Bücherbrief

VERGISS ALLES!

08.07.2011. Nihad Siris beobachtet den Führerkult in Syrien. Kathrin Schmidt macht Sprachspiele. William Gibson sucht einen Schneider. Adaobi Tricia Nwaubani erforscht die "419er -Szene". Adam Mansberg erschreckt seine Kinder mit Samuel L. Jackson. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Juli.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Leseproben in Vorgeblättert, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Frühjahr 2011 und unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2011.

Literatur

Nihad Siris
Ali Hassans Intrige
Roman aus Syrien
Lenos Verlag 2008, 176 Seiten, 18,50 Euro



Dieser syrische Roman ist bereits 2008 erschienen, aber damals wurde er praktisch nicht beachtet. Nur Angela Schader hat 2009 in der NZZ eine Kurzkritik verfasst. Anlässlich der mutigen Proteste in Syrien hat ihn Susanne Schanda jetzt noch einmal für die NZZ entdeckt. Sie telefonierte mit dem Autor Nihad Siris und stellte daneben auch sein Buch vor. Siris wollte mit dem Roman das Verhältnis des Diktators zu den Massen beschreiben, wie der Autor ihr erklärte: Hier der Führer, der seine Untertanen als Kinder zu sehen wünscht, die er - zur Not auch vor sich selbst - beschützen muss. Dort das Volk, das gezwungenermaßen oft mitspielt. Schader gefiel 2009 sehr, wie Siris die Farce um den Führerkult beschrieb. Die Charaktere gefielen ihr weniger und das Ende fand sie geradezu kontraproduktiv. Dennoch: Es ist eins der wenigen aktuellen Bücher, die einen Einblick in das Leben der Syrer unter Assad gestatten.

Kathrin Schmidt
Finito. Schwamm drüber
Erzählungen
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2011, 208 Seiten, 17,95 Euro



Kathrin Schmidts Erzählungen haben in den Rezensenten höchst unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. In der SZ freute sich Lothar Müller über die Sprachspiele der Autorin, ihren trockenen Ton und das Exzentrische, das immer wieder in den Alltag einbricht. Nicht unbedingt mit Vergnügen, aber doch mit einiger Bewunderung hält Hans-Jürgen Schings in der FR fest, wie Schmit mit "von Bitterkeit geschärfter Sprachkraft" die ostdeutsche Vergangenheit in der gesamtdeutschen Gegenwart aufspürt. In der Zeit krümmte sich Silke Burmester bei manchen Szenen buchstäblich: "schlimmer als RTL II", was die Protagonisten, zumeist Frauen, da veranstalten. Aber auch sie zollt der sprachlichen Brillanz der Kathrin Schmidt Tribut.

William Gibson
Systemneustart
Roman
Tropen Verlag 2011, 490 Seiten, 24,90 Euro



Noch zwanzig Jahre und William Gibson sieht aus wie Samuel Beckett. Beachten Sie Becketts Jackett. Solide Ware. Und genau darum geht es im letzten Band von Gibsons "Bigend"-Trilogie. Gibson führt uns in die Welt der "Geheimmarken", genau das Gegenteil von Labels wie Gucci oder Dior. Plötzlich gibt es wieder eine kleine, feine Bewegung, die Kleidung nach ihrem Schnitt und der Qualität ihres Stoffs und ihrer Verarbeitung bewertet. Versteht sich, dass der belgische Coolhunter (auch nur ein anderes Wort für Trend Scout) Hubertus Bigend scharf darauf ist zu erfahren, wer sich hinter der prominentesten dieser Geheimmarken verbirgt. Seine Spione, darunter "die ehemalige Schlagzeugerin Heidi Hyde (die über hundertprozentige Treffsicherheit mit Dingen wie Dartspfeilen verfügt)", so Doris Kraus in der Presse, geraten auf der Suche mit Waffenhändlern aneinander, die die US-Army ausstatten. Militärkleidung ist, wie Ulrich Gutmair in einem sehr schönen Text in der taz beschreit, die perfekte Geheimmarke: kein Label, kein Schischi, sondern Verarbeitung, die sich in einem höchst anspruchsvollen Alltag bewähren muss. Der 1948 geborene Gibson, der mit "Neuromancer" als Science-Fiction-Autor berühmt wurde, bedient das Genre eigentlich gar nicht mehr so recht, meint Peter Körte in der FAS. Statt dessen blickt er in eine Zukunft, die so nah ist, dass sie schon Gegenwart sein könnte. Und das ist natürlich viel faszinierender als alles was im 22. Jahrhundert stattfinden könnte. (Hier Interwiews mit Gibson in Wired und dem Wall Street Journal, hier die Besprechung in der NYT)

Erich Mühsam
Tagebücher, Band 1. 1910-1911
Verbrecher Verlag 2011, 352 Seiten, 28 Euro



Der kleine Verbrecher Verlag stemmt gerade eine verlegerische Großtat - und geht dabei auch noch innovativ mit dem Internet um. Das passt sehr gut, weil es um Erich Mühsam geht. Mühsam, 1878 in Berlin geboren, war Dichter, politischer Journalist und ein kämpferischer Anarchist, der laut Wikipedia schon mit 15 Jahren wegen "sozialdemokratischer Umtriebe" von der Schule verwiesen wurde. Sein Leben endete 1934 im KZ Oranienburg, wo er von der SS ermordet wurde. Die ersten Rezensionen des ersten Bandes seines 15-bändigen Tagebuchs haben geradezu enthusiastische Reaktionen hervorgerufen. Denn Mühsam hatte bei aller Streitlust einen gutgelaunten Grundton, der Griesgrämigkeit gar nicht erst aufkommen lässt, so Volker Hummel in der FR. Der erste Band der Tagebücher führt uns in die Münchner Boheme 1911. Mühsam, beseelt von einer "undogmatischen Freiheitsliebe", so Jens Bisky in der SZ, teilt nach allen Seiten aus (etwa in Richtung Hermann Hesse oder Else Lasker-Schüler) und widmet sich den Hauptproblemen des modernen Menschen: Erotik und Geld. Der Verbrecher Verlag hat den kompletten Band, mit informativen Links versehen, auch ins Netz gestellt (auf "Heft 1" klicken).

Adaobi Tricia Nwaubani
Die meerblauen Schuhe meines Onkels Cash Daddy
Roman
dtv 2011, 495 Seiten, 14,90 Euro



Schon mal einen Mail aus Nigeria bekommen, in der eine Witwe bittet, 185 Millionen Dollar auf Ihrem Konto parken zu dürfen? Nun, der Verfasser gehört zur "419er -Szene", so genannt nach dem Betrugsparagraphen im nigerianischen Strafgesetzbuch. Der junge Kingsley, vor kurzem noch ein ehrlicher Universitätsabsolvent ohne Aussicht auf einen Job, gehört jetzt dazu. Und warum auch nicht? Schließlich ist sein Onkel Boniface mit diesen Mails so reich geworden, dass man ihn "Cash Daddy" nennt. Der Roman gibt einen amüsanten Einblick in diese Szene, verspricht Marie-Sophie Adeoso in der FR. Daneben lerne man eine Menge über die nigerianische Wirklichkeit, in der die einen alles, die anderen nichts haben. Auch Birgit Koß fand den Roman im Deutschlandradio aufklärend und "ausgesprochen unterhaltsam" zugleich. Hier einebei der Berliner Literaturkritik.

Antoine Volodine
Mevlidos Träume
Roman
Suhrkamp Verlag 2011, 446 Seiten, 26,90 Euro



"Es gibt nur noch die Globalisierung und die Normalisierung des Schreckens. Das Konfuse, Rätselhafte ist die Norm der Endzeitwelt", in der Antoine Volodines Roman spielt, erklärt Peter Urban Halle im Deutschlandradio. Irgendwann im 22. Jahrhundert, in einer nicht näher bezeichneten Diktatur lebt der Polizist Mevlido. Leben ist vielleicht das falsche Wort - er existiert in einem Zwischenreich von Leben und Tod. Um ein Attentat aufzuklären, wird er in ein weiteres Zwischenreich geschickt, das er nur durch eine qualvolle Reinkarnation erreicht. Angelo Algieri fand den Roman im sf-Magazin zwar ziemlich überfrachtet, aber "trotz vieler schwerverdaulicher Themen, gibt es ironische und unterhaltsame Elemente in diesem Roman. So zum Beispiel die Bolschewikinnen, die durch die Straßen mit sinnlosen Parolen skandieren, etwa 'VERGISS NICHT DEIN DUMMES GESICHT, VERGISS ALLES!'" Für den FAZ-Rezensenten Alexander Müller ist der Roman ein eindrucksvoller Abgesang auf die Verwerfungen des letzten Jahrhunderts.


Adam Mansbach
Verdammte Scheiße, schlaf ein!
DuMont Verlag 2011, 32 Seiten, 9,99 Euro



In Deutschland bisher nur einmal (jedenfalls in der schmalen Auswahl der Qualitätszeitungen, die der Perlentaucher auswertet), und überdies recht humorlos besprochen von Sandra Kegel in der FAZ. Ob dieses Buch als Einschlafbuch für schlafunwillige Kinder wirklich taugt - sie bezweifelt es. Aber lachen kann man! Kegel verliert nicht mal ein Wort über die hinreißend heuchlerischen Illustrationen. Das Buch war übrigens zuerst ein riesiger Interneterfolg. Es stand auf Platz 2 der Amazon Bestsellerliste, bevor es nur erschienen war, erzählt Macy Halford im New Yorker. Nur weil Mansbach es in seinem Blog angekündigt hatte. Er muss einen Nerv getroffen haben. Hier kann man das Buch sehen und hören, gelesen von Samuel L. Jackson:



Und hier liest Werner Herzog.


Sachbuch

Frank Nordhausen, Thomas Schmid (Hrsg.)
Die arabische Revolution
Demokratischer Aufbruch von Tunesien bis zum Golf
Ch. Links Verlag 2011, 216 Seiten, 16,90 Euro



Frank Nordhausen und Thomas Schmid arbeiten als politische Reporter in der Berliner Zeitung und haben eine Reihe kompetenter Journalistenkollegen gebeten, Einzelartikel über all jene arabischen Länder zu schreiben, in denen es gerade brodelt - und das sind gar nicht so wenige: vom Jemen bis nach Marokko. Der Band will einen Überblick über die Ereignisse und erste Einschätzungen geben. Beate Seel hat ihn in der taz als Einführung ins Thema empfohlen und war besonders frappiert von den Unterschieden und Spezifika, die die Länder zu Einzelfällen in einer gemeinsamen Revolte machen.

Christoph Ruf
Was ist links?
Reportagen aus einem politischen Milieu
C. H. Beck Verlag 2011, 252 Seiten, 12,95 Euro



"'Links sind alle irgendwie immer noch, was das aber heute sein soll, weiß keiner mehr so recht", heißt es im Klappentext zur Motivierung des Autors, der nach einem Ehemaligentreffen auf seiner Schule zur Feldforschung in jenem Milieu ansetzte, das sich als "links" betrachtet. Gesprochen hat Ruf laut Dietmar Süss in der SZ mit sozialdemokratischen Bürgermeistern, Funktionären und Mitgliedern an der Basis, mit alten Linken und jüngeren Parlamentariern in Ost und West, Süd und Nord . Aber ist er einer Antwort auf seiner Frage näher gekommen? Ist Linkssein mehr als ein Milieu, das sich seiner Homogenität und Festanstellung auf der moralisch richtigen Seite versichert? Aus Süss' Kritik geht es nicht hervor. Dennoch scheint das Buch lesenswert. Süss lobt die Fairness des Autors und seinen Respekt vor jenen, die sich politisch engagieren. Ähnlich sieht es Julia Lauer in der FAZ, die vor allem zu schätzen weiß, dass Ruf nicht nur mit Bonzen gesprochen hat.

Friedrich Wilhelm Graf
Kirchendämmerung
Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen
C. H. Beck Verlag 2011, 192 Seiten, 10,95 Euro



Was läuft schief in den Kirchen, deren Mahnungen in der Gesellschaft zwar mit frommem Augenaufschlag aufgenommen werden, aber deren Einfluss durch die Kirchenaustritte immer mehr schwindet? Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf geht ziemlich scharf mit den Institutionen ins Gericht und analysiert insgesamt sieben Kardinal-Untugenden. Dazu gehören etwa "die Demokratievergessenheit politischer Interventionen, die weltfremde Selbstherrlichkeit der Würdenträger". Das Buch wurde mit großen Interesse aufgenommen, obwohl es eigentlich nur einige Feuilletonartikel Grafs der letzten Jahre versammelt. Ein beinahe komplettes Bild, eine vorbildliche Analyse liefert Graf dabei vor allem von den protestantischen Kirchen im Land., schreibt Helmut Löhr in der FAZ. Johann Hinrich Claussen, selbst ein Kirchenmann, liest das Werk in der SZ als Streitschrift für eine "postautoritäre, elastische" Volkskirche, meint aber, das die Polemik mit Graf durchgeht und dass die Kirche Grafs Wunschbild näher sei als dieser ahnt.

Cornelia Vismann
Medien der Rechtsprechung
S. Fischer Verlag 2011, 464 Seiten, 22,95 Euro



Die Medientheoretikerin Cornelia Vismann ist vor einem Jahr gestorben. Ihre "Medien der Rechtsprechung", sicher keine leichte Lektüre, werden von den Rezensenten mit höchstem Respekt aufgenommen. Glaubt man Andreas Bernard in der SZ, dann lernt man aus Vismanns Buch eine Menge über das Funktionieren des Rechts selbst: Im Zentrum der Studie sieht er nicht Fragen nach Wahrheit, Schuld und Strafe, sondern die "Medien der Rechtsprechung" stehen: die Rahmenbedingungen der Rechtssprechung, ihre Mündlichkeit, ihre theatrale Anordnung, die Architekturen des Gerichts. Schon die Analyse der Anordnung des Mobiliars im Gericht, in der sich eine Hierarchie ausdrückt, erscheint ihm überaus instruktiv. Als "atemberaubendes Glanzstück" des Buchs würdigt Bernard Vismanns Analyse zum Einsatz der Medien bei den Nürnberger Prozessen. In der taz wurde das Buch von der Verfassungsrichterin Susanne Baer ebenfalls mit höchstem Lob bedacht.

Tanizaki Jun'ichiro
Liebe und Sinnlichkeit
Manesse Verlag 2011, 96 Seiten, 14,95 Euro



Sein "Lob des Schattens" über die japanische Ästhetik im Gegensatz zur westlichen gehört zu den hinreißendsten ästhetischen Texten des 20. Jahrhunderts - auch in der koketten Gewaltsamkeit, mit der er auf dem Unterschied zwischen den beiden Kulturen besteht. Nun bringt Manesse einen weiteren seiner Essays heraus, den Tanizaki 1930 veröffentlichte: Und hier findet sich laut Christopher Schmidt in der SZ wieder eine (ohne die Herausforderung durch die westliche Kultur nicht denkbare) Reflexion über das spezifisch Japanische in den Begriffen von Liebe und Sinnlichkeit. Eine Menge hat Schmidt erfahren über die Zusammenhänge von kriegerischen Idealen, Klima, Wohnkultur und Sexualität in Japan. Besonders interessant scheinen ihm die Ausführungen des Autors über die Bedeutung des Taktilen in der Sinnlichkeit. Vielleicht interessant in diesem Zusammenhang Philipp Meiers wunderschöner Essay über japanische Keramik, der vor einiger Zeit in der Samstagsbeilage der NZZ erschien.