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Bücherschau des Tages vom 31.08.2016


Ein Opfer des Weltgeists


Notizen zu den Buchkritiken des Tages aus FAZ, FR, NZZ, SZ, taz, Zeit und Welt. Täglich ab 14 Uhr.
31.08.2016. Als wahres Leseereignis preist die SZ Hugo Balls Roman über Flamettis Variete. Die FAZ erlebt mit Emmeline Pankhursts Erinnerungen "Suffragette", wie die Frauenbewegung militant wurde. Schön unbehaglich wird ihr mit Susanne Neuffers Erzählungen "In diesem Jahr der letzte Gast". Die NZZ reist mit Martin Pollack Essays "Topografie der Erinnerung" in die Vergangenheit der Mittelosteuropas. Die taz erlebt mit Thomas Melles "Die Welt im Rücken" den Wahn in höchster Konzentration.

Frankfurter Allgemeine Zeitung

In diesem Jahr der letzte Gast.
Erzählungen
Cover: In diesem Jahr der letzte GastMaro Verlag, Augsburg 2016, ISBN 9783875124743, Kartoniert, 168 Seiten, 18,00 EUR

Mit Illustrationen von Yvonne Kuschel. Susanne Neuffer ist eine Künstlerin der Kurzgeschichte. In wenigen Worten erschafft sie eine Welt. Sie erzählt in dieser Sammlung von gewöhnlichen und sichtlich außergewöhnlichen Alltagssituationen. Ihre Figuren lässt sie aber nicht zu weit abrutschen, auch wenn sie ihnen buchstäblich schon mal den Boden unter den Füßen wegzieht. Die Schauplätze und Stimmungen der Erzählungen sind vielfältig: Neuffer, eine hervorragende Menschenbeobachterin, schildert schräge, tragikomische und tapfere Situationen in präziser und geistreicher Sprache. So unterschiedlich Susanne Neuffers Protagonisten sind, so sind sie alle versucht, durch ihren unsicher gewordenen Alltag zu kommen. Im Mittelpunkt der Geschichten stehen unter anderem illusionslose und vernaschte Lebensmittelretter, die im Auftrag der "Königin der effektiven Barmherzigkeit" auf Schatzsuche sind, ein Gast, der nicht gehen will, eine Orientalistin, die ihre Meinung auf einem Psychologenkongress kundtut und dabei wenigstens satt wird, ein Eifersuchtsdrama im Altersheim, Mordgedanken am Ende einer Ehe und eine Auferstehung im Krankenhaus.

Suffragette.
Die Geschichte meines Lebens
Cover: SuffragetteSteidl Verlag, Göttingen 2016, ISBN 9783958290501, Gebunden, 344 Seiten, 24,00 EUR

Aus dem Englischen von Agnes S. Fabian and Hellmut Roemer. Dies ist die Geschichte eines behüteten Mädchens, das unbequeme Fragen stellt, die Geschichte einer mutigen, tapferen Frau, die früh verwitwet ihre fünf Kinder allein durchbringt. Es ist die Geschichte von Emmeline Pankhurst (1858-1928), die sich so gründlich über die Verhältnisse in ihrem Land empörte, dass sie zur bekanntesten und radikalsten der "Suffragetten" wurde. Diese Frauen kämpften vor dem Ersten Weltkrieg für ihr Wahlrecht und versetzten damit nicht nur die englischen Männer in Angst und Schrecken. 1903 gründete Pankhurst die radikal bürgerliche Woman's Social and Political Union (WSPU) und schlug von da an in der bisher so friedlichen wie erfolglosen Frauenbewegung neue Töne an.

Abenteuer Archäologie.
Eine Reise durch die Menschheitsgeschichte
Cover: Abenteuer ArchäologieC.H. Beck Verlag, München 2016, ISBN 9783406696398, Gebunden, 255 Seiten, 19,95 EUR

Mit 71 farbigen Abbildungen und Karten. Auf den Traumpfaden uralter Kulturen führt der Prähistoriker Hermann Parzinger durch Millionen Jahre Menschheitsgeschichte bis in die Gegenwart - und macht uns gleichzeitig mit der Arbeit der Archäologen vertraut. In diesem mit zahlreichen farbigen Abbildungen und Karten ausgestatteten Band erläutert Hermann Parzinger an vielen Beispielen, wie Archäologen mit immer weiter verfeinerten Methoden - etwa modernen Gen-Untersuchungen - helfen, wichtige Weg- und Wendemarken in der Entwicklung des Menschen zu erkennen und besser zu verstehen. Er führt uns auf den Spuren des Homo sapiens von Afrika aus durch alle Kontinente, Zeiten und Kulturen - vorbei an den Feuern der Eiszeitjäger und Höhlenmaler, durch die ältesten Tempelbezirke und Städte der Menschheit, zu den Pyramiden der Ägypter und den Palästen der Mykener und weiter noch durch das Imperium Romanum, das Karolingerreich und die Städte des Mittelalters bis in die Neue Welt und schließlich auf die Schlachtfelder des 20. Jahrhunderts und zu den Raubgrabungen unserer Tage im Irak.

Frankfurter Rundschau

Meine geniale Freundin.
Roman
Cover: Meine geniale FreundinSuhrkamp Verlag, Berlin 2016, ISBN 9783518425534, Gebunden, 422 Seiten, 22,00 EUR

Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Sie könnten unterschiedlicher kaum sein und sind doch unzertrennlich, Lila und Elena, schon als junge Mädchen beste Freundinnen. Und sie werden es ihr ganzes Leben lang bleiben, über sechs Jahrzehnte hinweg, bis die eine spurlos verschwindet und die andere auf alles Gemeinsame zurückblickt, um hinter das Rätsel dieses Verschwindens zu kommen. Im Neapel der fünfziger Jahre wachsen sie auf, in einem armen, überbordenden, volkstümlichen Viertel, derbes Fluchen auf den Straßen, Familien, die sich seit Generationen befehden, das Silvesterfeuerwerk artet in eine Schießerei aus. Hier gehen sie in die Schule, die unangepasste, draufgängerische Schustertochter Lila und die schüchterne, beflissene Elena, Tochter eines Pförtners, beide darum wetteifernd, besser zu sein als die andere. Bis Lilas Vater seine noch junge Tochter zwingt, dauerhaft in der Schusterei mitzuarbeiten, und Elena mit dem bohrenden Verdacht zurückbleibt, eine Gelegenheit zu nutzen, die eigentlich ihrer Freundin zugestanden hätte. Ihre Wege trennen sich, die eine geht fort und studiert und wird Schriftstellerin, die andere wird Neapel nie verlassen, und trotzdem bleiben Elena und Lila sich nahe, sie begleiten einander durch erste Liebesaffären, Ehen, die Erfahrung von Mutterschaft, durch Jahre der Arbeit und Episoden politischer Bewusstwerdung, zwei eigensinnige, unnachgiebige Frauen, die sich nicht zuletzt gegen die Zumutungen einer brutalen, von Männern beherrschten Welt behaupten müssen.

Neue Zürcher Zeitung

Walter de Gruyter.
Ein Wissenschaftsverlag im Nationalsozialismus
Cover: Walter de GruyterMohr Siebeck Verlag, Tübingen 2016, ISBN 9783161543937, Gebunden, 321 Seiten, 59,00 EUR

Der Wissenschaftsverlag Walter de Gruyter agierte während der NS-Herrschaft überaus erfolgreich. Angelika Königseder zeigt, wie er unter der Führung von Herbert Cram die ideologische Neuausrichtung von Staat und Gesellschaft akzeptierte, daran partizipierte und erheblich davon profitierte. Der deutschnational gesinnte Herbert Cram war kein Nationalsozialist, das hinderte ihn aber nicht daran, sich als Verleger mit den neuen Machthabern zu arrangieren. Der Verlag bemühte sich einerseits darum, die Qualitätsstandards eines wissenschaftlichen Universalverlages aufrecht zu erhalten, suchte aber zugleich die Nähe zu staatlichen Institutionen und dort angesehenen Wissenschaftlern. Die Geschäftspolitik des Verlages Walter de Gruyter unterschied sich damit nicht von der vieler anderer mittelständischer Unternehmen im nationalsozialistischen Deutschland.

Topografie der Erinnerung.
Cover: Topografie der ErinnerungResidenz Verlag, Salzburg 2016, ISBN 9783701716487, Gebunden, 200 Seiten, 21,90 EUR

Mit zahlreichen Abbildungen. Die wichtigsten Reden und Aufsätze des Essayisten Martin Pollack erstmals in einem Band: Sie widmen sich so unterschiedlichen Themen wie dem Massaker von Rechnitz in den letzten Kriegswochen, den Wiener "Reibpartien", bei denen Juden unter dem Beifall der Bevölkerung die Gehsteige schrubben mussten, dem Mythos Galizien, der polnischen und ukrainischen Nachkriegsgeschichte oder auch der Verstrickung seiner eigenen Familie in den Nationalsozialismus. Immer ist Pollacks Blick scharf und kritisch, immer richtet er sich gegen das bequeme Vergessen. Und immer stellt er die zentrale Frage der Geschichtspolitik: Wie können und müssen wir heute mit dieser Erinnerung umgehen?

Süddeutsche Zeitung

Flametti.
oder Vom Dandysmus der Armen
Cover: FlamettiNimbus Verlag, Wädenswil 2016, ISBN 9783038500223, Gebunden, 224 Seiten, 28,00 EUR

Hugo Balls Roman über Flamettis Variété-Ensemble: mit Ausbrecherkönigen, Feuerschluckern, den letzten Indianern vom Stamme der Delawaren, Tiroler Jodlern und weiterem pittoreskem Personal: der üppigen Mutter Dudlinger, dem Krematoriumsfritze und seiner Freundin Madame Dada.

Widerfahrnis.
Eine Novelle
Cover: WiderfahrnisFrankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2016, ISBN 9783627002282, Gebunden, 224 Seiten, 21,00 EUR

Reither, bis vor kurzem Kleinverleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist …  "Aber wo wären wir ohne etwas Selbstüberschätzung", sagt der Protagonist Reither, um sich Mut zu machen für den ersten Kuss mit Leonie Palm, "jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben."

Als unser Deutsch erfunden wurde.
Reise in die Lutherzeit
Cover: Als unser Deutsch erfunden wurdeGaliani Verlag Berlin, Berlin 2016, ISBN 9783869711263, Gebunden, 496 Seiten, 24,99 EUR

Martin Luther lag erst ein gutes Jahr in der Wittenberger Schlosskirche im Sarg, als im Frühling 1547 von den Türmen seiner alten Predigtkirche, der Stadtkirche St. Marien, die Aufbauten von den Türmen genommen wurden. Auf die freigemachten Plattformen sollten Kanonen gehievt werden, mit denen man die Landsknechte Karls V. vom Sturm auf die Stadt abhalten wollte. Letztendlich wurde die Stadt friedlich übergeben; Wittenberg wurde nicht geplündert. Luthers Leichnam wurde nicht aus dem Grab geholt und verbrannt, um noch posthum die Reichsacht an ihm zu vollstrecken - obwohl es Stimmen gab, die dies forderten. Die Türme bekamen neue Spitzhelme - und erst ein halbes Jahrtausend später (bei Restaurierungsarbeiten im Jahr 1910) fand man eine von Philipp Melanchthon handschriftlich verfasste Chronik der Zeit - einer Zeit, die bewegter, aber (für Deutschland) auch zukunftsformender kaum hätte sein können. Bruno Preisendörfer schaut Luther und vielen seiner Zeitgenossen über die Schulter, wir erleben ihr öffentliches Wirken, aber auch ihren Alltag.

Als unser Deutsch erfunden wurde.
Reise in die Lutherzeit
Cover: Als unser Deutsch erfunden wurdeGaliani Verlag Berlin, Berlin 2016, ISBN 9783869711263, Gebunden, 496 Seiten, 24,99 EUR

Martin Luther lag erst ein gutes Jahr in der Wittenberger Schlosskirche im Sarg, als im Frühling 1547 von den Türmen seiner alten Predigtkirche, der Stadtkirche St. Marien, die Aufbauten von den Türmen genommen wurden. Auf die freigemachten Plattformen sollten Kanonen gehievt werden, mit denen man die Landsknechte Karls V. vom Sturm auf die Stadt abhalten wollte. Letztendlich wurde die Stadt friedlich übergeben; Wittenberg wurde nicht geplündert. Luthers Leichnam wurde nicht aus dem Grab geholt und verbrannt, um noch posthum die Reichsacht an ihm zu vollstrecken - obwohl es Stimmen gab, die dies forderten. Die Türme bekamen neue Spitzhelme - und erst ein halbes Jahrtausend später (bei Restaurierungsarbeiten im Jahr 1910) fand man eine von Philipp Melanchthon handschriftlich verfasste Chronik der Zeit - einer Zeit, die bewegter, aber (für Deutschland) auch zukunftsformender kaum hätte sein können. Bruno Preisendörfer schaut Luther und vielen seiner Zeitgenossen über die Schulter, wir erleben ihr öffentliches Wirken, aber auch ihren Alltag.

Die Tageszeitung

Die Welt im Rücken.
Cover: Die Welt im RückenRowohlt Berlin Verlag, Berlin 2016, ISBN 9783871341700, Gebunden, 352 Seiten, 19,95 EUR

"Wenn Sie bipolar sind, hat Ihr Leben keine Kontinuität mehr. Die Krankheit hat Ihre Vergangenheit zerschossen, und in noch stärkerem Maße bedroht sie Ihre Zukunft. Mit jeder manischen Episode wird Ihr Leben, wie Sie es kannten, weiter verunmöglicht. Die Person, die Sie zu sein und kennen glaubten, besitzt kein festes Fundament mehr. Sie können sich Ihrer selbst nicht mehr sicher sein. Und Sie wissen nicht mehr, wer Sie waren. Was sonst vielleicht als Gedanke kurz aufleuchtet, um sofort verworfen zu werden, wird im manischen Kurzschluss zur Tat. Jeder Mensch birgt wohl einen Abgrund in sich, in welchen er bisweilen einen Blick gewährt; eine Manie aber ist eine ganze Tour durch diesen Abgrund, und was Sie jahrelang von sich wussten, wird innerhalb kürzester Zeit ungültig. Sie fangen nicht bei null an, nein, Sie rutschen ins Minus, und nichts mehr ist mit Ihnen auf verlässliche Weise verbunden." Thomas Melle leidet seit vielen Jahren an der manisch-depressiven Erkrankung, auch bipolare Störung genannt. Nun erzählt er davon, erzählt von persönlichen Dramen und langsamer Besserung - und gibt einen außergewöhnlichen Einblick in das, was in einem Erkrankten so vorgeht.

Die Welt

Heute leider keine Kritiken!

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