Efeu - Die Kulturrundschau

Ausstieg aus der Bausch-Endlosschleife

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18.09.2014. EpdFilm stellt die Schauspielerin Brit Marling vor, die blond und klug ist. Die Nachtkritik lässt sich von Akira Takayama im Rhein-Main-Gebiet evakuieren. Der Tagesspiegel erlebt reine Überforderung in den Kunst Werken. Der Freitag vertraut in die Energie der südafrikanischen Born Frees. Die SZ benennt mögliche Rattle-Nachfolger. In der Zeit erklärt Peter Handke, warum er "unangenehme Könner" wie Michael Haneke nicht ausstehen kann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.09.2014 finden Sie hier

Bühne


Konzeptkünstler Akira Takayama bei den Recherchen zu "Evakuieren" in Frankfurt © Teresa Bernauer

Esther Boldt lässt sich für die Nachtkritik von Akira Takayama kreuz und quer durch das Rhein-Main-Gebiet schicken. "Evakuieren. Erster Flucht- und Rettungsplan für das Rhein-Main-Gebiet" heißt Takayamas abenteuerliches, mit dem Mouson-Turm erstelltes Projekt, bei dem die Zuschauer gut zu Fuß sein müssen: "In Frankfurt geht es Takayama darum, die Besucher sowohl aus der Stadt zu evakuieren als auch aus ihrer eigenen Identität. So geht es an die Ränder dieser Stadt, die eigentlich ein Mosaik aus Kleinstädten und Dörfern ist, vom Main durchflossen und vom Verkehrslärm umtost. An die Ränder, an denen Schnellstraßen in die Nachbarschaft von Schrebergartensiedlungen treten, wo sich alte Industrie und neue Wirtschaft treffen. Es gibt vier Touren mit je sechs bis acht Stationen. Auf der Website kommt der Fragebogen schnell zur Sache: Ob ich in finanziellen Schwierigkeiten stecke, ob ich glaube, dass es einen Krieg geben werde, ob mir Freiheit wichtiger wäre oder Liebe? Schließlich werde ich auf Tour B geschickt, Farbe: grün, Piktogramm: das Notausgang-Symbol."

Fünf Jahre nach dem Tod von Pina Bausch ist die Zukunft des Tanztheaters Wuppertal weiter offen, berichtet Dorion Weickmann in der Zeit: "Was sich heute an der gesamten Tanztheater-Equipe rächt, ist die über Dekaden gewachsene künstlerische Monokultur. Immer mal wieder fasste Pina Bausch den Vorsatz, andere Choreografen um Kreationen zu bitten. Und ließ ihn fallen. Vor lauter Ehrfurcht wagt nun niemand, ihren Stückefundus zu entrümpeln. Keiner will die Frage beantworten, wie sich vitale Bausch-Inszenierungen von schwindsüchtigen unterscheiden lassen. Wer immer 2015 an die Ensemblespitze rückt, muss also aussortieren und Platz schaffen: für Uraufführungen, die den Ausstieg aus der Bausch-Endlosschleife markieren."

Außerdem: Jana Simons porträtiert für das Zeit-Dossier Shermin Langhoff, die als Intendantin am Berliner Gorki-Theater den Spagat zwischen künstlerisch aufregend und politisch korrekt versucht.

Besprochen werden Klaus Gehres am Theater Düsseldorf aufgeführte Bühnenadaption von Philip K. Dicks Kurzgeschichte "Minority Report" (SZ, mehr dazu gestern und Christof Loys Inszenierung von Tschaikowskys "Die Zauberin" am Theater an der Wien (FAZ).
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Kunst


Links: Kate Cooper, RIGGED, 2014, Courtesy Kate Cooper. Rechts: Ryan Trecartin, Ausschnitt aus ANIMATION COMPANION (2014), Fotostory, veröffentlicht in Modern Weekly, Guangzhou. Courtesy der Künstler; Andrea Rosen Gallery New York; Regen Projects Los Angeles; und Sprüth Magers Berlin London.

Kopfüber stürzt sich Anna Pataczek vom Tagesspiegel in die sonischen Verwirrungen und Entrücktheiten, die ihr die Kunst-Werke Berlin mit den erstmals in Deutschland ausgestellten Arbeiten von Kate Cooper und Ryan Trecartin kredenzen: Zunächst betritt man ein "Labyrinth der Töne" und "je weiter man von den ersten Kammern zum Kern der Arbeit vordringt, desto mehr Klangräume drängen auf einen ein und überschneiden sich. Trecartin interessiert sich für die skulpturale Gestaltung von Klang. ... Sechs Leinwände sind vor, hinter und über den Köpfen angebracht. Passend zur Mehrkanal-Soundinstallation laufen verschiedene handlungsfreie Videos parallel ab. Junge Männer und Frauen (...) sind in Bad-Taste-Kostüme geschlüpft. Sie haben schmutzige Gesichter und tragen Plastikperücken."

Mit einem guten Gefühl geht Sven Lager vom Südafrika-Festival im Berliner Haus der Kulturen der Welt nach Hause. Er schreibt im Freitag: "Das Südafrikabild, das das HKW zeigte, ist ein Anfang. Manches ist noch sehr in der Vergangenheit verhaftet. Aber die Energie der Born Frees wird sich nicht bremsen lassen."

Weitere Artikel: Eva Dietrich schaukelt für die NZZ beim Höhenrausch-Festival auf der Waterfall Swing über Linz. Im Freitag spricht Christine Käppeler mit Galit Eilat, Kuratorin der Biennale in São Paulo, der vor allem auch der elitäre Charakter der Veranstaltung Sorgen bereitet. Ingeborg Ruthe von der Berliner Zeitung findet im neuen Museum der Stille in Berlin Ruhe vorm hektischen Alltag. Peter Sloterdijk freut sich in der Zeit, dass das Wiener 21er Haus seinem Freund Peter Weibel eine Ausstellung widmet.

Besprochen werden die Ausstellung "Schwindel der Wirklichkeit" in der Akademie der Künste in Berlin (Tagesspiegel), Danila Tkachenkos Fotoband "Escape" (Freitag), die Ausstellung "Thomas Mann und die Bildende Kunst" im Lübecker Behnhaus (Welt) und Dennis Graefs Ausstellung "Overglazed Aloha" im Kunstverein Wolfsburg (taz).
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Literatur

In der Zeit unterhält sich Peter Kümmel sehr angeregt mit Peter Handke, der an diesem Wochenende den Ibsen-Preis, den höchstdotierten internationalen Theaterpreis verliehen bekommt. Dabei verleiht Handke ausgiebig seiner Abneigung gegen den Regisseur Michael Haneke Ausdruck: "Bei Haneke kommt nichts von innen her. Er gibt nichts von sich. In seinen Filmen ist überhaupt nichts frei. Er determiniert alles. Wenn er wenigstens Natur hätte - aber man spürt überhaupt keine Natur. Es ist alles nur Mache, gekonnte, suggestive Mache... In einem Wort: Der ist ein Könner. Ich bin überhaupt kein Könner. Er ist aber ein unangenehmer Könner. Ich mag keine Könner."

In Finnland hört man den heimischen Literaten noch zu, wenn sie sich an die Öffentlichkeit wenden, erfährt man im FR-Gespräch zwischen Sylvia Staude und dem Autor Juha Itkonen: "Man wird respektiert. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie ist Literatur wichtig für die Finnen. Vielleicht, weil wir immer noch ein ganz junges Land sind." Für die SZ sieht sich Roswitha Budeus-Budde im literarischen Finnland um und stößt dabei auch auf Maßnahmen, die Kinder und dabei vor allem die Jungs zum Lesen bewegen sollen.

Weitere Artikel: Judith von Sternburg war für die FR bei Judith Hermanns Frankfurter Lesung aus ihrem Roman "Aller Liebe Anfang". Der Tagesspiegel bringt einen Essay der griechischen Schriftstellerin Amanda Michalopoulou über die Leichtgläubigkeit. Die Zeit druckt vorab die ersten vier Kapitel aus Wolfgang Herrndorfs Romanfragment "Bilder deiner großen Liebe", das Iris Radisch in einem flankierenden Artikel "in die Liga der weltberühmten Außenseiterromane einreihen möchte". Nicht sein Inhalt, sondern sein kaum übersetzbarer deutsch-englischer Sprachmischmasch ist für SZ-Kritiker Alexander Menden der Grund, warum Martin Amis" Holocaust-Groteske "The Zone of Interest" keinen deutschen Verlag fand. Für Marion Löhndorf (NZZ) hat Amis sich schlicht verhoben.

Besprochen werden unter anderen eine Sammlung mit Texten der einstigen Freitag-Herausgeberin Gerburg Treusch-Dieter (Freitag), Thomas Melles "3000 Euro" (Freitag, mehr), Wendy Lowers Studie "Hitlers Helferinnen" (Freitag, mehr), Robert Seethalers "Ein ganzes Leben" (Freitag, mehr), A. J. Weigonis "Abgeschlossenes Sammelgebiet" (Freitag), Alexander Pantsovs und Steven Levines Mao-Biografie (Tagesspiegel, mehr) und Lydia Davis" Kurzgeschichtenband "Kanns nicht und wills nicht" (Freitag).
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Musik

Die ganze Seite 1 wirdmet das SZ-Feuilleton der Simon-Rattle-Nachfolgefrage: Im Zeitalter von Internet-Streams, stetiger Medienpräsenz und eigenen Plattenlabels sind die Dirigenten großer philharmonischer Orchester heute weniger "Originalgenies", als vielmehr wie dereinst im Feudalimus "Dienstleister in Sachen Musik" mit Blick auf den Markt, meint Reinhard J. Brembeck beim Nachdenken in der SZ darüber, welchen Herausforderungen Simon Rattles Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern gewachsen sein muss. "Jetzt müssen die Philharmoniker einen Nachfolger finden, der primär eine ästhetische Vision vertritt und fähig ist, sich das Wirtschaftsunternehmen Berliner Philharmoniker notfalls auch unter Kurskorrekturen dafür zunutze zu machen."

Und, Achtung! Drei Namen nennt Brembeck: Christian Thielemann, Andris Nelsons und Gustavo Dudamel. Nelsons wird in einer darunter stehenden Kritik vom Bonner Beethovenfest als "Eroica"-Feuerkopf gefiert. Dudamel dirigiert in Luzern nur Rimsky-Korsakow und Sibelius und zeigte dabei "Begrenzungen".

Von wegen "Happy", ganz im Gegenteil: "Was für ein trauriger Abend", murrt ein schwer enttäuschter Jens Balzer in der Berliner Zeitung nach dem Berliner Auftritt von Pharrell Williams. Julian Weber scheint in der taz unterdessen recht zufrieden, auch wenn der Sound "zu wünschen übrig" ließ. Nadine Lange freut sich im Tagesspiegel immerhin darüber, dass Williams" Show weitgehend jugendfrei war. Pop-Schlager, Schunkel-Patriotismus, Homophobie, Bündnisse mit der Volksmusik: Die deutsche Popmusik lässt sich spätestens seit dem "Sommermärchen"-Jahr 2006 gehörig vom rechten Rand her annagen, ärgert sich Jörg Augsburg im Freitag. Jakob Buhre plaudert für die Berliner Zeitung mit dem Jazzmusiker Tony Bennett. Außerdem bringt René Walter auf Nerdcore hier und hier in gleich zwei Schwüngen viele aktuelle Musikvideos, darunter das zu dem ziemlich toll rockenden neuen Song von Fucked Up:



Besprochen werden eine Aufführung aller neun Beethoven-Sinfonien unter dem Dirigat von Andris Nelsons (SZ) und der Auftritt von Gustavo Dudamel und den Wiener Philharmonikern beim Lucerne Festival (SZ).
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Film


Michael Pitt und Brit Marling in "I Origins"

Auf epdFilm schreibt Frank Schnelle über die amerikanische Schauspielerin Brit Marling, die sich in einer ganzen Reihe unabhängiger Science-Fiction-Filme - heute läuft "I, Origins" (mehr) an - profiliert hat: Diese Filme sind für sie "ein Reflex auf ihre frühen Erfahrungen in Hollywood. ... Einerseits formulierte sie damit ihren Anspruch auf künstlerische Autorenschaft, auf ein Independentkino, das auch in widrigen Zeiten eigenwillig und anders zu sein hat. Andererseits führte sie vor, welche Rollen sie tatsächlich zu spielen gedachte: komplexe, intelligente, vielschichtige, lebensnahe, auch: düstere Frauen, die nicht männlichen (Wunsch-)Fantasien entstammen."

In der taz ärgert sich Ekkehard Knörer über die allzu unbefangene Art und Weise, mit der Vanessa Lapa ihren Found-Footage-Dokumentarfilm "Der Anständige" über Heinrich Himmler montiert hat: "Sie befragt kein einziges Bild, keinen einzigen Satz, sie bringt die Bilder, die Sätze, die Töne nicht miteinander ins Gespräch, sondern sie hat, wie es im Pressetext heißt, das Material "zum Leben erweckt". Ja, schönen Dank auch: Heini lebt."

Weitere Artikel. Auf epdFilm vergleicht Gerhard Midding die Pariser Version der Ausstellung "Pasolini Roma" mit der aktuellen in Berlin: "Der Berliner Standort bietet der Schau mehr Fläche. ... Den Sälen des Gropius-Bau eignet eine Monumentalität, die nicht allen Exponaten bekommt. Der Prüfstand ist anders, wenn sie von so viel weißer Wand umgeben sind." In der taz empfiehlt Lukas Foerster eine Berliner Werkschau mit Filmen von Giovanni Cioni im Kino Babylon, während sein taz-Kollege Tilman Baumgärtel die Margaret Raspé gewidmete Reihe "Alle Tage wieder - Let them swing!" im Kino Arsenal ans Herz legt. Der Filmdienst erinnert mit einer Würdigung aus dem Jahr 2012 an den verstorbenen Joachim Fuchsberger.

Von den traumhaften Editionen der Criterion Collection kann man hierzulande nur träumen: Anlässlich der Wiederveröffentlichung von David Lynchs Kultfilm "Eraserhead" hat das US-Label auf seiner Website nun auch ein umfangreiches Gespräch über den Film aus dem Buch "Lynch on Lynch" veröffentlicht: Hervorragender Lesestoff! Und auf I.B.Tauris schreibt Wim Wenders ein Liebesgedicht an Claire Denis.

Besprochen werden Jutta Brückners auf DVD veröffentlichter Film "Hitlerkantate" (taz), Frank Millers und Robert Rodriguez" Comicverfilmung "Sin City 2" (epdFilm, Berliner Zeitung), ein Dokumentarfilm über Dirk Nowitzki (Freitag), Sönke Wortmanns Verfilmung des "Schoßgebete"-Romans von Charlotte Roche (Tagesspiegel), Sylke Enders" "Schönefeld Boulevard" (epdFilm), Sönke Wortmanns Verfilmung der "Schoßgebete" (die Peter Praschl in der Welt nett, aber auch ziemlich überflüssig findet), Robert Rodriguez" "Sin City 2" (Welt), die heute und am kommenden Donnerstag auf arte ausgestrahlte Miniserie "Kindkind" von Bruno Dumont (FAZ) sowie Christian Mraseks und Jukka Schmidts "Hans Dampf" und Gustav Deutschs "Shirley: Visions of Reality" (beide Perlentaucher).
Archiv: Film