Efeu - Die Kulturrundschau

Aufgescheuchte Gegenwart

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.10.2014. In der Welt erzählt Autor Michael Ziegelwagner, wie er seine Kollegen dazu bringen wollte, den Buchpreisverleihern zu zeigen, was Autoren von Hierarchien und Konkurrenzdenken halten. Sehr viel, stellte sich heraus. Barenboims "Tosca" teilt die Kritiker: bezwingend wild, jubeln die einen, gepflegte Langeweile, stöhnen die anderen. Die FAZ prophezeit neue Verschwörungstheorien nach der Filmadaption eines Pynchon-Romans.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.10.2014 finden Sie hier

Bühne


Foto: Staatsoper Berlin

Für die Opernkritik gibt es heute nur ein Thema: Daniel Barenboim hat an der Berliner Staatsoper erstmals Puccini dirigiert, "Tosca", in der Inszenierung von Alvis Hermanis. Die Kritik ist sich weitgehend einig: Große Begeisterung für den Dirigenten und sein Orchester, wenig Lob für die Inszenierung. Beispielhaft dafür schreibt Eleonore Büning in der FAZ: "Selten war [die Musik] so bezwingend wild, so phonstark und zugleich so durchsichtig zu erleben wie diesmal", während sie de Regisseur zeiht, "eine seiner schwächsten Regiearbeiten abgeliefert" zu haben.

Auch Clemens Haustein von der Berliner Zeitung ist von der Inszenierung wenig begeistert, bei der von Kristine Jurjane gestaltete, an Graphic Novels erinnernde Ikonen das Bühnenbild bestimmen: "Unterhalb davon treten die Sänger auf, sich auf einem schmalen Streifen Bühne bewegend, gekleidet im Stil der Puccini-Zeit, zwischen Möbel und Gerät derselben Epoche, alles filmreal. Tatsächlich treten sie nur auf, denn die Dramatik der Handlung ist allein auf den Bildchen zu ihren Häupten zu sehen. Oben Emotionen, unten Stehtheater." Und auch Barenboim kann in seinen Ohren nur halb bestehen: Der neige dazu, Tempi zu verschleppen und die musikalische Struktur aufzuweichen.

In der Welt kann Manuel Brug dem "Saftschinken" überhaupt nichts abgewinnen. Bei Barenboim "langt es diesmal nur zu gepflegter Langeweile. Mit der nobel aufspielenden Staatskapelle gelangen ihm neben den obligaten Fortissimo-Stellen schöne, bukolische Holzbläsermomente, aber meist lief das alles viel zu langsam und zu distinguiert schön dahin." In der taz hält Nikolaus Hablützel Hermanis" Bildgebung für "perfekt gemacht", aber auch "langweilig": Der Regisseur entziehe sich der Frage, was der Opernkanon uns heute noch zu sagen habe. Doch "was Hermanis in seine Bilderkammer wegschließt, holt Barenboim zurück mitten in die Gegenwart, ist voller Leben, Spannung und Dramatik. Es geht ständig um Extreme, Extreme der Liebe und des Hasses, übersetzt in eine präzise artikulierte und instrumentierte Musik."

Im Tagesspiegel beglückwünscht Frederik Hanssen das Haus lakonisch dazu, sich mit dieser Inszenierung einen routinierten Auffüller für jeden künftigen Spielplan ins Repertoire geholt zu haben. In der SZ erklärt Michael Stallknecht, dass Regisseur Hermanis nach der Vorführung auch deshalb heftig ausgebuht wurde, weil sich dessen Arbeiten Zuschreibungen wie "progressiv" oder "konservativ" entziehen. Von Barenboim hätte er sich unterdessen mehr Kante in Puccinis Musik gewünscht. Dennoch steht am Ende Lob: "Dass ausgerechnet eine "Tosca" derart feinsinnig daherkommen kann, bleibt ein Theaterkunststück von faszinierender Intelligenz."


Katrin Wichmann und Benjamin Lillie in "Woyzeck" von Georg Büchner. Regie Sebastian Hartmann. Deutsches Theater. Foto: Arno Declair

Deutlich weniger Zuspruch findet unterdessen Sebastian Hartmanns am Deutschen Theater in Berlin aufgeführte "Woyzeck"-Inszenierung: In der taz findet Katrin Bettina Müller zwar durchaus Gefallen an der "Lust an der Dunkelheit" in diesem Stück. Schwierig findet Christine Wahl vom Tagesspiegel allerdings die "Reduktion auf die Mann-Frau-Konstellation". Und Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung hält den Abend für eine Belastungsprobe für Nerven und Geduld.

Weiteres: In der Zeit sorgt sich Dorion Weickmann um Pina Bauschs Erbe. Gerhard R. Koch schreibt in der FAZ den Nachruf auf den Regisseur Juri Ljubimow.

Besprochen werden Robert Wilsons Genet-Inszenierung "Die Neger" am Pariser Odéon (Welt, NZZ, SZ) und ein "Schinderhannes" am Mainzer Staatstheater (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Vier Wochen lang stand Michael Ziegelwagner, Titanic- und Buchautor, im August 2014 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und war "wichtig", erzählt er in der Welt. Also schrieb er, in der Hoffnung, gehört zu werden, in der FAZ einen Aufruf an seine Kollegen, den Buchpreis zu boykottieren, das Geld einfach vor der Shortlist-Verkündung gleichmäßig aufzuteilen und so "den Buchpreisverleihern zu zeigen, was man als Schöpfer unvergleichlicher Werke von Hierarchien und Konkurrenzdenken hält. (Ich formuliere pathetisch; lesen Sie das Wort "unvergleichlich" bitte wörtlich.) Die Verleihungszeremonie hätten wir dann schwänzen und stattdessen ein Picknick vor dem Frankfurter Rathaus abhalten können." Die Reaktionen der Kollegen waren allerdings eher niederschmetternd.

Am Samstag verkündete die Welt den diesjährigen Preisträger des "Welt"-Literaturpreises: Haruki Murakami. Dazu druckte sie eine neue Erzählung Murakamis, hier Teil 1, Teil 2. Holger Heimann unterhielt sich mit dem finnischen Autor Kjell Westö über die Unentrinnbarkeit der Geschichte. Und Annett Gröschner las die Moskauer Tagebücher von Christa Wolf.

Vor der Buchmesse in Frankfurt lassen die Feuilletons ihre Kritiker das Gastland Finnland erkunden: Marten Hahn von der Berliner Zeitung besucht dort mehrere Schriftstellerinnen und Schriftsteller, das für Finnlands Literatur essenzielle Netz aus Gemeinde-Bibliotheken und stellt, vor allem nach dem Treffen mit Rosa Liksom fest: "Finnland ist fertig mit Russland! Finnland will Westen sein, mit aller Kraft. Und nicht alle finden das gut." In der SZ macht Kristina Maidt-Zinke eine Neigung der finnischen Litertaur kenntlich: Sie liest dort "überwiegend solide, realistische Erzählprosa (...), die zwar häufig brisante Themen in Angriff nimmt, sich jedoch stets auch zu ihrer Unterhaltungsabsicht bekennt." Eine Ausnahme bildet dabei allerdings die Literatur der finnisch-schwedischen Minderheit, merkt sie an: Diese neige zum Experiment und zur Lyrik.

Weitere Artikel: Ausländische (und darunter asiatische) Verlage bilden auf der Frankfurter Buchmesse mittlerweile die Mehrheit, beobachtet taz-Literaturkritiker Dirk Knipphals: "Ohne das jetzt schon ganz hoch hängen zu wollen: Hier zeichnet sich eine neue Stufe der Globalisierung ab." Und vor der heutigen Verleihung des Buchpreises würdigt sich Jan Drees im Freitag vier Romane, die nicht auf die Shortlist geschafft haben, aber ebenfalls "absolut preiswürdig sind". Zu den Buchpreis-Favoriten zählt Lutz Seiler, mit dem sich Gerrit Bartels im Tagesspiegel unterhält.

Besprochen werden Gail Dines" Abrechnung mit der Pornografie "Pornland" (Jungle World), Albertine Sarrazins Comic "Der Astragal" (Tagesspiegel), Hanns Zischlers Erzählung "Das Mädchen mit den Orangenpapieren" (Tagesspiegel), Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" (Zeit), Bettina Suleimans Debütroman "Auswilderung" (ZeitOnline) und das Hörbuch von F. Scott Fitzgeralds und Zelda Fitzgeralds "Wir waren furchtbar gute Schauspieler" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film


Reese Witherspoon und Joaquin Phoenix in "Inherent Vice"

Mit Paul Thomas Andersons "Inherent Vice" feierte jüngst die erste Filmadaption eines Pynchon-Romans beim New Yorker Filmfest Weltpremiere, berichtet Patrick Bahners, der für die FAZ ins Kino gegangen ist. Der Film wusste ihm wohl schon zu gefallen, auch wenn ihn die Kürzungen des Originalstoffs teils stutzen ließen: "Dass die von Pynchon 2009 ins Auge gefasste Thematik der Totalüberwachung in der Verfilmung von 2014 entfallen ist, ergibt einen unnatürlichen Mangel, der Ausgangspunkt für Verschwörungstheorien sein könnte." Die ersten Wortmeldungen der amerikanischen Kritik sammelt David Hudson auf Fandor.

Weitere Artikel: Enrico Ippolito unterhält sich in der taz mit dem Schauspieler Clemens Schick und dessen Rolle in dem Film "Paraia do Futuro". In der Welt gratuliert Hans Peter Riegel dem Zurich Film Festival, das - was Budget und Zuschauerzahlen angeht - nach der Berlinale auf den zweiten Rang der Filmfestivals im deutschsprachigen Raum gerückt ist. Daniel Kothenschulte stellt den Ingenieur Herman Schultheis vor, der bei Disney zwischen 1938 und 1941 die Zeichentrickfilme mit vorbereitete und ihre Entstehung dokumentierte. David Steinitz von der SZ rechnet der skurrilen Musikkomödie "Frank", in der Michael Fassbender hinter einer Holzmaske spielt, gute Chancen auf dem VoD-Markt aus, wo das Werk derzeit am Kinomarkt vorbei ausgewertet wird.

Besprochen werden Sabine Gisigers Dokumentarfilm über den Psychotherapeuten Irvin D. Yalom (Tagesspiegel) und Phillip Noyce" Science-Fiction-Film "Hüter der Erinnerung" (Tagesspiegel).
Archiv: Film

Kunst

Ziemlich lauwarm findet Hanno Rauterberg in der Zeit (vom 18.9., nachträglich online gestellt) die sich bewusst zurückhaltende Kunst des derzeit angesagten Michael Sailstorfer, die derzeit in Berlin im Haus am Waldsee und im Museum Kurhaus Kleve zu sehen ist: Sein Werk "passt perfekt in eine aufgescheuchte Gegenwart, in der weniger das Charakterfeste geschätzt wird als das Wandlungsfähige. ... Seine Kunst ist brachial bekömmlich, auch das macht sie so populär. Und wenn es gar zu peinlich wird und der Künstler sein eigenes Werk am liebsten los wäre, dann hängt er es an einen Sockel aus Beton und versenkt es in der Ostsee oder sonst welchen Gewässern. ... Sollen doch die Fische sehen, was sie damit anfangen können." (Foto: Michael Sailstorfer, Vollmond, 2009, Courtesy Johann König, Berlin)

Weitere Artikel: Matthias Rüb stellt in der FAZ das in Panama eröffnete, von Frank Gehry gestaltete Museo de la Biodiversidad vor. "Die architektonische Umsetzung könnte grässlich misslingen", fürchtet Dieter Bartetzko in der FAZ angesichts der Pläne zum Romantikmuseum in Frankfurt und der Erweiterung des Buddenbrookhauses in Lübeck.


Finlandia Halle von Alvar Aalto (1962-71)

Besprochen werden die Alvar-Aalto-Retrospektive im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein (NZZ), eine Werkschau zu Roman Signer mit Arbeiten seit 2011 im Kunstmuseum St. Gallen (NZZ), eine Courbet-Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel (FAZ) und die Ausstellung "Monet, Gauguin, van Gogh. Inspiration Japan" im Museum Folkwang in Essen (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Lady Gaga, Beyoncé, Lana Del Rey: In der Zeit (nachträglich online gestellt) denkt Marie Schmidt über die feministischen Potenziale der derzeit angesagtesten Frauen im Pop nach - oder welche denen nachgesagt und angehängt werden. Insbesondere Beyoncés Auftritt unter den großen Bühnenbild-Lettern "Feminist" stimmt sie doch eher skeptisch: "Ihre Message ist: Man kann alles haben, alles zugleich, das Glück der Mutterschaft, eine wahnwitzige Sexualität, einen trainierten Körper, sehr viel Geld. Alles ist nur eine Frage des Fleißes und des Investments in den eigenen Marktwert."

In der Berliner Zeitung plaudert Katja Schwemmers mit Nana Mouskouri.

Besprochen werden eine neue CD des Borusan Istanbul Filarmonic Orchestra (Tagesspiegel), das Album "Godforsaken Roads" von Arnaud Rebotini und Black Stroke ("die Addition von Blues und Techno [muss] nicht zwangsläufig ZZ Top ergeben", freut sich Arne Löffel in der FR), ein Auftritt der Libertines (Tagesspiegel), ein Konzert von Jon Hopkins und Nils Frahm in Berlin (SZ), ein Konzert der DDR-Altpunks L"Attentat (taz), ein Konzert der Abschiedstour von Jan Garbarek und dem Hilliard Ensemble (FR) und Kent Naganos Buch "Erwarten Sie Wunder!" (Welt).
Archiv: Musik