Efeu - Die Kulturrundschau

Marmor unter dem Inkarnat

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29.04.2014. Im Suhrkamp Blog denkt Durs Grünbein über Cyrano de Bergerac nach, der "weltraumerobernde Mensch an sich". Der Standard verlernt mit der Musikerin Fatima Al Qadiri zwischen Kopie und Original zu unterscheiden. Der Guardian erzählt, wie die Fotografin Jane Bown ihre unwilligen Opfer in dunklen Hintergassen stellte. Die Welt bewundert die Frigidität Veroneses. Die FAZ erkennt im neuen Gebäude des BND ein unfreiwilliges Bild des großen Datensammlungswahnsinns.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2014 finden Sie hier

Literatur

Die Verlage haben ja jetzt alle Blogs. Durs Grünbein gibt zum Beispiel im Logbuch des Suhrkamp Verlags Hinweise zum Verständnis seines neuen Gedichtzyklus "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond": "Die Figur des Cyrano wiederum ist dazu angetan, von Anfang an das Gefühl für das Phantastische zu nähren. Denken Sie sich Jorge Luis Borges als ironischen Juror für diesen Zyklus. Einerseits gibt es den realen Autor und Abenteurer, eine Figur aus der Reihe der Frühaufklärer des Barockzeitalters, die mich so lange schon magisch anziehen. Er gilt als Schüler Gassendis, kritischer Leser Descartes' und der wichtigsten Astronomen seiner Zeit." Das Gute ist, dass man in dem Beitrag eine Menge neue Gedichte lesen darf!

Weitere Artikel: In der Welt porträtiert Michael Pilz den Zeichner und Autor Simon Schwartz, der gerade den dritten Band seiner "Vita Obscura" veröffentlicht hat. Die SZ bringt eine Übersetzung von Salman Rushdies zuvor in der New York Times erschienener Hommage an Gabriel García Márquez, dessen Konzept des magischen Realismus er gegen den Vorwurf der bloßen Skurrilität verteidigt: "Die Wirklichkeit gewinnt im Angesicht des Magischen an dramatischer und emotionaler Kraft. Sie ist mehr, nicht weniger wahr."

Besprochen werden Durs Grünbeins Gedichtband "Cyrano oder die Rückkehr vom Mond" (taz), Walter Kempowskis "Plankton" (FR), Najem Walis Kriegsroman "Bagdad Marlboro" (Tagesspiegel, NZZ), Vladimir Nabokovs "Vorlesungen über russische Literatur" (NZZ), zwei Versuche, Krimis von Jean Vautrin als Graphic Novel zu erzählen (Presse), der Manga "Attack on Titan" (Tagesspiegel) und Mary Millers Roman "Süßer König Jesus" (FAZ).
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Musik

Demnächst erscheint das Album "Asiatisch" der kuwaitischen Musikerin und Künstlerin Fatima Al Qadiri. Christian Schachinger nimmt es zum Anlass, im Standard dem kolonialistischen Westen eins auf die Mütze zu geben, der von China jetzt zurückgezahlt kriegt: "Copyrights werden so wie einst im Westen nicht wirklich ernstgenommen. Eine Kopie ist ein Original ist eine gutgemachte Kopie." Was ihn dann zu Fatima Al Qadiri bringt, im Senegal geborenes Kind kuweitischer Eltern mit einem Dutzend Wohnsitzen in aller Welt, kurz, ein lebendes Beispiel für "die Grenzen von Authentizität, Utopie, Originalität und Copy/Paste". Das merkt man auch ihrem Album an, das "mit westlichen Vorstellungen von China [spielt] ebenso wie eine Hyperkultur entworfen wird, die auf die Charts im Westen schielt. Am Ende trägt Hollywood den Sieg davon. Der letzte Kaiser wird der erste sein. 'China' is coming home. Fatima Al Qadiri macht sich im Stereotyp sesshaft. Woher kulturelle Vorurteile kommen, wird obsolet. Dieses Hybrid behauptet von sich echter als jenes Original zu sein, das es ohnehin nie gegeben hat. Manchmal klingt das kalt, leer, erschreckend plakativ. Dann wieder abgefeimt und mit jeder Menge Raum für Dunkelheit ausgestattet. Ein einzigartiges Erlebnis."

Hier eine Hörprobe:



Weitere Artikel: Volker Tarnow gratuliert in der Welt dem Komponisten Peter Gülke zum Achtzigsten. Ronald Pohl hat im Standard einen Leitfaden aus alphabetischen Stichwörtern zu Richard Strauss zusammengestellt. Ohne ihren erkrankten Gitarristen Malcolm Young können AC/DC gleich in Rente gehen, meint Edo Reents in der FAZ. Deutlich werde das etwa bei "Hell's Bells":



Besprochen werden das neue Album von Lykke Li (Berliner Zeitung), ein Konzert von Andrea Schroeder (Tagesspiegel), das neue Album von Damon Albarn (Zeit) und ein Konzert des niederländischen Koninklijk Concertgebouw-Orkest unter Mariss Jansons in Frankfurt (FR).

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Film

Sehr bedauerlich findet es Cristina Nord in der taz, dass Thomas Heises neuer Film "Städtebewohner" erst dieses Wochenende beim Filmfestival in Nyon uraufgeführt wird: "Ein Jammer, dass dieser Film nicht schon auf der Berlinale lief." Marco Koch vom Filmforum Bremen führt wieder durch Neuigkeiten aus der deutschen Filmblogosphäre.

Besprochen wird der Morgan Nevilles Dokumentarfilm "20 Feet from Stardom" über Backgroundsängerinnen berühmter Bands (FAZ, taz).
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Bühne

Hubert Spiegel (FAZ) berichtet geradezu berauscht vom Fest der deutschen Shakespeare-Gesellschaft zum 450. Geburtstag ihres Idols: "Glänzender, witziger, lebendiger, unterhaltsamer, gelehrter und glamouröser kann man einen toten Dichter kaum feiern. Was für ein Fest!" Im Tagesspiegel porträtiert Patrick Wildermann die Berliner Regisseurin, Autorin und Schauspielerin Nora Abdel-Maksoud.

Besprochen werden ein Berliner Doppelauftritt des Schweizer Theaterautor, Regisseur, Maler und Schauspieler Valère Novarina (Welt), Johannes Pölzgutters Inszenierung von Donizettis Opera buffa "Don Pasquale" als Commedia dell'Arte in Luzern (NZZ), David Böschs Inszenierung von Tankred Dorsts "Parzival" im Akademietheater Wien (Standard, Presse), Irina Brooks' an der Deutschen Oper in Berlin aufgeführte "Liebestrank"-Inszenierung (taz), die Aufführungen des Osterfestivals in Lyon (Christian Wildhagen lobt in der FAZ Serge Dorny dafür, den Spielplan nicht, wie andere Intendanten aus diesem Anlass, mit bekömmlichen Klassikern bestückt zu haben) und Sidi Larbi Cherkaouis Tango-Choreografien, mit denen in Berlin das Festival Movimentos erröffnet hat (taz).
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Kunst

Luke Dodd erinnert im Guardian an seine Kollegin, die sehr eigenwillige Fotografin Jane Bown, deren Bilder gerade in Kings Place in London ausgestellt werden: "Im Idealfall dauert die Aufnahmen für Jane zehn Minuten, genug Zeit, ihr Motiv wirklich zu erfassen, aber nicht genug, um die Spontaneität verfliegen zu lassen. Ihr unwilligstes Opfer, Samuel Beckett, trieb sie in einer dunklen Gasse nahe dem Royal Court Theater in die Ecke, während er ihr zu entkommen suchte. Seine Feindseligkeit ist greifbar, aber er stand lange genug da für fünf Aufnahmen da. Nach dreißig Sekunden war alles vorbei."

In der Londoner Ausstellung "Magnificence in Renaissance Venice" sticht für Manuel Brug (Welt) nur einer hervor: Veronese. Obwohl er nie an Tizian oder Tintoretto heranreichte: "Sicher, Veronese ist kein Emphatiker und kein Empathiker. Er kennt keine Ekstase und keine Agonie. Bei ihm herrscht eine sichere Balance, eine Kühle, man kann es Frigidität nennen. Sein Fleisch wärmt nicht, seine beinahe heutigen Body-Fanatikern nachgebildeten Muskeln scheinen Marmor unter dem Inkarnat, seine Brustwarzen sind steinhart. Und auch wenn seine Themen einmal auftragsgemäß delikat sind, sinnlich, erotisch gar, wärmen sie nicht. Das verhindert schon seine wunderbar komponierte, aber distanzierende Farbpalette. Stahlgrau ist hier oft die Himmel, mattgrün sind die Blätter, Altrosa, Orange, Stumpfblau und Viridiangrün die Gewänder. Man sieht diese Bilder immer wie durch einen Kamerafilter, aber das gerade verleiht seinen charakteristischsten Werken ihren sofortigen Wiedererkennungswert."

Niklas Maak begutachtet für die FAS das monströse neue BND-Gebäude in Berlin und vergleicht es mit dem alten Gebäude in Pullach, dass sich möglichst unsichtbar zu machen pflegte. Dafür war der Gegner damals noch klar erkennbar - anders als heute, wo ja jeder verdächtig ist: "Die Bauten sind nicht bloß eine Imponiergeste, ein Massenornament, das virtuelle Allgegenwart verspricht, die Gebäudeteile sehen auch aus wie eine etwas ratlos Spalier stehende Versammlung überdimensionierter, riesenhafter PC-Gehäuse, in deren gigantischen Laufwerken alles gespeichert wird, was überhaupt speicherbar ist. Der Bau erscheint so auch als ein unfreiwilliges Bild des großen aktuellen Datensammlungswahnsinns."

Besprochen werden die Ausstellung "Wein, Tabak und Drogen in indischen Malereien" im Pergamonmuseum in Berlin (Tagesspiegel), eine Ausstellung des früh verstorbenen Künstlers André Thomkins im Grazer Bruseum (Standard), Manfred Grübls Schau "Bernstein-Lager " im Kunstraum Bernsteiner in Wien (Standard) und die Ausstellung "Die ersten Europäer. Habsburger und andere Juden - eine Welt vor 1914" im Jüdischen Museum Hohenems (SZ).
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