Efeu - Die Kulturrundschau

Knallig, grell, feucht

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01.09.2014. Erst haben sie die Erwartungen an Fatih Akins Armenien-Film "The Cut" erfolgreich hochgeschraubt, nun übertreffen sich die Feuilletons in ihren enttäuschten Reaktionen. Nur die Welt entdeckt in ihm eine gewisse Verwegenheit. Zeit Online erkennt im neuen Trend zur Langzeitbeobachtung die Symptome der selbstsüchtigen Zeit. Die NZZ schwärmt von der Klangvielfalt auf dem Lucerne Festival. Die Welt portätiert den Bariton Georg Nigl als uneitlen Kamikaze-Sänger.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.09.2014 finden Sie hier

Film


Fatih Akin: The Cut

Bei den Filmfestspielen in Venedig ist nun auch der herbeigesehnte "The Cut" von Fatih Akin zu sehen gewesen, in dem der deutsch-türkische Regisseur sich mit dem Genozid an den Armeniern befasst. Freundlich nimmt Daniel Kothenschulte in der Welt "The Cut" auf: "In der Opulenz liegt tatsächlich nichts Äußerliches. Wenn der Begriff des großen Kinos noch etwas wert ist, dann bei der Verbeugung vor der Anmutung der großen Kinos der Vergangenheit. Besonders kunstvoll gelingt die Verbindung zwischen modernen und klassischen Elementen in der Filmmusik des Einstürzende-Neubauten-Musikers Alexander Hacke: Er verbeugt sich hörbar vor Ennio Morricone, zugleich arbeitet er ein armenisches Volkslied ein - und verbindet schließlich verzerrte E-Gitarren mit zarten Chören. Diese Verwegenheit wünscht man Akins Film durchweg."

Auch im Guardian lobt Peter Bradshaw den Film trotz einiger Schwächen: "The Cut can mean the brutal act of murder itself; it can mean the division of husbands from wives, parents from children, and it can mean the present from the past, the insidious amputation of memory. Whether The Cut encompasses this last sense is up for debate, but it is a forceful, watchable, strongly presented picture and a courageous, honest gesture from Fatih Akin."

In der FAZ erkennt Dietmar Dath in "The Cut" eine "Umdeutung klassischer Westernparameter" und schreibt: "Man hatte geglaubt: Fatih Akin, das ist ein filmischer Stil. Jetzt erkennt man: Nein, das ist ein Kosmos."

Ansonsten ist die deutsche Kritik schwer enttäuscht: Für "tragisch gescheitert" hält Anke Westphal von der Berliner Zeitung den Film, da Akin seinen Stoff viel zu überladen habe. taz-Kritikerin Cristina Nord sieht auch für das Kino als solches keine Glanzstunde vorliegen, da Akin ledlich überkonkreten Bildern hinterherjagt: "Es mag sein, dass Akin mit diesem Film in politischer Hinsicht Beachtliches wagt (in der Türkei sind Todesdrohungen gegen ihn laut geworden), in ästhetischer Hinsicht wagt er nichts, weil er sich den Konventionen des Erzähl- und Ausstattungskinos hingibt, der Patina des period piece und der leichten Lesbarkeit." Ähnlich äußern sich Thomas Steinfeld in der SZ, Susanne Ostwald in der NZZ und Isabella Reicher im Standard.

Die SZ hat zwischenzeitig Tobias Kniebes Porträt von Scorsese- und Akin-Drehbuchautor Mardik Martin online gestellt. Auf Fandor hat David Hudson internationales Feedback auf Akins Film zusammengestellt.

Der von der FAZ an den Lido entsandte, bekennende Horrorfan Dietmar Dath ist nach dem österreichischen, von Ulrich Seidl produzierten Film "Ich seh ich seh" ganz in seinem Element: "Dieser fiese kleine Film nimmt den Mund voller Scheußlichkeiten, kaut provozierend langsam drauf herum und spuckt sie mir schließlich vor die Füße, weil ich nicht rausgegangen bin, als noch Zeit dazu war. Ich kann mir nicht helfen, mir gefällt sowas."

Außerdem hat sich Christiane Peitz für den Tagesspiegel am Lido an Al Pacinos Fersen geheftet. Sophie Charlotte Rieger berichtet auf kino-zeit.de von einem insgesamt allerdings enttäuschenden Festivaltag voller "erotischer Obsessionen männlicher Protagonisten".

In der FAZ freut sich Elenor Benítez darüber, dass eine DVD und eine Publikation sich den in Vergessenheit zu geraten drohenden Frauen aus dem Jungen Deutschen Film zuwendet.
Archiv: Film

Literatur

Ob im Kino mit Richard Linklaters "Boyhood" oder in der Literatur mit Karl Ove Knausgards "Leben": Die Langzeitbeobachtung von Alltäglichkeit hat Konjunktur meint Livia Valensise auf Zeit online: Hier wird "selbst das sensationsloseste Leben doch noch zur Sensation stilisiert. Vielleicht sind deshalb "Boyhood" und "Leben" nicht zuletzt auch Symptome einer selbstsüchtigen Zeit, in der die Kunst uns nur das Vertraute bieten soll: sodass wir uns, egal wo wir hinschauen, tausendfach selbst spiegeln können. Gleichzeitig aber zeugen sie dann auch von einer unsicheren Zeit: Wir blicken auf der Suche nach einer sinngebenden Narration unseres eigenen Lebens stets auf den anderen, um zu verstehen: Wie geht das, leben?"

Mumins- Erfinderin Tove Jansson wäre im August 100 Jahre alt geworden. In der Jungle World schreibt Jonas Engelmann ausführlich darüber, was ihn an deren Geschichten fasziniert: "Die Sicherheit im Zusammenhalt der Familie und die Sehnsucht nach etwas anderem sind bei den Mumins kein Widerspruch, sondern vielmehr ihr Grundantrieb. Die Mumins unterstützen sich in ihren Ängsten und Sehnsüchten, gewähren sich große Freiheiten und halten dennoch zusammen."

Anette Selg besucht für den Tagesspiegel die Ateliers des auf weibliche Perspektiven setzenden Comicmagazins "Spring". Im Standard ärgert sich Thomas Trenkler über die vielen Fehler in Wolf Haas" neuem Brenner-Roman. Besprochen werden Birgit Vanderbekes "Der Sommer der Wildschweine" (SZ) und neue Hörbücher, darunter Hans Falladas "Der Alpdruck" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst


Foto: Amin Akhtar

Für den Tagesspiegel hat Moritz Eckert die Blase besucht, die sich die Berlinische Galerie als Provisorium für die Zeit ihrer Schließung vor der eigenen Türe aufgestellt hat. Christiane Meixner berichtet im Tagesspiegel von ihren Entdeckungen auf der St. Moritz Art Masters.

Besprochen werden die Gregor-Schneider-Ausstellung im Kunstmuseum Bochum (SZ).
Archiv: Kunst

Musik

Peter Hagmann schwärmt in der NZZ nach einer Woche Lucerne Festival und dem dargebotenen "Reichtum an Eindrücken, an sinnlichen Höhenflügen, an Anregungen": "Wer zum Beispiel, wie es der Dirigent Neeme Järvi tut, frei von der Leber weg behauptet, heutzutage klängen alle Orchester gleich, da alle Orchester mit Musikern unterschiedlichster Herkunft besetzt, die lokalen Traditionen also obsolet geworden seien, der kann sich in Luzern eines Besseren belehren lassen."

Kai Luehrs-Kaiser porträtiert in der Welt den Bariton Georg Nigl, der mit Sasha Waltz den "Orfeo" in Amsterdam geben wird, als echten "Kamikaze-Sänger" für Barock und Neue Musik: "Peter Eötvös komponierte für ihn die "Tragödie des Teufels", Pascal Dusapin seinen Nietzsche-Zyklus "O Mensch!" Um Wolfgang Rihms "Jakob Lenz" stärker im Repertoire zu verankern, ließ Nigl selber Notenmaterial der Oper drucken, die er diese Saison in der Regie von Andrea Breth in Stuttgart und Brüssel singen wird. Er gilt auch als uneitler Wiederaufführungssänger."

Besprochen werden eine Ausstellung von Cordula Groths Fotografien der Berliner Philharmoniker in Berlin ("beeindruckend", meint Moritz Eckert im Tagesspiegel), die neue CD der Mezzosopranistin Joyce DiDonato (Tagesspiegel), das Konzert von Blumfeld in Wien (Standard) und Rocko Schamonis Berliner Auftritt mit seinen Lieblings-Evergreens (taz).
Archiv: Musik

Bühne

Im Tagesspiegel resümiert Sandra Luzina den Berliner "Tanz im August", dem sie einen "Plateau Effekt" bescheinigt: "Neue Entwicklungen ließen sich nicht ausmachen. ... Doch Virve Sutinen, die neue Festivalchefin, hat ihr Versprechen wahr gemacht: Sie stellte neue Namen vor, präsentierte die immense Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes. Und sie ließ die Extreme aufeinanderprallen."



In der Welt ist Manuel Brug noch immer ganz hin und weg von der japanischen Truppe Miss Revolutionary Idol Berserker und ihrem "krawalligen Spaßpurgatorium": "Sinnlos, absurd komisch, knallig, grell, feucht. Am Ende standen alle, Performer wie Publikum, gleichermaßen nass, mit Meeralgen, Konfetti und Papierschlangen beklebt da und freuten sich über den erlebten, eigentlich total sinnfreien Blödsinn, der sich gerade infernoartig ereignet und ergossen hatte."

In der SZ gratuliert Egbert Tholl den Salzburger Festspielen zwar zu ihrem ungebrochenen finanziellen Erfolg, doch sieht er darin auch die Verdammung zur Popularität: "Was bleibt, ist die mehrheitlich unbefriedigte Sehnsucht nach Festspielen als Ort des Exzeptionellen." Wilhelm Sinkowicz listet in der Presse auf, was Opernstars eigentlich tun, "wenn sie nicht in Wien sind".

Besprochen wird ein Gastspiel der Deutschen Oper Berlin in London mit Richard Strauss" "Salome" (eine "wahre Pracht", schwärmt Eleonore Büning in der FAZ).
Archiv: Bühne