Efeu - Die Kulturrundschau

Deutsche Standardästhetik

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09.09.2014. In der Berliner Zeitung erzählt Christian Petzold von seinem neuen Film "Phoenix" und der Falle der Kulissenhaftigkeit. Die Welt heizt die Debatte um Judith Hermann noch etwas weiter an: Hat sie gar nicht ihre eigene Geschichte geschrieben? Im Standard schreibt Georg Seeßlen Galeristen wie Journalisten ins Stammbuch: Man kann nicht ein bisschen subversiv und ein bisschen angepasst zugleich sein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.09.2014 finden Sie hier

Film



Für die Berliner Zeitung unterhält sich Anke Westphal mit Christian Petzold über dessen neuen, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im zerbombten Berlin spielenden Film "Phoenix", der gerade in Toronto uraufgeführt wurde: "Ich hatte mir viele alte Fotografien angeschaut, um mich von dieser deutschen Standardästhetik zu lösen, und die Farbaufnahme eines sowjetischen Soldaten vom Kriegsende hatte mich besonders beeindruckt. Da sah man eine Waldlichtung, in schlechter Aufnahmequalität, sehr körnig, fast schon wie das Gemälde eines Impressionisten - und erst auf den zweiten Blick nahm man wahr, dass da überall Leichen lagen. Totenstille - und gleichzeitig ein romantisches Bild. Das wollte ich am ersten Drehtag nachstellen für den Anfang von "Phoenix" - und geriet in die Falle der Kulissenhaftigkeit: Ein Wald, auf eine Frau wird geschossen, ein russischer Jeep fährt vorbei… Ich merkte, dass dies genau der Mist ist, den ich nicht wollte."

Weiteres: Lukas Förster schreibt im Standard über die Horrorfilm-Retrospektive "Land of the Dead" im Filmmuseum Wien. Marco Koch verlinkt im Filmforum Bremen aktuelle Postings aus der deutschen Filmblogosphäre. In der Sommer-Reihe der FAZ schreibt Niklas Maak über den Surf-Film "Endless Summer".

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Kunst

Georg Seeßlen spricht im Interview mit Anne Katrin Feßler im Standard über die Oligarchisierung der Kunst, die mit einem Begriff wie Schizophrenie nur schöngeredet werden könne: "Diese Illusion von der Doppelstrategie, dass man ein bisschen subversiv und ein bisschen angepasst sein kann, die auch viele Galeristen, Kuratoren und Journalisten haben, lässt sich à la longue nicht aufrechterhalten. Die grundlegende Frage lautet: Ist das System zu retten oder nicht? - Wenn ja, wäre so eine gewisse Kompromissbereitschaft taktisch total sinnvoll. Wenn man zum Ergebnis kommt, das System ist sowohl moralisch als auch in Bezug auf die ursprünglichen Aufgaben von Kunst nicht mehr zu retten, dann hilft auch kein Kompromiss mehr - und Schizophrenie schon gar nicht mehr."

Reichlich ernüchtert kommt SZ-Kritiker Bernd Graff von der Linzer Ars Electronica zurück. Einst die Speerspitze digitaler und technikaffiner Kunst, ist sie längst vom Alltag abgehängt: Zumindest beklagt Graff den "Leerlauf künstlerischer Ambition angesichts dessen, was längst Realität ist. Wie auch die Verballhornung des eigenen Anspruchs."

Weitere Artikel: In der taz berichtet Ingo Arend von der Kunst-Biennale im südkoreanischen Gwangju, die aus der demokratischen Bewegung des Landes heraus entstanden ist und der es gelang, "an die traumatische Historie zu erinnern, zugleich aber einen Diskursraum in die Zukunft zu öffnen". In Berlin diskutiert die Kunstbranche über Kunst und Kommerz, berichtet Christiane Meixner im Tagesspiegel. In der Jüdischen Presse stellt Heike Linde-Lembke einzelne Künstler auf der NordArt im Kunstwerk Carlshütte vor. Nils Aschenbeck besichtigt für die FAZ die Ukrainer Street Art und stellt dabei fest, dass diese sich "seit der Euromajdan-Bewegung und vor allem seit den Todesschüssen des 20. Februar zu einer geradezu staatstragenden und identitätsstiftenden Kunstform" entwickelt habe.

Besprochen werden die Ausstellung "Mein Kamerad - Die Diva" im Schwulen Museum Berlin (taz), eine Michael-Sailstorfer-Ausstellung im Haus am Waldsee in Berlin (Tagesspiegel), die Mikhail-Roginsky-Retrospektive in Venedig (Tagesspiegel) und die Ausstellung des Genter Altar der Brüder van Eyck in der Gemäldegalerie in Berlin (FAZ).
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Literatur

In der Welt begrüßt Tilman Krause die Auseinandersetzung um Judith Hermann als erste Literaturdebatte der Saison (mehr hier und hier). Und auch wenn er dem FAZ-Kritiker Edo Reents durchaus einen "Kopf-ab-Aplomb" attestiert, setzt er - rhetorisch etwas feiner - noch eins drauf: Hermann erzähle ja gar nichts Neues, sondern Patricia Highsmith" Geschichte "Schrei der Eule": "Schön wäre nur gewesen, wenn Judith Hermann, die von jener Zeitung, die ihr jetzt bescheinigt, nichts zu sagen zu haben, vier Wochen zuvor als "Star der deutschen Literatur" bezeichnet wurde, ihre eigene Geschichte geschrieben hätte, statt eine bereits existierende zu skelettieren und zu radikalisieren. Da genau liegt wahrscheinlich der Unterschied zu Patricia Highsmith, dem Star der internationalen Literatur. Die konnte das."

In der Presse erzählt der Theaterautor Peter Turrini im Interview mit Anne-Catherine Simon von der unglücklichen Kindheit, dem gelebten und geträumten Leben und unzuverlässigen Erinnerungen: "Die menschliche Seele ist ja eine einzige Verwirrnis, und warum sollte es die Erinnerung nicht sein."

Besprochen werden Scholastique Mukasongas Rwanda-Roman "Die heilige Jungfrau vom Nil" (NZZ), Artur Domoslawskis Biografie des polnischen Reporters "Ryszard Kapuscinski" (NZZ) Alexandros Stefanidis" "Wie gehts den Jungs vom Gottesacker?" (taz), Arne Dahls "Der elfte Gast" (FR), David Beauchards Comic "Die besten Feinde" (Tagesspiegel), Olga Grjasnowas "Die juristische Unschärfe einer Ehe" (FAZ), Franz Friedrichs "Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr" (SZ) und Franzobels Krimi "Wiener Wunder" (SZ).
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Bühne

Im Tagesspiegel gratuliert Rüdiger Schaper dem Theaterkritiker Günther Grack zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Romeo Castelluccis bei der Ruhrtriennale aufgeführte Inszenierung der Oper "Neither" (FAZ) und ein "Woyzeck" in der Inszenierung von Leander Haußmann am Berliner Ensemble (SZ).
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Musik

In der taz porträtiert Elise Graton den französischen Popsänger Sébastien Tellier, der sich privat zwar gerne mal in die Psychiatrie einweisen lässt, es ansonsten aber trotz vieler Ausfälle gegenüber seinem Publikum gut aushält im Popbusiness. Jens Balzer von der Berliner Zeitung freut sich in seinem Fazit nach der Berlin Music Week darüber, dass die Sängerin Lary mit dem New Music Award geehrt wurde.

In der Welt spricht Nike Wagner außerdem mit Manuel Brug über ihren Wechsel von Weimar nach Bonn, wo sie Intendantin des Beethovenfestes geworden ist.

Besprochen werden ein von Christian Thielemann in der Alten Oper Frankfurt dirigiertes Konzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden (FR), das Berliner Konzert des Amsterdamer Concertgebouworkest (Tagesspiegel), Konzerte des Berlin Festivals (Tagesspiegel) und eine Box mit George Harrisons Studioalben aus den Jahren 1968 bis 1975 (SZ).
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