Dokumentation

Vorwürfe wie in Zeiten des Kalten Krieges

Offener Brief der 65 Chinawissenschaftler, Publizisten und Politiker
13.10.2008. In einem Offenen Brief an den Bundestag und die Deutsche Welle protestieren 65 Chinawissenschaftler, Publizisten und Politiker gegen Forderungen, die China-Berichterstattung der Deutschen Welle unter Aufsicht zu stellen: "Das angestrebte Ziel ist offenkundig die Unterbindung jeder um Differenzierung bemühten öffentlichen Kommunikation über die Entwicklung Chinas". Wir dokumentieren den Brief.
In der Deutschen Welle ist vor kurzem eine Redakteurin der chinesischsprachigen Radioredaktion infolge ihrer vermeintlich einseitigen Beurteilung des heutigen China ihrer Leitungsfunktion enthoben worden. Die genannte Redakteurin wurde von dieser Funktion nicht etwa wegen nachgewiesener Verfehlungen in ihrer redaktionellen Arbeit entbunden. Vielmehr wurde sie abgestraft, weil sie unter anderem in öffentlichen Diskussionsrunden die Einschätzung eines der führenden deutschen Chinaberichterstatters, des Pekinger Korrespondenten der Zeit, wiedergegeben hatte: Dass die Überwindung der Armut für 400 Mio. Chinesen in den letzten 30 Jahren eine der größten Menschenrechtsverbesserungen der jüngeren Zeit sei. Kein Zweifel, darüber kann man streiten. Aber man muss sich darüber streiten können und dürfen, und selbstverständlich muss man solche Aussagen als Journalist zitieren dürfen.

Ein "Autorenkreis der Bundesrepublik" hat in einem Schreiben an den Bundestag der Chinaredaktion der Deutschen Welle Werbung für den Parteistaat in China vorgeworfen. Der Autorenkreis spricht von einem "Re-Import diktatorischer Propaganda" und fordert eine "Mitarbeiterprüfung für alle Redaktionen, die über und in totalitäre Länder einschließlich Russlands berichten"; darüber hinaus die Einsetzung eines "unabhängigen, diktaturimmunen Beobachters", der die Sendungen kontrolliert; und schließlich die nachträgliche Prüfung der Berichterstattung der letzten fünf Jahre und eine nochmalige Stasiüberprüfung der deutschen Mitarbeiter der Deutschen Welle.

Parallel dazu haben einige chinesische Dissidenten, die Aktivisten der religiös-politischen Sekte Falun Gong sind oder mit dieser in Verbindung stehen, ebenfalls an den Bundestag geschrieben und der Deutschen Welle vorgeworfen "für die chinesische Regierung ein befreundetes Medium" zu sein. Tatsächlich waren die chinesischen Online-Seiten des Senders in China in den letzten Jahren bis kurz vor der Olympiade ununterbrochen gesperrt. Falun Gong-Propagandisten identifizieren zugleich die vermeintlichen Wortführer der "roten Infiltration in Deutschland": Helmut Schmidt und eine Reihe führender deutscher Chinawissenschaftler, die unter anderem auch von der Deutschen Welle mehrfach interviewt wurden und sich in den letzten Jahren um ein realitätsgerechtes Chinabild bemühten (vgl. dazu den Internetartikel " Die rote Welle in Deutschland").

Diese Auseinandersetzung ist Teil des Disputes über die Frage, wie man die derzeitige Entwicklung und den Aufstieg Chinas beurteilen soll. Ist China ein Schurkenstaat, der zunehmend zu einer Bedrohung nach innen und außen wird oder aber ein Land, das einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterliegt und sich dabei zunehmend als ein zuverlässiger Kooperationspartner in internationalen Fragen erweist? Verschiedene und zum Teil widersprüchliche Bilder charakterisieren diesen Entwicklungsprozess: Es gibt Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Machtmissbrauch, und es gibt zugleich einen Wandel, der die Strukturen des Systems verändert und der Mehrheit der Menschen signifikante Verbesserungen bringt. Solche widersprüchlichen Entwicklungen verlangen nach einem differenzierten Urteil. Eine solche Differenzierung gab es jedoch in großen Teilen der medialen Berichterstattung in Deutschland vor und während der Olympischen Spiele nicht. Die Deutsche Welle versuchte hier gegenzusteuern.

Die "Offenen Briefe" an den Bundestag rufen zu Ausgrenzung und Zensur auf. Es werden Vorwürfe wie in Zeiten des Kalten Krieges vorgetragen ("rote Infiltration"). Es sollen diejenigen Journalisten, Wissenschaftler und Politiker diskreditiert und eingeschüchtert werden, die in sorgfältig recherchierten Berichten und Analysen auf die vielfältigen und widersprüchlichen Facetten der Entwicklung Chinas hinweisen wollen und das Land eben nicht schlicht als "Schurkenstaat" betrachten. Das angestrebte Ziel ist offenkundig die Unterbindung jeder um Differenzierung bemühten öffentlichen Kommunikation über die Entwicklung Chinas in Journalismus und Wissenschaft und die Verpflichtung aller öffentlichen Akteure dieses Bereichs auf eine pauschale negative Berichterstattung über China.

Wir nehmen die oben genannten Vorgänge zum Anlass, um alle Verantwortlichen in Publizistik, Politik und Wissenschaft auf diese beunruhigende Entwicklung und ihre Hintergründe aufmerksam zu machen und für die Wahrung der Grundsätze journalistischer und wissenschaftlicher Professionalität, Eigenverantwortung und Objektivität ohne jede Einschränkung einzutreten. Insbesondere fordern wir sie auf, sich offensiv und entschieden vor die in der laufenden Kampagne zu Unrecht angegriffenen Personen zu stellen.


Erstunterzeichner am 09.10.2008

Prof. Björn Alpermann, Universität Würzburg, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas

Katrin Altmeyer, Leiterin China Büro der Heinrich Böll Stiftung, Peking

Dr. Hans-Peter Bartels, MdB

Prof. Wolfgang Behr, Universität Zürich, Ostasiatisches Seminar

Georg Blume, Autor und Journalist von "Die Zeit" und "taz", Peking

Prof. em. Chiao Wei, Universität Trier, Sinologie

Prof. Wolfgang Däubler, Universität Bremen, Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht

Prof. Herta Däubler-Gmelin, MdB, Bundesministerin der Justiz a.D.

Johnny Erling, Autor und Journalist, Peking

Dr. Klaus Fritsche, Geschäftsführer Asienstiftung Essen

Susanne Gaschke, Journalistin und Autorin

Wolf Gauer, Journalist, São Paulo

Dr. Christian Göbel, Ostasienwissenschaften, Universität Duisburg-Essen

Prof. Bettina Gransow, FU Berlin, Sinologie/Chinastudien

Günter Grass, Schriftsteller, Nobelpreisträger für Literatur

Jari Grosse-Ruyken, Universität Bonn, Bonner Gesellschaft für China-Studien

Prof. Dieter Grunow, Universität Duisburg-Essen,Politikwissenschaft

Dr. Peter Hachenberg, Universität Düsseldorf, Geschäftsführer des Sprachenzentrums der Universität

Andre Hakmann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Trier, Sinologie

Dr. Hermann Halbeisen, Universität Köln, Ostasien-Studien

Prof. Volkmar Hansen, Direktor, Goethe-Museum, Düsseldorf

Klaus Harpprecht, Publizist, La Croix Valmer, Frankreich

Prof. Thomas Heberer, Universität Duisburg-Essen, Ostasienwissenschaften

Prof. Sebastian Heilmann, Universität Trier, Politik Ostasiens

Prof. Carsten Herrmann-Pillath, Academic Director Sino-German School of Governance, Frankfurt/M.

Dr. Lukrezia Jochimsen, MdB Dr. h.c.

Hanjo Kesting, Redakteur und Autor, Hamburg, Berlin.

Dr. Sascha Klotzbücher, Universität Wien, Sinologie

Prof. Jürgen Kocka, FU u. WZB Berlin, ehem. Präsident des Wissenschaftszentrum Berlin

Peter M. Kuhfuß, Universität Tübingen, Sinologie/Geschichte

Kristin Kupfer, freie Journalistin, Peking Prof. Dieter Kuhn, Universität Würzburg, Sinologie

Prof. Alfons Labisch, Rektor der Universität Düsseldorf

Prof. Mechthild Leutner, Lehrstuhl Staat, Gesellschaft und Kultur des modernen China im Fach Sinologie am Ostasiatischen Seminar der FU Berlin

Prof. Dirk Linowski, Director Institute of International Business Studies, Steinbeis University, Berlin

Dr. Astrid Lipinsky, Universität Wien, Sinologie

Dr. Huiru Liu, Universität Trier, Sinologie

Albrecht von Lucke, Blätter für Deutsche und Internationale Politik, Berlin

Gisela Mahlmann, Fernsehjournalistin und ehemalige ZDF- Chinakorrespondentin, Baden-Baden

Prof. Wolfgang Merkel , Direktor Wissenschaftszentrum Berlin, Demokratieforschung.

Prof. Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Bonn

Prof. Thomas Meyer, Universität Dortmund, Politikwissenschaft, Herausgeber/Chefredakteur Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte

Prof. Barbara Mittler, Universität Heidelberg, Sinologie

Michael Müller, MdB und Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Prof. Julian Nida-Rümelin, Universität München, Staatsminister für Kultur und Medien a.D.

Prof. Gregor S. Paul, Universität Karlsruhe und Vorsitzender der Deutschen China-Gesellschaft

Prof. Karl-Heinz Pohl, Universität Trier, Sinologie

Prof. Dr. Andrea Riemenschnitter, Universität Zürich, Moderne Chinesische Sprache und Literatur am Ostasiatischen Seminar

Walter van Rossum, Publizist, Köln

Prof. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin

Dr. Nora Sausmikat, Asienstiftung Essen

Prof. Monika Schädler, Hochschule Bremen, Wirtschaftssinologie

Prof. Helwig Schmidt-Glintzer, Wolfenbüttel, Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Vereinigung für Chinastudien e.V.

Prof. Axel Schneider, Director, Modern East Asia Research Centre, Leiden University/Niederlande

Prof. Gunter Schubert, Universität Tübingen, Greater China Studies

Prof. Reimund Seidelmann, Universität Gießen, Internationale Politik, Hon. Prof. an der Renmin University, Peking,

Frank Sieren, Autor und Journalist, Peking

Dr. Tilman Spengler, Sinologe und Journalist, Ambach

Dr. Johano Strasser, Präsident des deutschen PEN-Clubs

Prof. Markus Taube, Universität Duisburg-Essen, Ostasienwissenschaften

Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich Böll Stiftung, Berlin

Dr. Gudrun Wacker, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik, Forschungsgruppe Asien

Prof. Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Universität Wien, Moderne Sinologie

Dr. Felix Wemheuer, Universität Wien, Sinologie

Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen Amt a.D.