06.07.2010. Richard Price führt uns in jedes erdenkliche Milieu in New York. Christa Wolf leckt ihre Wunden in Los Angeles. Marie N'Diaye erzählt von drei starken Frauen. Domenico Losurdo repolitisiert Nietzsche. Alain Badiou verabschiedet sich von der Demokratie. Gerd Koenen erinnert daran, dass das schon mal keine gute Idee war. Und ein Hörbuch mit Platons "Phaidon" macht Schluss mit einer goldenen Schulregel. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren
Bücherbriefen, der Krimikolumne
"Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2010, den
Leseproben in
Vorgeblättert und in den
Büchern der Saison vom
Frühjahr 2010.
LiteraturRichard PriceCashRoman
S. Fischer Verlag 2010, 521 Seiten, 19,95 Euro
Richard Price hat an der amerikanischen Fernsehserie "The Wire" mitgeschrieben, die ein grandioses Panorama der heruntergewirtschafteten Stadt Baltimore zeichnete. Das empfahl ihn den Rezensenten auch als Krimiautor, von seinem New-York-Roman "Cash" erhofften sie sich das literarische, in die
Lower East Side versetzte Gegenstück zur Kultserie und wurden fast gar nicht enttäuscht. In der
FAZ begeistert sich Felicitas von Lovenberg für das "fünfhundertseitige Porträt eines entwurzelten Viertels in feinster Miniaturmalerei" und den "
Mut zur Trostlosigkeit", auch wenn sie klarstellte, dass Price hier keine Great American Novel vorgelegt hat. Ein "
toller,
intelligenter Schmöker", befindet Ijoma Mangold umstandslos in der
Zeit. Sylvia Staude schließt sich in der
FR den Lobeshymnen ihrer Kollegen an, die sich freudig mit den verschiedensten New Yorker Milieus herumschlug, mit
verzweifelten Gangster, desillusionierten Polizisten und kaputten Familien. Nur Andrian Kreye (
SZ) sieht den Roman in der deutschen Fassung verlieren, was er aber nicht der Übersetzung ankreidet, sondern linguistischen Unmöglichkeiten.
Christa WolfStadt der Engeloder The Overcoat of Dr. Freud
Suhrkamp Verlag 2010, 380 Seiten, 24,80 Euro
Am Ende waren es fast alles Verrisse. Respektvoll (oder zahnlos), angesichts des Gesamtwerks von Christa Wolf, aber doch Verrisse. Kurz nach den seinerzeit heftig diskutierten Enthüllungen über Christa Wolfs alles in allem unwichtige Stasi-Aktivitäten ging sie mit einem Stipendium der Getty-Stiftung nach
Los Angeles und präsentiert nun, fast zwanzig Jahre danach, einen Roman, der das Selbsterlebte nur dürftig zu fiktionalisieren scheint. In der
SZ fragt sich Lothar Müller, warum Christa Wolf einen Roman schreibt, wenn die Geschichte doch so
eindeutig autobiografisch ist. Für Arno Widmann (
FR) steckt in der Schwäche des Buchs - Distanzlosigkeit, Wehleidigkeit - seine Stärke: Ehrlichkeit. Jens Jessen konstatiert in der
Zeit immerhin literarische Virtuosität, mit der sich Christa Wolf eine Daseinsmöglichkeit in der ungeliebten neuen Zeit erschreibe. Die ersten 150 Seiten sind, so auch Richard Kämmerlings in der
FAZ, durchaus mühsam. Danach aber gewinne dieses Buch einer Krise sehr interessante Züge. In
Literaturen meinte Frauke Meyer-Gosau, die dem Buch durchaus freundlich gesinnt ist, es lese sich "über weiteste Strecken durchaus angenehm". Der einzige, der wirklich
gar kein gutes Haar an dem Buch gelassen hat,
war Marko Martin in der
Welt: "Medea in Korinth! Kassandra in Troja! Christa in LA!"
Warlam SchalamowKünstler der SchaufelErzählungen aus Kolyma, Band 3
Matthes und Seitz 2010, 605 Seiten, 29,90 Euro
Mit diesem Band wird die deutsche Ausgabe der Erzählungen Schalamows aus dem
Gulag fortgesetzt - eines der beeindruckendsten Werke der Literatur des 20. Jahrhunderts liegt nunmehr etwa zur Hälfte in einer schönen, von Gabriele Leupold präzise übersetzten und erläuterten Fassung vor. Wir haben jeden der Bände in unseren Bücherbriefen vorgestellt. Und Arno Widmann
schrieb im
Perlentaucher bereits 2003 über die französische Ausgabe der Erzählungen: "Schalamow bietet noch in der kleinsten Zelle seines Riesenwerkes die gesamte unverwechselbare DNA seiner Erzählkunst. In der Bärengeschichte zum Beispiel reagieren
zwei Katzen höchst unterschiedlich auf die
Erschießung eines Bären. Die eine verkriecht sich, als wolle sie mit der Gewalt nichts zu tun haben, die andere wirft sich auf den toten Riesen und leckt - wie triumphierend - sein Blut. Es ist immer beides möglich. Niemand ist dazu gezwungen, so zu reagieren, wie er reagiert." (
Aktualisierung vom 6. Juli, 16 h: Gabriele Leupold, die Übersetzerin, schickt uns eine kleine Korrektur. Es handelt sich nicht um zwei Katzen, sondern um ein Katzenjunges und einen Welpen.)
Marie N'DiayeDrei starke FrauenRoman
Suhrkamp Verlag 2010, 300 Seiten, 22,90 Euro
Seit drei Jahren lebt
Marie N'Diaye bereits in Berlin, im vorigen Jahr erhielt sie den
Prix Goncourt, doch erst mit ihrem jüngsten Roman scheint sie sich hierzulande durchzusetzen. Ein so makelloses und stilsicheres Buch wie "Drei starke Frauen" habe sie schon lange nicht gelesen, jubelte Iris Radisch in der
Zeit, dabei sei es mitunter "düster und
zum Gotterbarmen". N'Diaye erzählt von drei in Frankreich lebenden Frauen und ihrem Verhältnis zum
Senegal, von Exil, Verrat und Gewalt. In der
SZ pries Ina Hartwig N'Diayes "kristalline Sprache" und ernannte die Autorin zu einer der interessantesten und innovativsten literarischen Stimmen der Gegenwart. In der
FAZ schließt sich Felicitas von Lovenberg der Begeisterung allerdings nicht an, ihr sind die Männer allzu aggressiv und die Frauen zu würdevoll gezeichnet.
KrimiPatricia DunckerDer Komponist und seine RichterinRoman
Berlin Verlag 2010, 352 Seiten, 24 Euro
Nicht allzu oft, dafür aber sehr begeistert ist
Patricia Dunckers neuer Roman "Der Komponist und seine Richterin" besprochen worden. Eine
rationale Richterin muss sich bei ihren Ermittlungen zu einem mysteriösen Sektenselbstmord mit einem dämonischen Komponisten auseinandersetzen - Duncker gelingt hier eine großartige Balance aus "
Pathos und Parodie", freut sich Rezensent Christoph Schröder in der
SZ. Außerdem findet er, dass der Autorin durch ihre Mixtur aus Krimihandlung und literarischen Verweisen eine brillante Inszenierung aus "Religiosität, Spiritualität, mittelalterlicher Mystik und naturwissenschaftlichem Brimborium" gelungen sei - und das, obwohl dies häufig misslingen kann. In der
FR erkennt Silvia Staude hinter dem fesselnden Krimiplot auch einen Liebes- oder philosophischen Roman, der sie nach der Lektüre mit vielen existentiellen Fragen zurücklässt.
SachbuchDomenico LosurdoNietzsche, der aristokratische Rebell Intellektuelle Biografie und kritische Bilanz
Argument Verlag 2009, 1061 Seiten, 98,00 Euro
Losurdo, so scheint es, stellt
Nietzsche zurück vom Kopf auf die Füße: "In meinem Buch behaupte ich, dass man Nietzsche gegen seine unkritischen Apologeten verteidigen muss", sagt er im
Interview mit Reinhard Jellen von
Telepolis. Und: "Wir haben es mit einem Philosophen zu tun, der im ganzen Verlauf seiner Entwicklung unermüdlich wiederholt, die
Sklaverei sei die unerlässliche Grundlage der Kultur. Wie ist dieses Motiv zu interpretieren?" Kurt Flasch hat Losurdos monumentale Studie über Nietzsche in der
FAZ bereits 2003 im italienischen Original
besprochen - nun folgt die deutsche Ausgabe im Argument Verlag. Losurdo ist ein selbst zwar fast schon doktrinär denkender Kommunist, merkt Flasch an, aber das tut seiner Leistung keinen Abbruch. Losurdo
repolitisiert Nietzsche, bettet ihn ein in rassistische, auch antisemitische Diskurse des 129. Jahrhunderts, scheint in ihm durchaus auch wieder einen Vorläufer totalitärer Diskurse zu sehen - und seine Studie ist für Flasch fulminant, da Losurdo nicht als Parteigänger, sondern als intimster Kenner des 19. Jahrhunderts argumentiere. "Ein Standardwerk!", ruft auch Hans-Martin Lohmann nach Lektüre der Übersetzung in der
Zeit.
Alain BadiouIst Politik denkbar?Merve Verlag 2010, 166 Seiten, 15 Euro
Der französische Philosoph Alain Badiou, geboren 1937 in Rabat, ist auf seine alten Tage zum
Starphilosophen der französischen Linken aufgestiegen. Und auch hierzulande findet er zunehmend Gehör: Die Berliner
Kommunismus-Konferenz im Juni, in der Badiou neben Zizek und Antonio Negri auftraten, war ein großer Publikumserfolg. Und die Rezensenten? Erstaunlicherweise wurde das Buch bisher kaum besprochen. Christian Schlüter fand es in der
FR überaus anregend. Es enthält
zwei Vorlesungen, die Badiou 1984 in der Ecole Normale Superieure hielt. Anlass war ein Streik beim Autohersteller
Talbot nach der Ankündigung von 3.000 Entlassungen. Die Gewerkschaften CGT und CFDT hatten den Entlassungen zugestimmt, weil sie laut Schlüter offenbar vor allem
muslimische Arbeiter betrafen. Die Arbeiter machten jedoch - wenigstens zum Teil - nicht mit und streikten. Für Badiou zeigt sich an diesem Beispiel, dass es Gruppen gibt - in diesem Fall die muslimischen Arbeiter - für die sich weder Linke noch Rechte interessieren, sie sind, wie Schlüter Badiou zitiert "
intrinsisch unrepräsentierbar". Und darin offenbart sich für Badiou ein Fehler der Demokratie, den es zu beheben gilt: "Badious Projekt besteht darin, die Linke auf den Abschied von der Demokratie - unser letztes Tabu im Westen - vorzubereiten", resümiert Schlüter, der diesem Projekt einige Sympathie entgegenzubringen scheint. Welchen Platz die Arbeiter, die gegen ihre Gewerkschaften gehandelt haben, in Badious System einnehmen würden, erfährt man nicht, aber vielleicht steht es ja im Buch. Eike Gebhardt
rezensierte es für das
Deutschlandradio: "Wo gären Grundsatzalternativen, wo werden sie noch ausgebrütet?", fragt er dort mit Badiou und teilt auch Badious Antwort mit: in Kunst, Liebe, Wissenschaft und Politik.
Gerd KoenenWas war der Kommunismus?Vandenhoeck und Ruprecht Verlag 2010, 143 Seiten, 12,90 Euro
Was es mit dem Gespenst des Kommunismus auf sich hatte, als es noch als "
realer Sozialismus" herumspazierte, kann man in Gerd Koenens kleinem Einführungsband "Was war der Kommunismus?", den Arno Widmann ebenfalls in der
FR empfahl: Wiewohl kein Anhänger der Totalitarismustheorie, sieht der Autor doch den Nationalsozialismus und den Stalinismus enger miteinander verbunden als mit demokratischen Strukturen, referiert Widmann zustimmend. Für Rolf Hosfeld vom
Deutschlandradio hat Koenen hier "ein selten dichtes, gedankenreiches und pointiert geschriebenes Buch vorgelegt", das auch auf die Frage Antwort sucht, was aus dem Kommunismus ein, so Koenen, "
historisch transitorisches Phänomen" macht. Und Ulrich M. Schmid empfiehlt in der
NZZ das Buch neben
Michail Ryklins Band "Kommunismus als Religion": "Koenen denkt den Zusammenbruch des Kommunismus mit der Krise des globalisierten Kapitalismus zusammen, während Ryklin vor einer nationalen Renaissance der religiösen Grundlage des Kommunismus in Russland warnt."
Robert HarrisonGärtenEin Versuch über das Wesen der Menschen
Carl Hanser Verlag 2010, 336 Seiten, 24,90 Euro
Robert Harrison, in Izmir geboren, in Italien aufgewachsen und in Frankreich ausgebildet, lehrt Romanistik in Stanford. Bereits in seinem Buch "Die Herrschaft des Todes" dachte er darüber nach, ob und wie unser Umgang mit den Toten Zivilisation begründet. In seinem neuen Buch "Gärten" knüpft er an das Thema an und verfolgt die Ideengeschichte des Gartens bis zu ihren biblischen und antiken Anfängen. Denn im Garten zeigten sich nicht nur herrschaftliche
Exklusivität und Hochmut (wie im Falle Versailles), sondern auch das menschliche Grundbedürfnis der Sorge, des Hegens und Pflegens. In der
FAZ zeigte sich Friederike Reents von diesem "bemerkenswerten" Buch sehr beeindruckt. In der
NZZ führte Andrea Köhler ein sehr schönes und sehr lehrreiches
Gespräch mit Harrison über die conditio humana, die Triebfedern des Gartenbaus und die Vertreibung aus dem
paradiesischen Eden, die sich bei Harrison nicht als Fluch, sondern als
unerwarteter Segen erweist: "Wo es keine Sterblichkeit gibt, gibt es auch keine Geburt, keinen Neuanfang und keine Kreativität."
HörbücherMarcel Reich-Ranicki (Hrsg.)
Der Hörkanon 40 CDs
Random House 2010, 129 Euro
Vierzig CDs umfasst dieser Hör-Kanon, der doch eigentlich nur eine Auswahl aus der zehnbändigen Edition von
Marcel Reich-Ranickis deutschen Liebslingserzählungen enthält. Die Kritiker konnten trotzdem nicht genug bekommen. In der
FAZ begeisterte sich Felicitas von Lovenberg für diese "
Essenz der Essenz". Vollendet wurde der Hörgenuss für sie durch die bestechende Leistung von hochkarätigen Vorlesern und Vorleserinnen wie
Martina Gedeck oder
Gert Voss. Und in der
Zeit fühlte sich Rezensent Alexander Cammann in einen "
herrlichen Sog" gezogen und geriet beim Hören der gelungenen Auswahl ins Schwärmen über eine "längst vergangene Vorlesekultur".
PlatonPhaidonPhilosophischer Dialog. 1 CD
Quartino Verlag 2010, 14,95 Euro
Bereits 1986 haben die beiden Schauspieler
Wolf Redl und
Jochen Tovote Platons "Phaidon" in der etwas entschlackten Übersetzung Friedrich Schleiermachers eingelesen. Dass diese Fassung nun als Hörbuch erscheint, beglückt zumindest Lothar Müller in der
SZ. Der Clou dieser Lesung besteht darin, dass Redl und Tovote ihre Stimmen nicht auf verschiedenen Personen aufteilen, sondern auf
Ideen. So gerät Platons erzählter Dialog über den
Tod des Sokrates und die
Unsterblichkeit der Seele nicht nur ungleich dramatischer, freut sich Müller, sondern macht auch Schluss mit der goldenen Schulregel:
Sokrates hat immer Recht.