Efeu - Die Kulturrundschau

Die Umwandlung von Unwissen in Kunst

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26.05.2014. Zum Abschluss von Cannes sind alle einverstanden mit der Goldenen Palme für Nuri Bilge Ceylans "Winter Sleep". Die FAZ preist noch einmal besonders die kollektive Dokumentation "Eau Argentée, Syrie autoportrait" von Ossama Mohammed und Wiam Simav Bedirxan. Die SZ lernt in der Dresdener Ausstellung "Die Dinge des Lebens" Kunst ohne Fortschrittsgedanken zu betrachten. Die Berliner Zeitung erlebt das Festival Theater der Welt im Hotel Shabbyshabby.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.05.2014 finden Sie hier

Film

Und Cannes, zum Letzten. Die Palmen sind vergeben, die Kritiker halten Rückschau. Äußerst zufrieden fällt Cristina Nords Fazit in der taz aus: Die Entscheidungen der Jury findet sie allesamt hervorragend, auch wenn sie die Wettbewerbsauswahl des Festivals nicht für komplett gelungen hält: "Ab und zu ein Genrefilm, ein herausragender Dokumentarfilm wie etwa Sergei Loznitsas 'Maidan' oder eine rauhe Unverschämtheit wie Abel Ferraras jenseits des Festivals gezeigter 'Welcome to New York' würden den Wettbewerb abwechslungsreicher gestalten. Doch der Konservatismus von Cannes birgt auch einen entscheidenden Vorteil: Man kann sich darauf verlassen, dass man viele richtig gute Filme sieht."

In der FR schließt sich Daniel Kothenschulte an, insbesondere was die Juryentscheidungen betrifft: "Der von der Australierin Jane Campion geleiteten Jury entging kaum einer der großen Höhepunkte" und der große Gewinner Nuri Bilge Ceylan hat sich die Goldene Palme seiner Ansicht nach ohnehin "längst verdient". Susanne Ostwald ist in der NZZ ganz einverstanden mit den vergebenen Preisen, vor allem für Ceylans klugen und hochpolitischen Film "Winter Sleep", stört sich aber ein wenig an der "hohen Zahl an relativ simpel gebauten Moralitäten über soziales Unrecht und politische Willkür".

Für ziemlich erwartbar hält Verena Lueken von der FAZ unterdessen die Juryentscheidungen. Umso wichtiger ist es ihr, noch auf einen am Ende des Festivals an dessen Rande aufgeführten Film mit allem Nachdruck hinzuweisen, nämlich auf "Eau Argentée, Syrie autoportrait" von Ossama Mohammed und Wiam Simav Bedirxan, den einzigen Festivalfilm aus dem arabischen Raum und für sie "der einzige Film in diesem Festival, der wirklich zählt." Denn dieser Film zeigt uns Bilder, "die wir gesehen haben müssen. Bilder, die inmitten all des konsensfähig Kunstfertigen, das uns dieser Tage überschwemmt hat, eine Wahrheit zu uns bringen, die nur auf diesem Weg vor unsere Augen kommt: 1001 Bilder, gedreht mit Mobiltelefonen und kleinen Kameras. 1001 Bilder aus Syrien, einem Land im Zustand der Apokalypse."

Susan Vahabzadeh erblickt in diesem Festivaljahrgang "das Jahr der politischen Generalabrechnungen, der großen politischen Rundumschläge". In der Berliner Zeitung resümiert Anke Westphal das Festival. Außerdem hat sich Arno Widmann für die FR ausführlich mit Amos Kollek unterhalten. Resümees gibt es auch bei Welt und Standard.
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Kunst

Mit den 99 Vasen und Schalen der Ausstellung "Die Dinge des Lebens/Das Leben der Dinge" unternimmt Kurator Wolfgang Scheppe im Dresdner Residenzschloss ein Wahrnehmungsexperiment im Museumsbetrieb, berichtet Stephan Speicher in der SZ. Es geht um "die Wahrnehmung der Kunst ohne Fortschrittsgedanken" und Kunst als "Selbstsignal": "Schalen sind natürlich gut geeignet, solches Sehen zu fördern. Sie sind (wenn auch nicht immer) von alltäglicher Nützlichkeit, ihre Gestalt kann für sich betrachtet werden ohne Frage nach einem dahinter liegenden Sinn." (Bild: Schale, Große Fechterschnecke, Deutschland, 2. Viertel 17. Jh.)

In der taz empfiehlt Tilman Baumgärtel die ukrainische Gruppen-Ausstellung The Ukrainians, die einen sehr guten Einblick in die Lage und Befindlichkeiten des Landes gibt: "Wann und wie wird rohe politische Gewalt zum Element eines Kunstwerks, das im sicheren Berlin kulinarisch genossen werden kann? In einer Kunstszene, in der allzu direkte Bezüge auf die Wirklichkeit durch Diskurs und Referenz entschärft werden, mag eine Arbeit wie 'Negotiation Table' von Lada Nakonechnas zu grob, zu agitatorisch wirken: Porträts von zusammengeschlagenen Demonstranten mit notdürftig zusammengeflickten Wunden, die auf einem Kaffeetisch im Kreis einander zugewandt stehen. Aber all das hat es gegeben."

In München befasste sich eine Konferenz mit den verschiedenen Geschichten der Modernen in der Kunstproduktion jenseits der großen Zentren, berichtet Kia Vahland in der SZ. Katrin Wittneven schreibt in der Welt einen Nachruf auf den Berliner Fotografen Michael Schmidt, der Grau als Farbe in der Kunst etablierte.
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Literatur

Für die Zeit hat sich Ijoma Mangold mit der Autorin Chimamanda Ngozi Adichie verabredet (hier unsere Leseprobe aus Adichies Roman "Americanah"). Joachim Güntner berichtet von der Verleihung des Börne-Preises an Florian Illies. In der Presse befragt Anne-Catherine Simon den Sprachiwssenschaftler Horst Simon zum Verschwinden des Genitivs.

Besprochen werden S. Corinna Billes neu aufgelegter Roman "Theoda" (SZ) und Kinderbücher (FAZ).
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Musik

Für die SZ porträtiert Christian Jooss-Bernau die Band Coconami. In der taz freut sich Zonya Dengi darüber, dass der afrikanische Synthie-Musiker William Onyeabor aus den 70ern von der zeitgenössischen Popmusik wiederentdeckt wird. Dessen Musik schmatzt und stampft ganz wunderbar Lo-Fi, wie man sich auf Youtube überzeugen kann:



Weitere Artikel: Im Tagesspiegel feiert Sybill Mahlke den polnischen Dirigenten Krzysztof Urbański, der am Wochenende seinen Einstand mit den Berliner Philharmonikern gab. Und Frederik Hanssen und Christiane Peitz vergleichen nach ihren Berliner Konzerten die russischen Pianisten Daniil Trifonov und Igor Levit, beide aus Nischni Nowgorod, die derzeit als die weltbesten jungen Pianisten gelten.

Besprochen werden das Jubiläumskonzert zum 60-jährigen Bestehen des Münchener Bach-Chors (SZ), ein von Valery Gergiev dirigiertes Strawinsky-Konzert (SZ) und Neil Youngs neues und wieder zutiefst konservatives Album "A Letter Home" (Welt)
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Bühne



In Mannheim hat das Festival "Theater der Welt" unter der Federführung von Matthias Lilienthal begonnen. Dieser hat sogar die Unterkünfte der angereisten Festivalbesucher mit dem eigens eingerichteten "Hotel Shabbyshabby" zur ausgeweiteten Theaterzone erklärt. Roland Müller von der Berliner Zeitung lässt sich auf das Experiment ein, winkt aber rasch genervt ab: "Architektenteams aus aller Welt haben mit enormer Fantasie 22 Hütten, Röhren und Container entworfen und über die gesamte Stadt verteilt. Wir übernachten in '3-Lichter' am Neckarufer, einer Art Baumhaus, das aber nicht um einen Baum, sondern um eine Laterne an der Uferpromenade gebaut ist - und wir tun kein Auge zu, so hell und hellhörig ist unsere Unterkunft am ersten Festivaltag. ... Unter Laborbedingungen kann auch Schlaflosigkeit zu einer jener Offenbarungen werden, mit denen Matthias Lilienthal und sein Theater der Welt weiter punkten wollen."

Beim Tagesspiegel führt Ulrike Kahle-Steinweh ausführlich durch die ersten, bereits aufgeführten Stücke und stellt bei der Vielzahl politischer Unter- und Obertöne in den Aufführungen fest: "Die Verunsicherung, das Nichtwissen, könnte das Thema sein dieser Eröffnung vom Theater der Welt in Mannheim. Und die kreative Umwandlung von Unwissen in Kunst, sowie die Verwandlung dieser nüchtern quadratisch konstruierten Industriestadt Mannheim in einen Ort der Kreativität."

Weiteres: Barbara Zuber resümiert für die FAZ die letzte Münchner Biennale für Neues Musiktheater unter Peter Ruzicka: "Ruzickas designierte Nachfolger, die Komponisten Daniel Ott und Manos Tsangaris, erben einen gut bestellten Acker, sogar ein neugieriges Publikum." Marc Zitzmann besucht in der Cartoucherie de Vincennes bei Paris Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil, das sein fünfzigjähriges Bestehen feiert.
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