Efeu - Die Kulturrundschau

Am Kunstschopf aus dem Krisensumpf

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29.10.2014. In Deutschland wird Frank Gehrys Bau der Fondation Louis Vuitton vor allem als private Machtgeste des LVMH-Chefs Bernard Arnault interpretiert. Le Monde fragt nun, wie privat diese Geste eigentlich ist, wenn sie zur Hälfte von den Bürgern finanziert wird. Mit den Brüdern Dardenne erkunden die Filmkritiker Reste der Menschlichkeit in postkapitalistischen Zeiten. Die taz lässt es mit Blunt krachen, Pitchfork mit Grouper ätherisch rauschen. Die Presse findet die Wahrheit im nackten Rücken der Venus von Velazquez.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.10.2014 finden Sie hier

Architektur


Blick von der Fondation Louis Vuitton. Foto: Anja Seeliger/Perlentaucher

Jörg Häntzschel von der SZ reiht sich bereitwillig bei den Schmähern von Frank Gehrys Bau des Vuitton-Kunstmuseums ein: Ein "Monstrum" und einen "ins Riesenhafte mutierten Hummer" hat er da erblickt, der sich seiner Ansicht nach zudem nicht der Kunst andiene, sondern andere Zwecke verfolge: "Was Arnault wollte und Gehry bereitwillig lieferte, war ein Denkmal - und eine Machtgeste."

Ein sehr kritischer Artikel zum neuen Gebäude der Fondation Vuitton in Paris ist eine Zeitlang von der Website von Le Monde verschwunden, jetzt aber wieder publiziert. Jean-Michel Tobelem beschuldigt die Unternehmensstiftung von LVMH allzu virtuoser Steuertricks: "Das Unternehmen setzt sich die Perspektive der Steueroptimierung und lässt die Gesamtheit der Franzosen mehr als die Hälfte der Kosten der Stiftung bezahlen, die die angekündigten 100 Millionen Euro weit übertreffen. Angesichts der Budgetnot sind diese Kosten keineswegs zu vernachlässigen."


Foto: Dogan Koc, Twitter. Erdogan"s $350M presidential palace called Aksaray(white palace)@AlMonitor

Man muss allerdings sagen, dass die Pariser diese "Machtgeste" begeistert übernommen und sich auf den verschiedenen Terrassen des Gebäudes - von denen man einen großartigen Blick auf Paris hat - von der Sonne bescheinen lassen. Ähnlich läuft es in Ankara, wo Präsident Erdogan sich - ohne Baugenehmigung! - einen prächtigen Palast errichten lässt, berichtet Veronika Hartmann in der NZZ: "Kritische türkische Medien hingegen berichten, dass Erdogans neue Residenz jedes Maß sprengt. Buckingham Palace schafft es auf 750 Zimmer, keine 1000. Der Vatikan, immerhin ein ganzer Staat, verfügt gerade einmal über 44 000 Quadratmeter, das ist etwas mehr als ein Zehntel des neuen Amtssitzes. Aber gerade deswegen gefällt es den Friseuren, Hausfrauen und Bäckern von Kasimpasa so gut, dass sich "ihr" Präsident, den sie alle von nah oder fern kennen, so ausbreitet."
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Bühne

Für den Gastauftritt der Deutschen Oper mit Puccinis Oper "Manon Lescaut" in Oman hat man das Stück etwas züchtiger gestaltet, berichtet Kerstin Krupp in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden Jan Bosses "Dantons Tod"-Inszenierung in Wien (taz) und Leos Janáceks "Die Sache Makropulos" (Standard).
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Film


Marion Cotillard in "Zwei Tage, eine Nacht"

"Zwei Tage, eine Nacht", den neuen Film der Brüder Dardenne über eine Frau, die im Betrieb in eigener Sache Wahlkampf macht, kann Nino Klingler von critic.de nur wärmstens empfehlen. Insbesondere reizt den Kritiker die enorme ästhetische Feinfühligkeit: Bei den Dardennes zeichne sich zusehens ab, "wie innig ihre dokumentarische Sensibilität mit dem Wunsch nach Unterhaltung vermählt ist, auch wenn sie nicht (...) etablierte Genretraditionen fortschreiben. Sie entleihen einfach der Action die Körperlichkeit, dem Thriller die Spannung, dem Melo das Drama, und tauschen alles andere aus, zuvorderst die Figuren (kleine, unperfekte Existenzen) und ihre Konflikte (gewöhnliche, lebensweltliche Probleme). Die Folge ist, dass sie über die Genre-Bande die Wirklichkeit dramatisieren und nicht die Fiktion nur realistisch aufpolstern."

Auch Christiane Peitz vom Tagesspiegel staunt darüber, mit welcher filmischen Präzisionsarbeit die beiden Regisseure die "Reste der Menschlichkeit in postkapitalistischen Zeiten" erkunden. Vom Anschein der Improvisation in diesem Film über die Wichtigkeit der Solidarität möge man sich nicht in die Irre führen lassen, warnt Martina Knoben in der SZ: "Jedes Detail [ist] kunstvoll gestaltet." Eine knappe Besprechung bringt auch die FAZ.

Weitere Artikel: Auf epdFilm macht sich Gerhard Midding Gedanken über das Licht im Film. Für den Freitag hat sich Thomas Groh die BluRay des wütend politischen Italowesterns "Töte, Django" von Giulio Questi angesehen. Und ein Stöberlink: Das Tumblr Film Archivist"s POV bringt schöne Scans von alten Filmstreifen - hier beispielsweise träumt Christopher Walken in Abel Ferraras "The Addiction".

Besprochen wird "5 Zimmer Küche Sarg", eine Persiflage auf das Vampirgenre der neuseeländischen Autoren und Regisseure Taika Waititi und Jemaine Clement (Standard).
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Literatur

Der Auftritt Helmut Schmidts prägte die Trauerfeier für Siegfried Lenz maßgeblich, berichtet Till Briegleb in der SZ. Tobias Lehmkuhl berichtet in der SZ von der Buchmesse Belgrad, wo er beobachtet, dass der stationäre Buchhandel die Innenstadt bestimmt, während E-Books im Lande keine Rolle spielen. Joachim Güntner resümiert in der NZZ die Rede der Merck-Preis-Trägerin Carolin Emcke.

Besprochen werden Hanna Johansens Tagebuch "Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte" (NZZ), Paul Austers "Bericht aus dem Innern" (FR), Botho Strauß" "Herkunft" (Zeit), Max Goldts "Chefinnen in bodenlangen Jeansröcken" (Berliner Zeitung), Marine Blandins Comic "Eine nautische Fabel" (Tagesspiegel), Norbert Niemanns "Die Einzigen" (SZ) und Michel Houellebecqs Gedichteband "Gestalt des letzten Ufers" (FAZ).
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Musik

Nahezu restlos begeistert ist Philip Sherburne (Pitchfork) vom neuen Album "Ruins" von Grouper: "Achingly beautiful", lautet sein Fazit. "Ruins has a vivid sense of place. ... Even without knowing the particulars of the album"s backstory, the naked recording means that you can practically picture the room in which it was made-the worn floorboards, or maybe ceramic tiles, dusted with sand; the stucco walls, slightly damp; the steam rising from a cup of tea near the upright piano." Hier das aktuelle, hypnotische Video, stilecht gedreht auf 16mm:



Ein echtes Highlight ist das neue Album "Black Metal" von Blunt geworden, schwärmt Julian Weber in der taz. Anders als der Titel erwarten lässt, geht es hier aber nicht satanistisch drastisch, sondern eklektizitisch bis feinfühlig zu: Die Musik ist "mal euphorisiert treibend, mal hochtourig tuckernd. In anderen Momenten klingen die Songs dann verletzlich und verwundbar, sodass man geneigt ist, von einem Singer-Songwriter-Album zu schreiben. Blunt hält eben nicht die eine Erzählebene mit nur einer Klangsignatur aufrecht. In seiner Musik kommt vieles auf eine Weise zusammen, wie man es noch nie in einem Zusammenhang gehört hat."

Besprochen werden ein Konzert von Elina Garanca in Frankfurt (FR), Austropop der Wiener Band Wanda mit ihrem Album "Amore" (Standard) und Konzerte von Christian Wolff und Harrison Birtwistle in München (FAZ).
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Kunst


Diego Velazquez: Venus mit dem Spiegel (Rokeby Venus)

Das Kunsthistorische Museum in Wien präsentiert derzeit eine große Velázquez-Ausstellung. Im Standard liefert Anne Katrin Fessler ein kurzes Porträt des Malers als "Porträtist der Habsburger Goscherln". In der Presse notiert eine hingerissene Sabine B.Vogel: "Vom Papst bis zu Teppichwirkerinnen und Narren, immer behandelte er seine Motive in einer Kombination streng naturalistischer Darstellung mit geschickt gesetzten Glanzlichtern und wunderbaren, rein malerischen Partien. "Maler der Wahrheit" steht auf dem Sockel des Velásquez-Denkmals in Sevilla - eine bis heute gültige Zuschreibung, die in den über 50 Bildern jetzt im KHM studiert werden kann."


Wilhelm Heise, Verblühender Frühling - Selbstbildnis als Radiobastler, 1926. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München

Mit einem instruktiven Artikel (NZZ) führt uns Hanne Weskott durch die Ausstellung "Menschliches, Allzumenschliches" mit Werken der Neuen Sachlichkeit im Münchner Lenbachhaus: "Die Neue Sachlichkeit ist einer der vieldeutigsten Stilbegriffe der Kunstgeschichte, weil er die Haltung der Künstler gegenüber der Realität über deren Art zu malen stellt und diese als sachlich, distanziert benennt. Das aber trifft vielleicht noch auf Christian Schad mit seinem Bild "Operation" von 1929 zu, aber keineswegs auf George Grosz, Georg Schrimpf, Otto Dix und Josef Scharl und auch nicht auf ... Erna Dinklage und Lotte Laserstein. Vielmehr ist unter dem Dach der Neuen Sachlichkeit alles versammelt, was zwischen den beiden Weltkriegen an realitätsbezogener und gegenständlicher Kunst in Deutschland entstanden ist."

Mit sanfter Skepsis reagiert Ingo Arend in der taz auf die Ankündigung, dass die Documenta künftig dauerhaft zweigeteilt in Kassel und Athen stattfinden solle: Documenta-Begründer "Bode ging es 1955 in Kassel um ästhetischen Wiederaufbau, er wollte das Nachkriegsdeutschland mit der von den Nazis als "entartet" geschmähten Moderne und Avantgarde versöhnen. Das ist etwas anderes als der ökonomisch-soziale Wiederaufbau, der im krisengeschüttelten Griechenland jetzt so dringlich wäre. ... Derlei ästhetische Entwicklungshilfe braucht Griechenland nicht. Und wenn, müsste der Impuls, sich am Kunstschopf aus dem Krisensumpf zu ziehen, dann nicht von innen kommen?"

Weitere Artikel: Der Tagesspiegel bringt einen Öko-Essay des Künstlers Olafur Eliasson, in dem dieser seine Kopenhagener Eisschmelze-Aktion zum Protest gegen den Klimawandel erklärt. Ebenfalls im Tagesspiegel porträtiert Anna Pataczek einige von Olafur Eliassons Absolventen an der UdK Berlin. Joseph Hanimann (SZ) hat dem Musée Picasso in Paris nach dessen Umbau und Neuhängung einen Besuch abgestattet.

Besprochen werden Jenni Tischers Ausstellung "Pin" rund um die Kunst des Nähens im Wiener Mumok (Presse), die Ausstellung von Ara Gülers Istanbul-Fotografien im Willy-Brandt-Haus in Berlin (taz, mehr), die Ausstellung "Kunstraub-Raubkunst" im Staatlichen Museum in Schwerin (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Ludwig goes Pop" im Museum Ludwig in Köln (FR), die Ausstellung "Menzels Soldaten" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (Tagesspiegel) und Wim Wenders" Dokumentarfilm über den Fotografen Sebastião Salgado (Berliner Zeitung).
Archiv: Kunst