31.05.2014. In der Welt erklärt Georgi Gospodinov, wie die Kultur des Schweigens Bulgarien zum unglücklichsten Land Europa macht. Lukas Bärfuss lernt dagegen in Abu Dhabi die Kultur des Verdachts kennen. Die FAZ ächzt über die Fadheit der Gegenwartskunst. Die taz beobachtet in Karlsruhe, wie Kunst mit der Technik verschwindet. Die SZ erlebte mit Krystian Zimerman einen Prometheus am Klavier. Und alle würdigen den recht späten Büchner-Preis für Jürgen Becker.
Literatur, 31.05.2014
Einigkeit unter den Kritikern: Die Auszeichnung von
Jürgen Becker mit dem hochdotierte Büchner-Preis ist zwar verdient, kommt aber reichlich zu spät. Kursorisch
führt Lothar Müller in der
SZ durch die programmatische Ästhetik des
Lyrikers: "Nie knüpfte Becker nur
Girlanden der Sprachreflexion, vielmehr machte er in Lyrik, Prosa und Hörspiel Ernst mit der
Eroberung der Alltagssprache und wurde zugleich zu einem der großen Landvermesser seiner Generation."
Deutlicher ins Detail
geht Gregor Dotzauer im
Tagesspiegel mit einem kleinen Essay über Beckers Lyrik: "Becker hat als Grundzug seines Schreibens denn auch eine "Chronik der Augenblicke" ausgemacht. Darin stecken Dauer und Vergänglichkeit zugleich. Tilman Krause
beschreibt Becker in der
Welt als
echten Avantgardisten der sechziger und siebziger Jahre: "Alles,
was ungenießbar war, produzierte er mit Wonne." So
rät denn auch Cornelia Geissler in der
Berliner Zeitung unbedingt zur überfälligen Entdeckung dieses Schriftstellers.
Im Interview mit Inga Pylypchuk
erklärt der Autor
Georgi Gospodinov in der
Literarischen Welt Bulgarien zum unglücklichsten Land Europas: "Es gibt immer noch eine
Kultur des Schweigens. Wir haben im Totalitarismus gelernt, über gewisse Dinge sehr vorsichtig oder gar nicht zu reden. Menschen haben immer noch Angst, ihre Geschichten zu erzählen. Und diejenigen, die keine Extreme erlebt haben, also nicht in den Lagern oder nicht in der Partei waren, glauben, dass sie gar nichts zu berichten haben. Wir erleben im Alltag immer noch einen dramatischen
Mangel an Empathie, und das hat auch mit der Kultur des Schweigens zu tun."
Beim Besuch der Buchmesse in Abu Dhabi wurde der
Schriftsteller Jörg Albrecht verhaftet, weil er eine Botschaft fotografiert hatte. Sein
Kollege Lukas Bärfuss schildert in der
Welt, wie gespenstisch das für die Mitreisenden war: "Wenn ein Mensch verschwindet, muss man ihn zuerst zurück ins Bewusstsein bringen. Man erfährt die Wahrheit der Redensart: Aus den Augen, aus dem Sinn. Man erfährt die Weisheit des Sinnspruchs:
Les absents ont tort, die Abwesenden haben unrecht. Tatsächlich werden dem Verschwundenen bald Vorwürfe gemacht. Er hätte doch wissen müssen, dass man keine Botschaften fotografieren darf. Sein Leichtsinn war sträflich, oder, wie es ein Mann vom Geheimdienst formuliert: Es gibt
nichts Verdächtigeres als Harmlosigkeit."
Außerdem: Jan Küveler
spricht mit der Autorin
Rita Gombrowicz über die Aufzeichungen "Chronos", in denen ihr gestorbener Mann
Witold Gombrowicz seine Homosexualität protokolliert. Nachzulesen ist in der
NZZ Martin Meyers
Laudatio auf
Florian Illies zur Verleihung des Börne-Preises. Im
Tagesspiegel hat Erik Wenk viel Freude an
Robin Thiesmeyers schlicht-lakonischem
Webcomic meta_bene.
Besprochen werden
Ville Tietäväinens Comic "Unsichtbare Hände" (
Jungle World),
Chimamanda Ngozi Adichies Roman "Americanah" (
taz, sowie
hier unsere Leseprobe),
Simon Schwartz" Comic "Vita Obscura" (
Zeit),
Dirk Knipphals" "Die Kunst der Bruchlandung" (
FAZ),
Marie NDiayes "Ladivine" (
Welt,
SZ -
mehr),
Ulrike Draesners Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" (
NZZ), die
Essays von
Charles Lamb (
NZZ) und Tom Hillenbrands Krimi "Drohnenland" (
Welt).
In der Frankfurter Anthologie der
FAZ stellt
Elisabeth Plessen ihr eigenes Gedicht "Das Titelfoto der Unità vom 8. Juni 2008" vor:
"Ein junger Afrikaner
rücklings
in zerfetztem rotem Hemd ..."
Musik, 31.05.2014
Ganz archaisch wird es Reinhard J. Brembeck (
SZ) beim Konzert des Pianists
Krystian Zimerman in Salzburg ums Herz, der sich an die eigentlich unspielbaren letzten drei Beethoven-Sonaten machte. Nichts anderes als einen
Prometheus sah er vor sich! "So wie dieser Titan Lehmklumpen zu Tieren und Menschen belebte, belebt Zimerman die Musik; so wie Prometheus seinen Lieblingen, den Menschen, das Feuer schenkte, so befeuert der Pianist die Partituren,
erhellt und erleuchtet sie."
Weiteres: In der
SZ schreibt Jens-Christian Rabe über den schmalen Grat zwischen künstlerischer Authentizität und Kunsthandwerk, auf dem sich
Bluesrock-Bands mit ihrer Musik bewegen. In der
FAZ berichtet Swantje Karich von einer Begegnung mit
Pharrell Williams. Außerdem jetzt online: Eric Pfeils
neuer Eintrag im Poptagebuch beim
Rolling Stone. Und Frank Schmiechen
pilgert für die
Welt noch einmal zu den Studios der Londoner
Abbey Road, in denen die Beatles den Großteil ihrer Musik produzierten: "Das hier ist
heiliger Boden für jeden Popfan."
Besprochen werden das neue Album der Progressive-Hardcore-Band
Fucked Up (
Zeit - hier im Stream)
und ein Konzert von
Lorde (
Berliner Zeitung,
Tagesspiegel)
Außerdem: Die
größten Plattensammlungen der Welt - eine
beeindruckende Fotostrecke bei
Esquire. Und viel Musik fürs Wochenende:
Spin präsentiert zehn aktuelle Veröffentlichungen im Stream.
Film, 31.05.2014
In der
FR schreibt Natalie Soondrum über das aufs
japanische Kino spezialisierte
Filmfestival Nippon Connection, das seinem Publikum einiges zu bieten hat: "Die Kameras laufen, Samurai-Schwerter krachen, Gliedmaßen fliegen durch die Gegend und Blut spritzt,
am Ende gehen alle drauf. Das kann nur japanisches Kino,
Leidenschaft und absurden Humor so glaubhaft in eins zu setzen und dabei die Grenzen zu so gut wie jedem Filmgenre
überschreiten."
Und alle trauern um
Karlheinz Böhm: Die
FAZ, die
Zeit, die auch eine
Bilderstrecke bringt, und die
FR.
Kunst, 31.05.2014
Für die
FAZ hat Niklas Maak die
8.
Berlin Biennale besucht. Kurator Juan A. Gaitáns Entscheidung für
Dahlem befürwortet er, einige der gezeigten Kunstwerke haben ihm auch gefallen, am Ende überwiegt aber doch eher Verdruss an der ausgestellten Masse: "Wobei verschärfend hinzukommt, dass in dem Maße, wie die Besucherzahlen steigen, die Gegenwartskunst zunehmend selbstreferentieller und abweisender auftritt, wie
ein beleidigter Eremit, der nicht gestört werden will. Ihre
Fadheit kann einen ebenso ratlos machen wie ihre Ambition. Ein Haupterkennungsmerkmal für neue Kunst ist mittlerweile ihre Erklärungsbedürftigkeit und ihr Bemühen, als Rätsel zu erscheinen. Man sieht: einen
verschleierten Marmorkopf. Information, die man haben muss: Dieser Kopf soll Mussolini darstellen. Ah ja! Aber warum..."
Für die
taz hat Sabine Weier das
Labor für Antiquierte Videosysteme im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie besucht, wo man alle Hände voll damit zu tun hat, umfangreiche Bestände
verfallender Videokunst für die Nachwelt zu sichern: "Spulen und Videokassetten stapeln sich in den Regalen, viele sind von Hand beschriftet. Techniker, Programmierer und Medienhistoriker bergen so einen der
größten Schätze der jüngeren Kunstgeschichte. Es ist das erste Kapitel, das von einer
obsoleten Technik abhängt. ... 50 Videoformate der Sechziger, Siebziger und Achtziger können im ZKM schon abgespielt werden, über 300 Geräte hat das Team dafür gesammelt."

Markus M. Haefliger
besucht für die
NZZ das erste afrikanische Museum für Gegenwartskunst, das die
Fondation Zinsou in Ouidah in Benin errichtet hat: "Afrikanische Gegenwartskunst ist, wie ihr traditionelles Pendant, meist gegenständlich und selten abstrakt. In Ouidah sind derzeit etwa Masken des einheimischen Künstlers
Kifouli Dossou zu sehen. Die geschnitzten Skulpturen zitieren im unteren Teil traditionelle Masken, darüber ist, quasi als Kopfschmuck, eine Alltagsszene dargestellt: Gymnasiasten auf dem Moped, ein Verkehrsunfall, Handwerker, Frauen in der Küche, ein Banküberfall. Die mannshohen Statuen des Äthiopiers
Mickael Bethe-Selassie aus Papiermaché stellen mit grotesk überzeichneten Zügen
Dorfidioten oder Patriarchen dar." (Bild: Kifouli Dossou, Die Beamten)
Besprochen wird die Ausstellung über den
Ersten Weltkrieg im
Deutschen Historischen Museum in Berlin (
taz) und kurz vor Schluss noch einmal die in der Bonner
Bundeskunsthalle gastierende große
Malewitsch-Retrospektive (
NZZ).