09.03.2016. Der Araber der Vergangenheit, der Araber von morgen, Plädoyer für die harte Linie von Malcolm X, ein Überläufer und - mit neuer Wertschätzung - Metternich. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern vom März.
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Literaturbeilagen, der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in
Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der
Lyrikkolumne "Tagtigall", den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturKamel DaoudDer Fall Meursault - eine GegendarstellungRoman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2016, 208 Seiten, 17,99 Euro
Die politische Kolumne, die der algerische Autor Kamel Daoud für die Zeitung
Le Quotidien d'Oran schreibt, gehört zu den meist gelesenen Algeriens. Jetzt hat Daoud seinen ersten, in Frankreich gleich mit dem Prix Goncourt für ein Debüt ausgezeichneten Roman vorgelegt. Es ist eine Antwort auf oder - wie der der Untertitel des Romans sagt - eine "Gegendarstellung" zu
Albert Camus' Roman "Der Fremde", in dem ein namenlos bleibender Araber ohne erkennbaren Grund ermordet wird. Daoud antwortet aus der Perspektive des
Bruders des Ermordeten, der so in dieser Version erstmals einen Namen bekommt. Diese Sprachermächtigung, "die großartige Anmaßung, in der Sprache der Kolonialisten selbst das Wort zu führen gegen das allzu einfache Geschichtsbild, das sie hinterlassen haben", hat Ulrich Rüdenauer in der
Zeit tief beeindruckt, zumal Daoud das Kunststück fertig bringt, die Verhältnisse in Algerien
nach der Unabhängigkeit so kritisch zu beleuchten wie die Ignoranz der ehemaligen Kolonialisten. Auch die Rezensenten von
FAZ,
taz,
Qantara und
FR sind beeindruckt. Die Kritiker in
SZ und
Welt winken dagegen ab: literarisch nicht überzeugend, so ihr Urteil. Hier können Sie sich
selbst ein erstes Urteil bilden: Der
Perlentaucher hat den Roman
vorgeblättert. Und hier ein
Interview mit Daoud in der
FAZ.
Siegfried LenzDer ÜberläuferRoman
Hoffmann und Campe Verlag 2016, 368 Seiten, 25 Euro
Dieser Roman über einen jungen Soldaten, der sich im Zweiten Weltkrieg in eine
kommunistische Partisanin verliebt und
desertiert, war der zweite Roman von Siegfried Lenz. Doch 1951 wollte der Verlag ihn nicht veröffentlichen, weil Desertation damals noch ein Tabu war. Die Behauptung,
Ungehorsam sei unter Hitler nicht möglich gewesen, war noch unangekratzt. Der Verlag hat die Geschichte dieser verhinderten Veröffentlichung in einem Anhang aufgearbeitet, was die Kritiker mit Respekt vermerken. Doch tritt dies alles hinter den Text zurück, den die Rezensenten als
Sensation (
Welt), als
Schatz (
SZ), als
postumen Triumph (
FAZ) feiern. Wie Lenz "mit wenigen Strichen Atmosphäre entwirft, Landschaften als Projektionsraum des Menschlichen zeichnet und poetische Intensität schafft", hat den
FAZ-Kritiker Friedmar Apel schier umgehauen. In der
SZ kann Franziska Augstein kaum glauben,
wie reif dieser Roman des jungen Lenz ist und welches Register an
Sprachfarben ihm zur Verfügung steht: vom derben Landserhumor bis zur romantischen Naturbeschreibung.
Sigismund KrzyżanowskiDer Club der BuchstabenmörderRoman
Dörlemann Verlag 2015, 160 Seiten, 20 Euro
Dieser Roman über eine
Geheimgesellschaft im Moskau der zwanziger Jahre, die
alle Bücher vernichten will, bietet eine gute Gelegenheit, einen herausragenden Vertreter der russischen literarischen Moderne kennenzulernen,
verspricht Felix Philipp Ingold in der
NZZ. Sigismund Krzyzanowskis essayistische Novelle vereint laut Ingold
zeitkritische, romantische, wissenschaftliche,
utopische und antiutopische sowie
spielerische Momente in eigenwilliger Zusammenstellung. In der
SZ war Tim Neshitov von der Lektüre ziemlich geplättet, auf jeden Fall aber beeindruckt von dem radikalen Sprachexperiment des Autors. Ganz großes Lob an die Übersetzerin
Dorothea Trottenberg für ihre
elegante Übertragung ins Deutsche. In der
Literaturkritik hofft Jörg Auberg, dass der Verlag dem französischen Beispiel folgt und weitere Bücher des Autors veröffentlicht.
David GrossmanKommt ein Pferd in die BarRoman
Carl Hanser Verlag 2016, 256 Seiten, 19,90 Euro
Dieser Roman des israelischen Autors
David Grossman hat die KritikerInnen gründlich irritiert. Denn in "Kommt ein Pferd in eine Bar" haut ihnen der sanfte Menschenfreund die
misanthropen Tiraden eines verbitterten alten Comedian um die Ohren. Der Roman erzählt im Wesentlichen die Geschichte des unsympathischen Dovele Grinstein mit einem einzigen Auftritt am Abend seines 57. Geburtstags. In der
NZZ bewundert Marie Luise Knott, wie Grossman mit diesem
explosiven und zugleich zarten Text Gewalt und Verletzungen in der israelischen Gesellschaft zur Sprache bringt. In der
Welt lobt Martin Ebel die literarische und
psychologische Raffinesse des Romans.
SZ und
FAZ hadern zwar ein wenig mit dem friedlichen Ende, erkennen darin aber auch Grossmans auf Versöhnung angelegte Poetik. Im
Standard schreibt Bert Rebhandl anerkennend, im
Dradio Kultur nennt Sigrid Löffler den Roman "schockierend geglückt".
Riad SattoufDer Araber von morgen.
Eine Kindheit im Nahen Osten. Band 2 (1984 - 1985)
Knaus Verlag 2016, 160 Seiten, 19,99 Euro
In seiner auf mehrere Bände angelegten Comic-Autobiografie erzählt der französische Zeichner
Riad Sattouf von seiner Kindheit in Libyen und Syrien. Auch der jetzt erschienene zweite Band, in dem sich die kulturellen Gräben zwischen Orient und Okzident spürbar vertiefen, erhält großes Lob. Im
Tagesspiegel bewundert Thomas Hummitzsch die große Kunst Sattoufs, mit wenigen Strichen ganze
Gefühlswelten entstehen und wieder zusammenbrechen zu lassen. In der
SZ zeigt sich Alex Rühle völlig in den Bann geschlagen von dem
grotesken Humor und der Kraft der Erzählung, die er mit
Marjane Satrapis "Persepolis" vergleicht. In
The Nation verglich Ursula Lindsay Sattouf mit
Kamel Daoud und verteidigte ihn gegen Kritik, er würde die Syrer zu negativ darstellen: "Der Araber von morgen" ist das wütende Buch eines Zeichners über hinterwäldlerische Zustände, kein weltpolitisches Programm.
SachbuchTa-Nehisi CoatesZwischen mir und der WeltHanser Berlin 2016, 240 Seiten, 19,90 Euro
Man muss Ta-Nehisi Coates' Thesen nicht teilen, um sich von der Lektüre seines - zuweilen wehleidigen aber stets wortgewaltigen - Essays faszinieren zu lassen. Der afroamerikanische Publizist schließt intellektuell an den radikalen
Malcolm X an, nicht an Martin Luther King und dessen Traum von friedlicher Integration. Coates Essay liefert einen Einblick in die in Deutschland wenig bekannte Szenerie der
schwarzen Intellektuellen in den USA. Die Kritiker sind häufig zugleich begeistert und skeptisch. Marie Schmid ist in der Zeit etwa mit Coates' kaltschnäuziger Desolidarisierung vom Trauma des 11. Septembers und seinem Plädoyer für Malcolm X' harte Linie
nicht einverstanden - aber dass Coates mit seiner Sicht auf die Weißen, die "andere für dunkel und sich selbst für
irgendwie farblos halten", einen wunden Punkt trifft, leugnet sie nicht.
FAZ-Rezensent Michael Hochgeschwender, der insgesamt positiv ist, kann sich mit Coates' Forderung nach
Reparationen für die Schwarzen, die er unter anderem mit der deutschen Wiedergutmachung für den Judenmord begründet, nicht anfreunden. SZ-Autor Jörg Häntzschel lässt sich von der
Rhetorik Coates' mitreißen, die ihn an schwarze Prediger erinnert - obwohl sich Coates ausdrücklich von den christlichen Motiven vieler schwarzer Intellektueller distanziert.
Wolfram SiemannMetternichStratege und Visionär
C. H. Beck Verlag 2016, 983 Seiten, 34,95 Euro
Schon erstaunlich, wie sich Zeitstimmungen ändern. Metternich galt bis in die siebziger Jahre als
Inbegriff von Reaktion und Restauration und Verhinderer bürgerlicher Revolutionen. Heute wird an ihm die Konstruktion einer über Jahrzehnte stabilen europäischen Ordnung gefeiert, die dann allerdings in der Urkatastrophe des Ersten Weltkreigs implodierte. Aber "Metternichs Denken war moderner, seine Diagnosen hellsichtiger und sein Wirken zukunftsweisender, als man ihm bisher zugestanden hat", behauptet der Klappentext des Buchs, und die bisherigen Rezensenten des Bandes stimmen ein. Vor dem Hintergrund der
blutigen Französischen Revolution und fünfundzwanzig Jahren Krieg scheint Metternichs vorsichtige, extrem konservative Haltung verständlicher, und angesichts der chaotischen Lage in Europa wirkt sein diplomatisches Geschick noch beeindruckender, findet Alexander Cammann in der
Zeit. Auch erscheint Metternichs Konservatismus und sein
Ausgleichen von Gegensätzen in der heutigen Lage wohl triftiger als etwa in den scheinbar so stabilen Siebzigern.
Ece TemelkuranEuphorie und WehmutDie Türkei auf der Suche nach sich selbst
Hoffmann und Campe Verlag 2015, 240 Seiten, 20 Euro
Ece Temelkurans Band über die
Türkei ist das Buch einer enttäuschten, aber leidenschaftlichen Journalistin der Opposition, ein Aufschrei, keine nüchterne Analyse, meint Rezensentin Luisa Seeling in der
SZ. Wie die Autorin, die sogar einen Faschismus in der Türkei für möglich hält, sieht sie in die Türkei in einer
Spirale der Gewalt gefangen. Ingo Arend differenziert die Faschismus-Angst in der
taz, will nicht jede Volte der Autorin nachvollziehen, würdigt das Buch aber vor allem als einen Blick auf eine "muslimisch grundierte '
Gehorsamsgesellschaft'", die noch Dynamik in die eine oder andere Richtung entfalten kann. In einem
Essay, den die
Berliner Zeitung druckte, schildert Temelkuran vor allem die soziale Zersplitterung des Landes und warnt: "Mein Heimatland mag verrückt sein, aber mir scheint, als würde
die ganze Welt mehr oder weniger auf den gleichen Zustand hinsteuern."
Wolfgang WillHerodot und ThukydidesDie Geburt der Geschichte
C. H. Beck Verlag 2015, 280 Seiten, 24,95 Euro
Als "erwachsenes Buch für erwachsene Leser" empfiehlt
FAZ-Rezensent Uwe Walter dieses Buch, in dem der Historiker Wolfgang Will die beiden griechischen Väter der Geschichtsschreibung porträtiert. Besonders gut findet Walter
Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Herodot und Thukydides herausgearbeitet, ihre unterschiedlichen Akzente auf Augenzeugen und kollektive Erinnerungen. Auch die Rezensenten der anderen Zeitungen sind zwar nicht hellauf begeistert, aber
hoch angeregt von der Lektüre. Thomas Meyer fühlt sich in der
SZ im besten Sinne an seine Schullektüren erinnert und bewundert vor allem, wie Will gesellschaftliche und kulturgeschichtliche Veränderungen der Antike nachzeichnet. Wer sich über die Perser- und die
peloponnesischen Kriege informieren will, findet
laut Martin Schneider von
spectrum.de keine aktuellere Lektüre.
David GraeberBürokratieDie Utopie der Regeln
Klett-Cotta Verlag 2016, 329 Seiten, 22,95 Euro
Bei David Graeber geht's immer ums ganz Allgemeine, "Schulden", im letzten Buch, "Bürokratie" im aktuellen. Beides scheint er als überzeugter Anarchist abschaffen zu wollen. - im Klappentext erfährt man jedenfalls, dass Kapitalismus und Bürokratie einen Pakt eingegangen seien, der gleich die gesamte Welt in den Abgrund reißen könne. Dieser Pakt heißt laut Graeber
Neoliberalismus und hat zu üppigen Regelwerken und polizeistaatlichen Methoden geführt habe. "Statt den Kapitalismus zu einem langfristig funktionsfähigen Modell zu machen", so schreibt Rezensent Jens Bisky in der SZ, "wurde dafür gesorgt, dass er als
einzig mögliche Wirtschaftsform erscheint." Bisky konnte sich für Graebers Thesen - aber mehr noch für seinen
erfrischenden Duktus (im Vergleich zur knochentrocken-bürokratischen deutschen Linken nämlich) - durchaus begeistern.
Irma NellesDer HerausgeberErinnerungen an Rudolf Augstein
Aufbau Verlag 2016, 320 Seiten, 22,95 Euro
Rudolf Augstein wird vermisst. Das zeigt schon die begierige Aufnahme der Erinnerungen seiner Büroleiterin Irma Nelles. Claudia Tieschky, Medienredakteurin der
SZ, lässt sich gerade von der
literarischen Qualität dieser Erinnerungen mitreißen, in denen Nelles bisweilen melancholisch von der unromantischen Beziehung zwischen ihr und Augstein erzählt. Amüsiert erlebt die Kritikerin Augstein bei dem scheiternden Versuch einer intimen Annäherung an seine Büroleiterin; fasziniert liest sie, wie Nelles hinter dem "Redaktionstyrannen" eine einsame und
verletzliche Person zu Tage treten lässt. Christian Meier hebt in der
Welt hervor, dass das Buch vor allem die
Person Augstein profiliert - aber das Werk des Journalisten und sein
Spiegel sind ja weithin bereits gewürdigt. In der
FAZ hat Lutz Hachmeister, der ehemalige Chef des Grimme-Instituts und Filmemacher, Nelles Erinnerungen besprochen. Er schätzt vor allem
ihre Offenheit: Weder verschweigt sie Augsteins offenbar recht peinliche Annäherungen, noch das Männerbündlerische, das seinen Spiegel auszeichnete.