Efeu - Die Kulturrundschau

Ich unterstütze den Erfindergeist

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13.10.2014. Die Musikkritiker amüsieren sich prächtig mit Offenbachs "Schöner Helena" in Barrie Koskys Inszenierung an der Komischen Oper. Wie in einem Shakespearedrama fühlt sich der Guardian vor dem Spätwerk Rembrandts. Die NZZ taucht ein ins musikalische Werk Dieter Roths. In der Welt erklärt Filmregisseur Zach Braff, warum er Kickstarter liebt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.10.2014 finden Sie hier

Bühne

Barrie Kosky ist der Mann der Stunde. Unter seiner - gerade bis 2022 verlängerten - Leitung hat die Komische Oper in Berlin zu neuem Glanz und Erfolg gefunden. In der Zeit spricht Christine Lemke-Matwey mit ihm über mögliche Ursachen seines Erfolgs und dem wiedererwachten Interesse an der Operette. Dass dieses mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen der letzten Jahren zusammenhängen könnte, glaubt er allerdings nicht: "Ich glaube vielmehr an einen ästhetischen Wandel. Das Publikum entdeckt die Operette wieder, weil das Theater der siebziger, achtziger und neunziger Jahre vorbei ist. Man will keine gusseisernen Dramaturgien mehr, und es braucht die Faust des Regietheaters genauso wenig wie den Plüsch, gegen den dieses revoltiert hat. Das heutige Publikum will variety, Vielfalt, alle Genres, Ernsthaftigkeit, Tiefe und Vaudeville."

Und davon beträchtlich viel bietet allem Anschein nach die an seinem Haus und unter seiner Regie auf die Bühne gebrachte Offenbach-Inszenierung "Die schöne Helena". Ulrich Amling vom Tagesspiegel etwa jubelt angesichts dieses prallen, vitalen Operetten-Abends: "Im Theater sitzen und spüren, dass man am Leben ist. ... Choreografischer Irrwitz von Beginn an, geflutete Räume, pulsierende Körper. Ökonomische Erwägungen werden ebenso permanent ad absurdum geführt wie jede überkommene Operngeste. ... Die Stimmung ist prächtig und die Komische Oper zu allen Schandtaten bereit."

Auch Niklaus Hablützel von der taz sieht in diesem Abend Wegweisendes und stellt deshalb gleich die Gattungsfrage: Mit einer Operette hat das Dargebotene seiner Ansicht nach nämlich kaum mehr etwas zu tun. Koskys Inszenierung "ist vor allem ein Stück für ein Ensemble, das auf dem Weg ist, völlig neue Gebiete der Bühnenkunst zu betreten, eine pandämonische Welt in der alles möglich scheint, die aber auch von jedem Einzelnen verlangt, über alle Grenzen hinauszugehen." Martin Wilkening hat in seiner Besprechung für die Berliner Zeitung den aktuellen Bezug dieser Inszenierung identifiziert: "Sie zeigt das Herumirren des Begehrens in den vorgeprägten Gesten und Formeln des Liebesdiskurses und die kleinen Fluchtwege daraus, die für Momente der Selbst-Illusion des Begehrenden als eines Liebenden Nahrung liefern können."

Nur die Ladies von FAZ und SZ winken ermattet ab: Christiane Tewinkel ist von dem Trubelreigen "vielleicht ein bisschen angetan, aber auch erledigt", tut sie in der SZ kund. In der FAZ gähnt Kristina Maidt-Zinke: Hier werde einfach nur den Erwartungen der Komische-Oper-Fans mit erwartbaren Standards entsprochen.

Dries Verhoevens, vom Berliner Theater Hebbel am Ufer ausgerichtete und nach Protesten aus der queeren Szene vorzeitig abgebrochene Aktion "Wanna Play" rund um die unter Homosexuellen beliebte Dating-App Grindr hält Patrick Wildermann im Tagesspiegel zwar ebenso wie deren Kritiker für wenig durchdacht. Doch den ursprünglichen Impuls der Aktion hält er weiterhin für wichtig: Sie hat "einen Nerv getroffen. Rückzug der Schwulen in die Schein-Anonymität der Apps, Fetisch der Attraktivität und Selbstinszenierung im Netz - das sind ja bedenkenswerte Punkte. Grindr als Schutzraum? Von wegen. Was, nur nebenbei, besonders die Homosexuellen in jenen Unterdrücker-Ländern zu spüren bekommen haben, wo die Ortungsfunktion des Dienstes ziemlich unangenehme Folgen hatte."

Besprochen werden Stefan Kaegls "Volksrepublik Volkswagen" am Schauspiel Hannover (taz), Nanine Linnings Choreografie "Requiem" (NZZ) und Nis-Momme Stockmanns auf Kampnagel in Hamburg aufgeführtes Stück "Die kosmische Oktave" (SZ)
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Musik

Eine kuratorisch-wissenschaftliche Initiative untersucht gerade Dieter Roths Rolle als Musiker und Musikverleger, berichtet in der NZZ Peter Kraut, der das Ergebnis wunderbar subversiv findet: "Nehmen wir "Harmonica Curse": Zwischen dem 15. Februar und 7. August 1981 nimmt Roth fast täglich eine Stunde Musik auf. Er tut dies bei sich zu Hause in Island, er improvisiert mit seiner einfachen Ziehharmonika, brummt vor sich hin, geht einmal ans Klavier, beantwortet Telefonanrufe, trinkt. All das wird säuberlich dokumentiert, nummeriert, mit aktuellen Polaroidfotos versehen und auf 74 handelsüblichen C60-Kassetten in einem Aktenkoffer abgelegt. Was rein äußerlich einer Art frühen musikalischen Datenbank ähnelt, ist in Wahrheit ein schonungsloses akustisches Tagebuch, das Höreindrücke gewährt in den künstlerischen Alltag des Unspektakulären und Belanglosen."

Weitere Artikel: Sybill Mahlke berichtet in der Berliner Zeitung vom Konzert zur Wiedereröffnung des Berliner Konzerthauses, das - Mahlke mag"s angesichts der Berliner Verhältnisse kaum glauben - seinem Bauplan tatsächlich fristgerecht entsprechen konnte. Auch Clemens Haustein freut sich in der Berliner Zeitung, dass in der Hauptstadt ein Bauvorhaben auch einmal gelingen kann. Franz X.A. Zipperer plaudert in der taz mit Marianne Faithfull. Für die Zeit hat Alexander Cammann den Pianisten Alfred Brendel besucht. In der Welt gratuliert Manuel Brug Nana Mouskouri zum 80. Geburtstag, in der FAZ Dieter Bartetzko. In der Welt schreibt Manuel Brug den Nachruf auf die Sopranistin Anita Cerquetti.

Besprochen wird ein Konzert von Diana Damrau unter Dirigent Antonio Pappano in Rom (FAZ).
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Film

Zach Braff, der für seinen neuen Film "Wish I Was Here" zwei Millionen Dollar bei Kickstarter einsammeln konnte, erzählt im Interview mit der Welt, warum auch er Projekte bei Kickstarter unterstützt: "Mehr als alles andere liebe ich die Innovations-Seite, da gibt es jede Menge verrückte Erfindungen, ein Typ hatte eine großartige Idee, hölzerne Visitenkarten mit dem Laser zu brennen, den habe ich unterstützt. Viele Leute haben Probleme damit, nicht am Erlös beteiligt zu sein, darum geht es mir überhaupt nicht! Ich denke einfach nur, dass er eine richtig coole Idee hat, und ich weiß, dass er keine andere Möglichkeit hat, an Geld zu kommen. Ich unterstütze den Erfindergeist, mir ist es egal, wenn der Typ reich damit wird."
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Literatur

Letzte Artikel zur Buchmesse: In der NZZ würdigt Andreas Breitenstein den Auftritt Finnlands. Gerrit Bartels berichtet im Tagesspiegel von einer insbesondere unter den Verlegern sehr entspannten Messe. Tim Caspar Boehme bemerkt in der taz, dass in diesem Jahr zwar spürbar weniger Stände, aber mehr Veranstaltungen auf der Messe gab. Sein taz-Kollege Andreas Fanizadeh war bei der Präsentation von Thomas Pikettys "Das Kapital im 21. Jahrhundert". Für die Berliner Zeitung schlenderte Judith von Sternburg über die Buchmesse, wo ihr zuweilen das "undisziplinierte und babylonische" Messepublikum ins Auge sticht.

Weiteres: Andrea Pollmeier unterhält sich für die FR mit Schriftstellerin Raja Alem, die am vergangenen Samstag auf der Buchmesse den LiBeraturpreis entgegen nehmen konnte. Jürg Altwegg liest für die FAZ Patrick Modianos neuen Roman im französischen Original.

Besprochen werden Nic Pizzolattos Krimi "Galveston" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Helena Hennekens Reisebericht "They Would Rock - 59 Tage im Iran" (Jungle World), Sabrina Janeschs "Tango für einen Hund" (SZ) und Cao Wenxuans "Bronze und Sonnenblume" (FAZ).
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Kunst


Rembrandt, "Die Verschwörung des Claudius Civilis", um 1661-2, The Royal Academy of Fine Arts, Sweden © Rijksmuseum, Amsterdam.

Vollkommen geplättet kommt Jonathan Jones (Guardian) aus einer Londoner Ausstellung mit späten Werken Rembrandts: "There he is in the first room of this startling exhibition, gazing back from his self-portraits, a sage and infinitely gentle soul: Rembrandt the master. Then the curators pull a hidden lever and the floor disappears. This brilliant, brave blockbuster reveals the true Rembrandt - a man at the end of his tether. It is a shocking and cathartic journey through the tragedy of his fall. By exposing that, it reveals his ultimate triumph. It is like seeing a great actor play King Lear and Prospero as a double bill." Jones erzählt in seiner Kritik auch die Geschichte des Bildes "Die Verschwörung des Claudius Civilis" (oben). Rembrandt hatte es für das Rathaus von Amsterdam gemalt, es wurde von den Ratsherren jedoch abgelehnt.

Adrien Searle begleitet für den Guardian Gerhard Richter durch dessen Ausstellung in der Londoner Galerie von Marian Goodman: "The complications of his recent work are given full rein in this show. "In 60 years you can do a lot," Richter tells me, "And our times are so … unquiet," he says, searching for the word. Over a career of almost 60 years, Richter has made an enormous variety of works, moving between abstraction and portraiture, landscape and a kind of history painting. Among it all are monochromes and paintings of his family, paintings of the suicide and murders of the Baader Meinhof gang, and of the burning Twin Towers. The world does not pass him by. "We react and we no longer have a tradition to support us," he says. "Globalisation makes things fragment, but also brings them closer."" (Bild: Gerhard Richter, Streifen, 2013)

Weitere Artikel: Rüdiger Schaper unterhält sich im Tagesspiegel mit Bernd Scherer, dem Intendanten des Berliner Hauses der Kulturen der Welt, das gerade 25-jähriges Jubiläum feiern konnte. In der NZZ plädiert die Kunsthistorikerin Linda Schädler für Anamorphose als Methode zur Erforschung von Gegenwartskunst. Im Tagesspiegel gratuliert Bernhard Schulz dem Architekten Richard Meier zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden eine Ausstellung im Kunstmuseum Bonn, die der Freundschaft von Franz Marc und August Macke gewidmet ist (Welt), die Baselitz-Ausstellung im Münchner Haus der Kunst (Zeit), die Hermann-Glöckner-Ausstellung in der Villa Grisebach in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Egon Schiele: The Radical Nude" in der Courtauld Gallery in London (Guardian), eine Ausstellung von Ai Weiweis Serie "Frames" mit Rahmen aus seltenem Möbelholz aus Zeiten der Ming- und Qing-Dynastie Berliner Galerie Neugerriemschneider (Berliner Zeitung) und die Sigmar-Polke-Schau in der Tate Modern (SZ).
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