10.01.2011. E. L. Doctorow erzählt die Geschichte der zwei berühmtesten amerikanischen Messies, Homer & Langley. Peter Esterhazy krachende Parodie auf den sozialistischen Produktionsroman von 1979 amüsiert die Rezensenten 30 Jahre später noch. Parsua Bashi schickt Briefe aus Teheran. Bei Ling schildert das Leben Liu Xiaobos, Bertrand M. Patenaude den Tod Trotzkis. Und Peter Watson feiert den deutschen Genius. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats.
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Bücherbriefen, den
Büchern der Saison vom
Herbst 2010, unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2010, der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag" und den
Leseproben in
Vorgeblättert.
LiteraturE. L. DoctorowHomer und LangleyRoman
Kiepenheuer und Witsch 2010, 224 Seiten, 18,95 Euro
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Meisterwerk. In ihrer Begeisterung sind sich die Rezensenten über E. L. Doctorows neuen Roman einig, der darin den berühmtestes Messies der Weltgeschichte, den vermögenden Erben Homer und Langley Collyer, ein Denkmal setzt, oder wie Daniel Haas in der
FAZ meint, sie aus der
Pathologie herauf
für die Kunst rettet. Die beiden verbarrikadierten sich in ihrer Villa in Harlem gegen die Welt und horteten mehr als hundert Tonnen Gerümpel, vor allem alte Zeitungen, aber auch Geschirr, Möbel und Autos. Tatsächlich wurden sie 1946 tot aufgefunden, im Roman erleben sie den größten Teil des 20. Jahrhunderts. In einer sehr schönen Besprechung
bewundert der Schriftsteller
Ralf Bönt vor allem, wie detailliert,
klug und liebevoll Doctorow über die beiden schreibt, die keinen
Platz in der Welt finden mochten. Und in der
NZZ lobt Thomas Hermann, wie "unsentimental und berührend" Doctorow über die Rolle des Individuums - und der Medien - in der Weltgeschichte nachdenkt.
Peter EsterhazyEin ProduktionsromanZwei Produktionsromane
Berlin Verlag 2010, 538 Seiten, 36 Euro
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Peter Esterhazys jetzt auf Deutsch veröffentlichter "Produktionsroman" erschien im Original bereits 1979 und schlug damals wie eine Bombe ein: Beim ersten dieser in Wirklichkeit zwei Romane handelt es sich um eine
krachende Parodie auf das auch in Ungarn verlangte Genre des sozialistischen Produktionsroman, der zweite Teil ist eine recht vertrackte, mitunter auch umständliche Reflexion über das Leben,
Schreiben und Fußballspielen des Peter Esterhazy, aufgezeichnet von einem gewissen P. E. Die Ungarn waren begeistert, ihre Literatur in die Postmoderne katapultiert. Absolut lesenswert ist dieses Juwel noch immer, es erfordert allerdings eine gewisse Frustrationstoleranz, wie die Kritiker vorwarnen: Unmöglich, alle "
Pointen,
Finten und Finessen" zu verstehen, meint etwa
FAZ-Rezensent Hubert Spiegel, der aber von Esterhazy ganz klar Goethe und Joyce übertrumpft sieht ("Was kann schon ein Dichter taugen, der nicht eine Zeile über Fußball geschrieben hat?" Burkhard Müller
staunt in der
Welt, dass dieser Roman im sozialistischen Ungarn überhaupt erscheinen konnte, lernt aber von Esterhazy: "Wir sind Mitteleuropäer: unser
Nervenkostüm ist verschlissen, unser
Klopapier hart." Und in der
Zeit ermutigte Andreas Isenschmid zur Esterhazy-Lektüre. Von allen ausdrücklich gelobt wird auch die Übersetzung Terezia Moras.
Parsua BashiBriefe aus TeheranKein und Aber Verlag 2010, 198 Seiten, 18,90 Euro
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Nach fünf Jahren in der Schweiz ist die Grafikerin Parsua Bashi 2009 wieder in den Iran zurückgekehrt. In den "Briefen aus Teheran" erzählt sie vom Leben in der chaotischen Metropole, von den Drangsalierungen der Mullahs und den
Gängelungen der Sittenwächter. Auf
Zeit Online lobt Gerrit Bartels den "tiefen, nachhaltigen Eindruck", den Bashi dabei in den iranischen Alltag vermittelt, der mitunter gänzlich abgekoppelt vom konservativ-islamischen Diktat des Staates funktioniert, aber durchaus nicht immer. Anja Hirsch in der
FAZ zufolge erzählt sie "einfühlsam, fast etwas schalkhaft" und bezeugt dabei immer "einen kraftvollen
Willen zur Veränderung des Landes". In der
taz hat Andreas Fanizadeh unter anderem gelernt, dass im Iran nie soviel getrunken wurde wie seit dem Alkoholverbot: "Klandestines Konsumieren von
Korinthenschnaps oder Möhrenwein kann unheimlich verbinden."
Brigitte KronauerFavoritenAufsätze zur Literatur
Klett-Cotta Verlag 2010, 200 Seiten, 19,95 Euro
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Brigitte Kronauer hat in diesem Band ihre Texte über ihre
literarischen Favoriten gesammelt: Georg Büchner, William Faulkner, Hubert Fichte, Knut Hamsun, Eckhard Henscheid, Marie-Luise Scherer, Robert Walser, Virginia Woolf und das sind längst noch nicht alle. Die Rezensenten reagierten beglückt:
FAZ-Rezensentin Wiebke Porombka auf die
leicht und elegant gefassten Lektüreempfehlungen, Jürgen Verdofsky (
FR) auf die essayistische Verve der Kronauer. Und Jutta Person in der
SZ spürt Licht und Glück, wenn Kronauer mit ihren Favoriten das
Authentische attackiert.
Cesar AiraGespensterRoman
Ullstein Verlag 2010, 169 Seiten, 18,00 Euro
Ein Bauleiter und seine Familie leben im obersten Stock eines sich noch im Rohbau befindlichen Apartementgebäudes in
Buenos Aires. Nichts ungewöhnliches. Nur, dass sie dort oben mit
drei verstorbenen Bauarbeitern zusammenleben, die als Gespenster durch den Bau spuken.
SZ-Rezensent Merten Worthmann hat den Roman sehr genossen: Es passiert unglaublich viel und Aira kümmert sich nicht im mindesten um Sprünge in der Handlung. Das ist virtuos, rasant und nie langweilig, verspricht Worthmann. Für Florian Borchmeyer (
FAZ) ist "Gespenster" einer der
originellsten fantastischen Romane der jüngeren Literatur.
Ross ThomasDer Yellow-Dog-KontraktThriller
Alexander Verlag 2010, 272 Seiten, 14,90 Euro
Der Alexander Verlag gibt seit einiger Zeit die
Krimis von Ross Thomas in neuer Übersetzung und ungekürzt heraus. Der 1995 gestorbene Thomas ist inzwischen auch in Deutschland so bekannt, dass man nicht mehr viel über ihn sagen muss: Er war Journalist, Wahlkampfberater und schließlich einer der amüsantesten und klügsten Autoren politischer Krimis, die es überhaupt gibt. In "Der Yellow-Dog-Kontrakt" geht es um politische Intrigen und einen verschwundenen dubiosen Gewerkschaftsboss im
Washington der siebziger Jahre, kurz nach dem Auffliegen der Watergate-Affäre.
FAZ-Rezensent Hannes Hintermeier liebt Thomas' Hardboiled-Stil, der auch diesen Roman prägt:
Lakonisch, plotlastig, ohne bündiges Ende, aber durchaus mit Interesse für das
Innenleben der Figuren und für Details.
SachbuchBei LingDer Freiheit geopfertDie Biografie des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo
Riva Verlag 2010, 384 Seiten, 19,95 Euro
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Der im taiwanesischen Exil lebende Dichter und Verleger
Bei Ling ist bei uns während der Frankfurter Buchmesse 2009 mit recht deutlichen Worten über das offizöse Programm in Erscheinung getreten. Nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an
Liu Xiaobo hat er in Windeseile diese Biografie über seinen langjährigen Weggefährten verfasst, der seit drei Jahren im chinesischen Gefängnis sitzt. Alex Rühle hat sie in der
SZ mit
angehaltenem Atem gelesen, sehr aufgewühlt haben ihn die Passen über Liu Xiaobos Rolle bei den Protesten vom Tienanmen, sein erzwungenes und später dennoch tief bereutes Geständnis und die Zeit im Straflager in den 90er Jahren. Auf
Zeit online empfahl der Historiker
Hubertus Knabe das Buch in einer engagierten Besprechung. Im
Tagesspiegel gab es ein
Interview, in dem Bei Ling über das Buch und sein Verhältnis zu Liu Xiaobo spricht. Auch in
Cicero, wo
Bei Ling ganz klare Forderungen
aufstellt: "Jetzt kommt es darauf an, dass insbesondere der Westen das Regime als kriminelle Diktatur ahndet. Er müsste sich so einmischen, wie er es früher getan hat. Wie gesagt,
Madeleine Albright hat vor zehn Jahren noch dafür gesorgt, dass ich aus dem Gefängnis kam."
Peter WatsonDer deutsche GeniusC. Bertelsmann Verlag 2010, 1023 Seiten, 49,99 Euro
()
So euphorisch hat schon lange niemand mehr über die
deutsche Geistesgeschichte geschrieben. Auf 900 Seiten erzählt
Peter Watson vom deutschen Genius, und schmeichelhafter Weise schlägt er ihm dabei so ziemlich jeden zentralen Gedanken der
Moderne der vergangenen 250 Jahre zu, von der Bibelkritik bis zur Quantenmechanik und natürlich auch die Kritik an der Moderne. Dass er dabei ausgerechnet Pietismus und Kleinstaaterei eine so große Bedeutung beimisst, erstaunt die Rezensenten, die das Buch aber durch und durch positiv aufnahmen. "Es steht so viel darin, von dem man nichts wusste",
freut sich Arno Widmann über diesen Panoramablick auf das deutsche Denken in der
FR: "
So viel Erhellendes, so viel, das bewegt." In der
Welt lobte Michael Stürmer das Buch. In der
New York Times hatte Brian Ladd bereits die englische Ausgabe durchaus positiv
aufgenommen: "Ein Monster von einem Buch", meint er, und sehr deutsch, weil "
lang,
ernst und fleißig". In einem Interview mit Claudius Seidl in der
FAS erklärt Watson, dass die Amerikaner zwar englisch sprechen, aber
deutsch denken: "Das Schlimmste, was man einem britischen Journalisten nachsagen könne, das ist, dass er langweilig sei. Das Schlimmste über einen amerikanischen Journalisten: dass er
unrecht habe."
Christoph Markschies, Hubert Wolf (Hrsg.)Erinnerungsorte des ChristentumsC. H. Beck Verlag 2010, 800 Seiten, 38,00 EUR
Der vom evangelischen Theologen Christoph Markschies und dem Kirchenhistoriker Hubert Wolf herausgegebene Band "Erinnerungsorte des
Christentums" orientiert sich an
Pierre Noras "lieux de memoire" (
mehr). Erinnerungsorte sind hier nicht nur geografische Orte, sondern identitätsstiftende Muster, Topoi der Christenheit. Dazu gehört der Berg
Sinai ebenso wie das "
Pfarrhaus" im allgemeinen. Sachkundig, anschaulich und sehr lesbar, lobt in der
SZ Michael Stallknecht dieses Buch. Ebenso in der
Zeit Robert Leicht. Der hätte gern Nachschub. Denn die hier versammelten Erinnerungsorte sind vor allem für die deutschen Christen von Bedeutung. Was aber ist mit
Tschenstochau oder Tabor?, fragt Leicht. Und wo bleiben die
Sündenorte wie "Juden" oder "ermordete Täufer zu Münster"? Ein zweiter Band muss her, schnell!
Bertrand M. PatenaudeTrotzkiDer verratene Revolutionär
Propyläen Verlag 2010, 432 Seiten, 24,95 EUR
Trotzki, hm. Schmort der nicht mit Hitler, Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot und Dschingis Khan im siebten Kreis der Hölle? Warum soll man das nun noch mal lesen? Weil es interessant ist, erklärt in der
FAZ der Historiker
Gerd Koenen, der sichtlich animiert aus der Lektüre der Trotzki-Biografie des Stanford-Historikers Bertrand M. Patenaude aufgetaucht ist: Das liest sich wie ein
Krimi - oder eine antike Tragödie, vor allem was die
letzten Jahre Trotzkis im Exil in Mexiko angeht. Die Einordnung Trotzkis in den Zusammenhang der kommunistischen Geschichte findet Koenen nicht so ganz gelungen, aber die Schilderung seiner Person, seiner Ermorderung und die Beschreibung von Stalins Einfluss auf Größen wie
Diego Rivera und
Frida Kahlo findet Koenen außerordentlich fesselnd. In der
Financial Times resümiert Paddy Docherty das Buch in ähnlichem Tonfall. In der
Literary Review sieht man Richard Overy förmlich auf Trotzkis Grab spucken. Und als weiterführende Lektüre sei noch hingewiesen auf
Christopher Hitchens 2004 in
Atlantic Monthly erschienene
Besprechung der dreiteiligen, bisher nicht ins Deutsche übersetzten Trotzki-Biografie von
Isaac Deutscher.