2016, 200 Seiten, 18 Euro
Führt uns das Internet in eine postdemokratischen Welt der Überwachung und der Wissensmonopole oder in eine Kultur der Commons und der Partizipation? Es ist an uns, die Zukunft zu bestimmen, meint der Zürcher Medientheoretiker
Felix Stalder. Da kann es sicherlich nicht schaden, mit der "Kultur der Digitalität" vertraut zu sein, die Stalder in seinem gleichnamigen Buch untersucht. Auf
netzpolitik.org freut sich Leonhard Dobusch, dass sich der Autor dem Hang prominenter Netzversteher wie Lanier und Morozov zur Dystopie verweigert, ohne gleichzeitig ein rosiges Bild zu zeichnen: "Vielmehr lässt er sich auf die
Widersprüchlichkeiten der von ihm beschriebenen 'Kultur der Digitalität' ein und erkennt, dass (neue) Herrschaftsformen immer auch (neue) Formen von Widerstand bzw. Alternativkonzepte hervorbringen." Eine "
nicht gerade geringe theoretische Flughöhe"
bescheinigt David Pachali auf
irights.info dem Band, ablesbar an Begriffen wie "Referentialität" oder "Algorithmizität". Für das "Kulturgespräch" des
SWR hat sich Elske Brault mit dem Autor
unterhalten. Bei
vimeo ist Stalders Vortrag "Die Politik der Digitalität. Zwischen Postdemokratie und Commons"
zu sehen, in dem er die Kernthesen seines Buches vorstellt.