Efeu - Die Kulturrundschau

Schichtenspezifischer Horizont

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23.01.2014. Die Welt fragt sich nach Daniel Harrichs Thriller über das Attentat auf dem Münchner Oktoberfest 1980, warum die Manipulation der Aufklärung durch den leitenden Staatsschützer nie ein Skandal war. La Règle du jeu erfährt am Ende von Michel Houellebecqs scheinbar flachen Sätzen Wahrheiten über die Kunst. In der taz analysiert der Lyriker und Publizist Enno Stahl die Stromlinienförmigkeit der deutschen Gegenwartsliteratur. Die Zeit vermisst die Mayonnaise auf den neuen Haute-Couture-Kleidern von Schiaparelli
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2014 finden Sie hier

Film

Großes Lob von Eckhard Fuhr in der Welt für Daniel Harrichs Thriller "Der blinde Fleck" über den Anschlag auf dem Münchner Oktoberfest 1980, der sich eng an die Faktenlage hält. Besonders der von Heiner Lauterbach gespielte Hans Langemann, damals Chef des bayerischen Staatsschutzes, der damals darauf bestand, es mit einem Einzeltäter zu tun zu haben, hat Fuhr beeindruckt. "Grandios die Szene, in der Langemann vor Polizeischülern über sein Spezialthema, den 'vorgeschobenen Einzeltäter' doziert. Der sei wie eine Marionette, bei der im Moment der Tat sämtliche Fäden gekappt würden. Wenn die Ermittler nicht nur lose Enden in der Hand halten wollten, müssten sie sofort mit aller Intensität das Umfeld des Täters erkunden. Langemann wusste also ganz genau, was nicht geschehen durfte, wenn das gewünschte Ergebnis erreicht werden sollte. Wegen Beweisunterdrückung und anderer Manipulationen wurde er später zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Aber man muss sich in der Rückschau doch darüber wundern, dass dieser Justizskandal erster Güte die bundesrepublikanische Öffentlichkeit kaum erschütterte." Weitere Besprechungen in der taz und der FR.

Auf kino-zeit.de schwärmt Joachim Kurz von der Dokumentation "Art War", die sich mit Ägyptens Graffiti-Künstlern befasst: Sie "erzählt die Geschichte der Revolution und Konterrevolution seit 2011 vor allem als künstlerische Emanzipationsgeschichte und zeichnet dabei ein ebenso faszinierendes wie schlüssiges Bild der ägyptischen Jugend. ... Überaus empfehlenswert!" Passend dazu: Ein Video des Filmemachers Rudolf Thome, der bei seinen Besuchen in Kairo in den vergangenen Jahren ebenfalls Graffiti-Impressionen eingefangen hat:



In der Perlentaucher-Kinokolumne können sich Lukas Foerster und Thomas Groh weder für den skandinavischen Thriller "Erbarmen" nach einem Roman von Jussi Adler-Olsen noch für Stuart Beatties Fantasyfilm "I, Frankenstein" erwärmen. Letzteren beschreibt Foerster als "Müllhaufen aus Digitalschrott, mythologischem Wurstsalat und verkorkster Pulp-Dramaturgie". Auch Claudia Reinhard sieht auf critic.de vor allem "das Potenzial einer genialen literarischen Vorlage weitgehend trivialisiert".

Weitere Artikel: In der taz empfiehlt Barbara Wurm die mit Raritäten gespickte Berliner Kinoreihe "Umbrüche", die sich mit dem Niederschlag des spanischen Bürgerkriegs im Kino befasst. Dokumentarfilmemacher Michael Glawogger berichtet im Standard von seinen Reisen für sein "Film ohne Namen"-Projekt - jetzt ist er in Marokko angekommen (sein Reisetagebuch findet sich hier). Susanne Knaul unterhält sich in der taz mit dem Regisseur Tom Shoval, dessen heute startender Film "Youth" (Daniel Kothenschultes Besprechung in der FR) vom Leben in der schwindenden Mittelschicht Israels handelt. Bei Getidan schickt Peter Claus Notizen vom Max-Ophüls-Filmfest in Saarbrücken. Und in der NZZ annonciert Geri Krebs das Programm der heute beginnenden Solothurner Filmtage.

Besprochen werden Barbara Eders Dokumentarfilm "Blick in den Abgrund" (Freitag), Florian Eichingers Drama "Nordstrand" (Zeit), der Thriller "Erbarmen" (Welt), der von Sylvester Stallone geschriebene Actionthriller "Homefront" (Welt) und die Ausstellung "Licht und Schatten - Am Filmset der Weimarer Republik" im Filmmuseum in Berlin (Deutschlandradio Kultur).
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Literatur

Sehr vielversprechend klingt, was Christine Bini auf La Règle du jeu über einen kleinen Band schreibt, der drei große Interviews mit Michel Houellebecq zum Thema Kunst versammelt, herausgegeben vom Verlag artpress: "Die drei Gespräche sind in Schlüsselmomenten von Houellebecqs Weg geführt worden: 1995 (zur Zeit der 'Ausweitung der Kampfzone'); 2008 (nach seiner Korrespondenz mit Bernard-Henri Lévy) und 2010 (zur Zeit von 'Die Karte und das Territorium', wo sich eine Person namens Houellebecq über einen zeitgenössischen Künstler äußert). Drei Gespräche in fünfzehn Jahren und eine mit sich identische Stimme, stets mit dem Tonfall, für den MH berühmt ist, der gelegentlichen Ironie. Einer Distanziertheit, die mit scheuer Ehrlichkeit gemischt ist. Es gibt so etwas wie einen houllebecqschen Satz, der scheinbar flach ist und doch in einer blendenden Wahrheit endet."

In der taz antwortet der Lyriker und Publizist Enno Stahl auf Florian Kesslers Polemik in der Zeit, in der jener beklagte, die jüngere deutsche Literatur werde nahezu ausschließlich von Abkömmlingen des Großbürgertums verfasst und man müsse Mitglied einer bestimmten In-Crowd zu sein, um in Deutschland literarisch erfolgreich zu sein. Stahl geht das noch nicht weit genug. Die "Stromlinienförmigkeit der jungen deutschen Gegenwartsliteratur" verdanke sich nicht nur einer Erfolgorientiertheit der Autoren. Mit Pierre Bourdieu argumentierend schreibt er: "Sie ist Ergebnis ihres schichtenspezifischen Horizonts. Die Funktions- und Entscheidungsträger des literarischen Feldes, Autoren, Lektoren, Feuilletonisten, Angehörige von Preisjurys, Leiter von Literaturhäusern, sie bewegen sich alle in ein und demselben hermetisch abgeschlossenen gesellschaftlichen Teilsystem... Das ist keine Verschwörung, denn es gibt keine Verschwörer, sondern schlicht gemeinsame Interessenlagen, gemeinsame Wahrnehmungsweisen, ästhetische Vorlieben einer bestimmten Klasse."

Ebenfalls in der taz spricht Knut Henkel mit dem mexikanischen Krimi-Autor Paco Ignacio Taibo II über Gewalt und Drogenhandel in seiner Heimat und die Vorzüge der Fiktion: "Im Journalismus müsste ich beweisen, im Krimi kann ich fundierte Vermutungen streuen, die sich im Nachhinein manchmal als richtig erweisen."

Besprochen werden u.a. Marc Augés neues Buch "Die Formen des Vergessens" (taz), Louis Begleys Roman "Erinnerungen an eine Ehe" (NZZ) und ein Band mit Erzählungen kolumbianischer Autoren (NZZ) (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).
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Kunst

Besprochen wird Simon Starlings Ausstellung "Offenes Depot #03" in der Staatsgalerie Stuttgart (Freitag)
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Stichwörter: Staatsgalerie Stuttgart

Musik

Jens Uthoff schnappt sich Bandana und Skateboard und grölt zu den neu gemasterten Aufnahmen der 80er-Hardcore-Punk-Legende Bl'ast! durch die taz-Redaktion: Bl'ast! "waren deshalb so gut, weil sie Punk weiterentwickelten und in Richtung Noise und Metal öffneten. So ebneten sie mit einigen anderen Bands den Weg für den kaputten Rocksound des Labels Amphetamine Reptile oder auch für den Noiserock der frühen Neunziger."

Außerdem berichtet Jens Uthoff in der taz von der niederländischen Popmesse Eurosonic, die er mit den Institutionen der Berliner Popförderung abgleicht. Ebenfalls in der taz wirft Tim Caspar Boehme einen Blick auf den Schwerpunkt des Wiener Experimental-Labels Editions Mego bei der kommenden Berliner Club Transmediale. In der Welt meldet Konstantin Nowotny, dass Ex-Kinderstar Macaulay Culkin nun mit seiner Band The Pizza Underground von Lou Reed beelnflussten Anti-Folk macht.

Besprochen werden außerdem gesammelt die HipHop-Alben von Angel Haze und Killer Mike (Freitag), ein Klavierkonzert von Paul Badura-Skoda und Daniil Trifonov (Berliner Zeitung).
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Bühne

Schweren Herzens verabschiedet sich Manuel Brug in der Welt von Vladimir Malakhov, dem scheidenden Intendant des Staatsballetts Berlin, dessen Verdienste Brug in höchsten Tönen preist. Sein Zorn gilt der Berliner Kulturpolitik: "Nun sind zehn Direktionsjahre eine schöne, runde Zeit, doch beispielsweise Daniel Barenboim, Claus Peymann oder Frank Castorf, inzwischen auch Thomas Ostermeier, sagt das in Berlin keiner. Die Alternative zu Vladimir Malakhov ist jetzt der eiligst engagierte Spanier Nacho Duato, der seine beste Zeit als gemäßigt moderner Choreograf lange schon hinter sich zu haben scheint." Siehe dazu auch Michaela Schlangewerths Bericht vom Abschiedsauftakt "Malakhov & Friends" in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden außerdem Calixto Bieitos Shakespeare-Inszenierung "Der Sturm" in Mannheim (Welt) und Nurkan Erpulats Gorki-Inszenierung "Kinder der Sonne" in Berlin (Berliner Zeitung).
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Design

Das ist ein Missverständnis, meint in der Zeit Susanne Mayer über Marco Zaninis mädchenhafte Kollektion für Schiaparelli bei den Haute-Couture-Schauen in Paris: Zwar habe Elsa Schiaparelli durchaus echte Prinzessinnen eingekleidet. Doch: "Wenn verspielt, dann auf die obszöne Art. Mit Riesenhummer, der sich auf dem Rock zum Unterleib vorschlängelt, Dalí soll beleidigt gewesen sein, dass Schiaparelli keine Mayonnaise draufschmierte. Von solchen Frechheiten hat die neue Kollektion gar nichts." (Fotos bei style.com)

Der allerneueste Trend in der Mode ist nicht die Erfindung neuer Farbkombinationen oder Silhouetten, sondern dass sie sich politische Anliegen zu eigen macht, schreibt Alison P. Davis im NYmag. Am angesagtesten sind Feminismus und Antirassismus. Sie erinnert an ein "Feminismusprojekt der Elle U.K., eine Suftrragetten und Pussy-Riot-Schmuck-Kollektion von Eddie Elle Borgo und Miuccia Pradas Frühjahr 2014 mit 'starken Frauen'." Und sie äußert ihre Zweifel. Vogue Italia brachte 2008 ein Heft nur mit schwarzen Mannequins: "Diese Nummer löste Kontroversen aus, manche sahen sie als oberflächliche Reaktion und nicht als Lösung des Problems, oder als neu zelebrierte Rassentrennung. Die Mode wurde der Sache schnell überdrüssig und ließ sie fallen." Auch Carola Lang hat in der Financial Times über diesen Trend geschrieben.
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