09.10.2011. Sibylle Lewitscharoff tröstet Blumenberg mit einem Löwen. Josef Bierbichler übergibt einem Möchtegernkünstler eine Wirtschaft. Josef Haslinger erzählt vom Schicksal der tschechoslowakischen Eishockeymannschaft. Und Peter Englund erzählt vom Ersten Weltkrieg.
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Vorgeblättert, der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2011 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2011.
LiteraturSibylle LewitscharoffBlumenbergRoman
Suhrkamp Verlag 2011, 220 Seiten, 21,90 Euro
Alle, alle haben diesen Roman besprochen, die allermeisten durchaus positiv, manche nur respektvoll. Und er steht auch auf der
Shortlist für den deutschen Buchpreises, dessen Gewinner morgen abend bekannt gegeben wird. Mit dem Philosophen Blumenberg ist genau der Blumenberg gemeint,
an den man sich erinnert, und diesem erscheint
ein Löwe, aber nicht als Bedrohung, sondern als Gestalt des
Trostes. Das ganze ist nun aber nicht poetisch verblasen, sondern mit Lewitscharoffs zuverlässigem
Sinn für Komik aufbereitet. Auch den Wegen von vier höchst melancholischen Blumenberg-Verehrern folgt Lewitscharoff nach der Rezension Judith von Sternburgs in der
FR. Hier steht auch der schöne Satz: "Alles ist sinnlos, aber bedeutungsvoll." In der
SZ versteht Lothar Müller sofort, was Lewitscharoff an dem Philosophen Blumenberg fasziniert hat: Wie sie widerstehe er dem "
Absolutismus der Wirklichkeit".
Josef BierbichlerMittelreichRoman
Suhrkamp Verlag 2011, 392 Seiten, 22,90 Euro
Der erste Roman des Schauspielers Josef Bierbichler. Der Möchtegernkünstler Pankraz übernimmt nach dem Tod seines Bruders im Ersten Weltkrieg widerwillig das Gasthaus "Fischmeister". Es folgen achtzig Jahre Familiengeschichte, in der einfach
zu viel gestorben und masturbiert wird, um als harmlos-fröhlicher Heimatroman durchzugehen, meint Rudolf Neumaier in der
SZ. Er hatte sichlich seinen Spaß an der
Lebendigkeit und kraftvollen Erzählweise des Romans. Ebenso erging es Martin Halter, der das Buch für die
FAZ rezensiert hat. Wunderbar findet er, wie die Bigotterie und die der Nazivergangenheit verhaftete Elterngeneration entlarvt wird. Und die Sprache Bierbichlers, selbst Sohn eines Bauernhof- und Wirtshausbesitzers aus einem Dorf am Starnberger See, die zwischen
bajuwarischer Kunstsprache, Polt'scher Polemik und klassischen Monologen changiert, passt dazu ganz vorzüglich, meint er. Für
Spiegel-Rezensent Wolfgang Höbel
ist der Roman schlicht "ein Ereignis in diesem Bücherjahr".
Josef HaslingerJachymovRoman
S. Fischer Verlag 2011, 271 Seiten, 19,95 Euro
Die
tschechoslowakische Eishockey-Nationalmannschaft gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg zu den besten der Welt. Doch 1950 wurde die Mannschaft, dieser Stolz eines ganzen Landes, verhaftet und zu vielen Jahren Zwangsarbeit in den
Uranminen von Jachymov verurteilt. Der Grund: Die Regierung hatte Angst, die Mannschaft könne sich in den Westen absetzen und sie blamieren. Diese Geschichte und vor allem die des Torwarts
Bohumil Modry, erzählt Josef Haslinger "in sachlich nüchterner Prosa ..., ohne stilistische Kinkerlitzchen", erklärt Sigrid Löffler im
Kulturradio. In der
FAZ findet Wolfgang Schneider die Geschichte bestürzend und gut erzählt. Nur manchmal hätte er sich etwas weniger Details über das Eishockeyspiel gewünscht. Im
Spiegel lobt Christoph Schröder den Roman als "raren Fall einer literarisch gelungenen
Doku-Fiktion".
Pierre MichonDie Grande BeuneRoman
Suhrkamp Verlag 2011, 102 Seiten, 12,90 Euro
Aus dem Klappentext geht kaum mehr hervor, als dass es sich um eine knapp verdichtete Erzählung handelt, dass der Erzähler von
zwei Frauen fasziniert ist, dass er der jüngeren nachstellt und dass Courbets berühmtes Gemälde "Der Ursprung der Welt", das Bild einer Vulva, eine Rolle spielt. Franziska Meier liest den Roman in der
NZZ als Geschichte eines Begehrens, das
keine Erfüllung findet. Und als Parabel aufs Schreiben. Tres francais also. Geradezu
traumhaft erscheint dem Rezensenten Jochen Schimmang, der als Romanautor vom Metier ist, in der
FAZ der von Anfang an sicher gesetzte Ton, in dem das Elementare immer wieder durch einen Sinn fürs Ironische aufgehoben wird. Schimmang zählt Michon zu den bedeutendsten Autoren er französischen Gegenwartsliteratur. Ähnlich Hans-Peter Kunisch in der
Zeit.
Steve Sem-SandbergDie Elenden von LodzRoman
Klett-Cotta Verlag 2011, 651 Seiten, 26,95 Euro
Eines der bittersten Kapitel des Holocaust ist die Geschichte des
Gettos von Lodz. Nicht allein dass die Nazis hier mehr als 200.000 Juden zusammenpferchten und für sich selbst sehr gewinnträchtig ausbeuteten, hat es so berüchtigt gemacht, sondern auch der hier als Judenälteste waltende
Mordecai Chaim Rumkowski, der mit den Nazis kollaborierte. Vom Leben und Sterben in diesem Getto, in dem nicht nur Juden gegen Nazis, sondern auch Juden gegen Juden kämpften mussten, erzählt der schwedische Autor Steve Sem-Sandberg. In der
FAZ erkennt Andreas Platthaus, dass die Schrecken des Holocaust "
als Alltag bewältigt werden" mussten. Im
Deutschlandradio zeigt sich Knut Cordsen von dem Werk ergriffen und spricht von einem "einzigartigen Kaleidoskop der Inhumanität". Im
Guardian schrieb Carmen Callil über den international bereits mehrfach ausgezeichneten Roman und versichert: "Dickens hätte er sehr gefallen." In einem von
Eurozine übersetzten Artikel
verteidigt Sem-Sandberg seine Überzeugung, dass
nicht nur Zeitzeugen über die Schrecken der Lager und des Gettos schreiben dürfen. Über Mordecai Chaim Rumkowski, den Herrn des Todes, ist übrigens auch von dem polnischen
Andrzej Bart in diesem Jahr der Roman
"Die Fliegenfängerfabrik" erschienen.
Leon BloyBlutschweißMatthes und Seitz 2011, 294 Seiten, 29,90 Euro
Der Roman ist ein Dokument eines ausgerechnet in Deutschland weitgehend vergessenen, dabei
historisch fatalen Kriegs: des deutsch-französischen Kriegs von 1870. Wen kümmerte schon noch, dass dieser Krieg so grausam war, wie ihn Bloy, ein sehr katholischer und nationaler Außenseiter der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, ihn schildert? Nun ja,
Ernst Jünger zum Beispiel, der sich von Bloy für seine Weltkriegsliteratur inspirieren ließ. Die Neuübersetzung der Erzählungen ist schon mehrfach besprochen werden - stets von beeindruckten Rezensenten, und unter anderem - schon im Juni - vom
Clemens J. Setz, dem Shooting Star aus Wien. Es sind Blut- und Kriegsgeschichten,
schreibt Setz. Ein
Happy End für Bloy war ein Haufen abgeschlachteter preußischer Soldaten. Das ist oft unerträglicher, katholisch-patriotischer Kitsch, aber es gibt immer wieder Passagen, die den Rezensenten faszinieren: Kleine Momentaufnahmen, in denen sich eine "gesteigerte Weltwahrnehmung" offenbart.
Alexander Pscheras kundige und engagierte Übersetzung wird allgemein gelobt.
EssayGeorg StanitzekEssay - BRDVorwerk 8 Verlag 2011, 359 Seiten, 24 Euro
Dieses Buch ist sicher sehr aufschlussreich. Aber mindestens so aufschlussreich war Ekkehard Knörers
Kritik in der
taz, denn jetzt darf man es ja sagen: Knörer wird Redakteur des
Merkur, und diesen Artikel über die Essayistik der Bundesrepublik darf man selbst als programmatischen Essay verstehen. Knörer ist sich im wesentlichen mit Stanitzek einig: Das "
panische Hochkulturgeflenne" a la
Zeit-Feuilleton ist nicht das Maß aller Dinge, nicht mal Enzensberger ist es, sondern gesucht wird nach
Abenteurern der Textualität, zu denen Knörer (und Stanitzek?) etwa Frieda Grafe oder Karl-Heinz Bohrer zählt. Dirk Baecker hat den Band für die
NZZ gelesen und lernt daraus, dass der Essay ein spielerisches Erkenntnisvehikel sei.
SachbuchPeter EnglundSchönheit und SchreckenEine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen
Rowohlt Verlag 2011, 694 Seiten, 34,95 Euro
Bei Briten und Franzosen ist die Erinnerung an The Great War oder La Grande Guerre noch sehr präsent, bei den Deutschen nimmt der Erste Weltkrieg ebenso wenig Raum im kollektiven Gedächtnis wie in der Forschung ein. Der schwedische Historiker Peter Englund, der auch Sekretär der Schwedischen Akademie ist, hat nun mit "Schönheit und Schrecken" eine
Geschichte des Ersten Weltkriegs vorgelegt, die Cord Aschenbrenner in der
NZZ sehr begrüßt. Denn Englund geht dabei auch sehr unkonventionell vor und erzählt nicht, "was" der Krieg war, sondern "wie". Die Schicksale von
neunzehn Menschen, ihre Eindrücke und Erlebnisse verbindet Englund zu einem einzigartigen Monumentalgemälde, meint Aschenbrenner. In der
Welt zeigt sich Mara Delius von dieser Art des literarischen Erzählens aus der Mitte des Geschehens beeindruckt, die ihr die damalige Spannung zwischen
Erlebnishunger und dem Schrecken des Erlebten sehr überzeugend nahegebracht hat.
Arno LustigerRettungswiderstandÜber die Judenretter in Europa während der NS-Zeit
Wallstein Verlag 2011, 462 Seiten, 29,90 Euro
In seinem Buch über den von ihm so genannten "Rettungswiderstand" widmet sich Arno Lustiger einem bisher wenig beachteten und wenig gewürdigten Bereich des Widerstands gegen den Nationalsozialismus: der Hilfe für die von den Nazis verfolgten Juden in Europa. Lustiger, der selbst die Konzentrationslager Buchenwald und Auschwitz überlebte, hat bereits kurz nach dem Krieg begonnen, die
Schicksale von geretteten Juden zu sammeln, und kann in seinem Buch von den unglaublichsten Begebenheiten erzählen. Zu den Helfern gehörten, Hausfrauen, Prostituierte und Wehrmachtsoldaten, spanische Diplomaten, russische Partisanen, Priester und Erzbischöfe. Für diese Dokumentation über die Rettungen in
allen von den Nazis besetzten Ländern Europas, wie Ralph Giordano in der
Welt betont, kommt Lustiger ein enormes Verdienst zu, da sind sich die Kritiker in ihren durchweg lobenden Besprechungen einig. Rainer Blasius sieht in der
FAZ durch Lustigers Buch auch die unbehagliche Frage aufgeworfen, ob sich Widerstand
an seinen Erfolgen messen lassen muss. Klaus Hillenbrand berichtet in
taz vom bewegenden und sehr aufschlussreichen Schicksal der 275 Juden der der griechischen Insel Zakynthos, die alle gerettet wurden: Als der dortige
Bürgermeister von den Nazis den Befehl bekam, die jüdischen Einwohner zu erfassen, setzte er auf die Liste nur zwei Namen, seinen eigenen und den des Erzbischofs.