Efeu - Die Kulturrundschau

Ekstatisch enthemmt bis zur Rauhbauzigkeit

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01.11.2014. The New Criterion und der Freitag fragen, wie klein die Sünden von Brecht und Enzensberger wirklich waren. Cargo und critic.de berichten von der Viennale. Die FAZ versinkt in Gérard Depardieus Abhandlungen über das Furzen. Die NZZ hört klangsinnliche Akte des Widerstands von Christian Wolff. Die Berliner Zeitung würde Jazz gern mal nicht im Plusquamperfekt denken. Die taz begutachtet perfide Selbstinszenierungen des Terrors durch Stasifotografen. Die FR fragt sich vor den Werken von Elaine Sturtevant: Was ist innovativ?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.11.2014 finden Sie hier

Literatur

Anthony Daniels liest in The New Criterion eine neue Brecht-Biografie von Stephen Parker. Man kann nicht sagen, dass ihm der Autor dadurch sympathischer wurde: "Wohin immer man in seinen Stücken blickt - etwa auf Galileos moralische Zwiespältigkeiten (Brecht, nie bescheiden, verglich sich mit Galileo, wenn nicht Shakespeare), findet man Selbstrechtfertigung. Brechts berühmteste moralische Maximen in seinen Stücken - erst das Fressen, dann die Moral und Bankraub ist nichts im Vergleich zur Gründung einer Bank - dienen nur dazu, seine eigenen Betrügereien und Heucheleien, zu Bagatellen zu erklären."

A propos Bagatellsünden in der eigenen Vergangenheit. So ganz mag Michael Angele im Freitag Hans Magnus Enzensberger seine Leichtigkeit in dessen Erinnerungen an die Wilden Jahre nicht abnehmen: "Wer keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Überzeugungen und Hosen macht - beide können einen gut kleiden, aber man sollte sie wechseln, bevor sie anfangen zu riechen -, der kann locker zugeben, dass er sich in einer "Einschätzung" getäuscht hat."

Weitere Artikel: Der an Herbstdepressionen leidende Schriftsteller Uli Hannemann formuliert in der taz seinen sehnlichsten Wunsch: "Ach, wäre ich doch wenigstens ein depressiver Clown." Für die taz liest Christoph Haas die aktuellen Fortsetzungen des Abenteuercomic-Klassikers "Blake und Mortimer". Im Tagesspiegel freut sich Björn Bischoff über den beherzt in Pulp und Trash wühlenden Webcomic "Survivor Girl" von Christopher Tauber und Ingo Römling.

Besprochen werden Bodo Kirchhoffs "Verlangen und Melancholie" (Zeit), Ted Thompsons "Land der Gewohnheit" (ZeitOnline), Esther Kinskys "Am Fluss" (Leseprobe "Vorgeblättert") (taz), John Hawkes" "Die Leimrute" (taz), Roland Jahns "Wir Angepassten" (Berliner Zeitung), Georg Stefan Trollers "Mit meiner Schreibmaschine" (FAZ), die 2012 aktualisierte Ausstellung im Grass-Museum in Lübeck (NZZ) und Heiner Müllers lyrischer Nachlass "Warten auf der Gegenschräge", zu dem Annett Gröschner in der Welt schreibt: "Aber liest man sie chronologisch von den späten Vierzigerjahren bis 1995, ist deutlich zu sehen, wie Ezra Pound sich in den Kopf des Autors stalinistischer und maoistischer Auftragsballaden setzt und da kleben bleibt bis zum Ende, während die -ismen zersplittern und Gewissheiten dem grundsätzlichen Zweifel über den Zustand der Welt Platz machen."
Archiv: Literatur

Film

Die ersten Notizen von der Viennale treffen ein. Für Cargo ist Nikolaus Perneczky vor Ort, der nicht nur über aktuelle Auseinandersetzungen zwischen dem Filmmuseum, dem neu eröffneten Kino des Filmarchivs Wien und dem ohnehin nie um ein starkes Wort verlegenen Viennale-Leiter Hans Hurch berichtet (so wunderbar spitz debattieren auch wirklich nur die Österreicher: hier Stephan Grissemanns Recherchen zum Filmarchiv, hier Hurchs erboste Replik samt Kommentar durch Grissemann), sondern auch - neben Klassikern von John Ford im Filmmuseum - aktuelle Filme gesehen hat. Besonders begeistert hat ihn Hong Sang-Soos neuer Film "Hill of Freedom" (hier auch besprochen auf kino-zeit.de): Hier "tröstet das Wesentliche über den Verlust des Eigentlichen hinweg." Critic.de hat Michael Kienzl nach Österreich entsandt. Auch er nutzt die Möglichkeit, im Filmmuseum John-Ford-Filme zu sehen, und freut sich über eine Hommage des Festivals an Harun Farocki.

Das erwartbare Monument des Exzesses ist Gérard Depardieus Autobiografie geworden, erfahren wir von Jürg Altwegg in der FAZ, dem bei der Lektüre tatsächlich gar nichts erspart blieb: "Abhandlungen über das Furzen füllen mehrere Abschnitte. Da bläst ein frischer Wind ins Gesicht des Establishments." Außerdem befragt Jürn Kruse von der taz den dänischen Serienmacher Ingolf Gabold (unter anderem "Borgen") nach dem Geheimnis seines Erfolgs.

Halloween gut überstanden? Fact kürt die 100 besten Horrorfilm-Soundtracks und Film Comment liefert mit diesem Videoessay über Hexen im Film das passende Wochenend-Video:

Archiv: Film

Bühne

Besprochen werden Wolfgang Rihms Kammeroper "Jakob Lenz" in Stuttgart (NZZ) und Andrea Breths "Jakob Lenz"-Inszenierung an der Oper Stuttgart (FR).

Archiv: Bühne

Musik

Marco Frei besuchte für die NZZ in München ein Festival zum achtzigsten Geburtstag von Christian Wolff, dem letzten lebenden Repräsentanten der New York School of Composers. Bei der Uraufführung des Stücks "Encouragement" für Perkussion und Streicher lernt Frei, dass Abstraktion nicht das einzige wesentliche Element in Wolffs Musik ist: "Wo der Fokus auf dem Orchester lag, faszinierte es zu hören, wie Wolff das Kollektiv infrage stellt, indem er es in seine Einzelteile zerlegt - durch Ausdünnung bis zur Einzelstimme. In Zeiten gesellschaftlicher Uniformierung stellt diese Individualisierung einen Akt des Widerstands dar. Freilich muss auch diese Freiheit eine Utopie bleiben, weil schon die Konvention des Beifalls am Ende jede Individualisierung aufhebt; ebendiese Reibung wirkte aber umso politischer. Darüber hinaus kreierten die Musiker eine Klangsinnlichkeit, die der Abstraktion ihre Sperrigkeit nahm."

Hier eine Vorlesung von Wolff über experimentelle Musik:



Offenkundig wenig Freude hat Jens Balzer beim Auftakt des Jazzfests Berlin, das "mit einigen überwiegend uninteressanten Konzerten (...) begonnen" hat. An die Adresse von Thomas Oberender von den Berliner Festspielen schreibt er: "Wären Sie als Intendant, sofern Ihnen am Fortbestand dieses Ihres Festivals liegt, nicht gut beraten gewesen, einmal ein Zeichen dafür zu setzen, dass man Jazz nicht nur im Plusquamperfekt denken kann?" Auch Thomas Mauch von der taz hält den Beginn des Festivals für "ein wenig brav und betulich".

Eingeplante Bauzeiten können also auch unterschritten werden, freut sich Jan Brachmann (FAZ) über die fristgerechte Fertigstellung der neuen Hamburger Konzertlokalität Resonanzraum. Auch bei der Eröffnung durch das aus der Jungen Deutschen Philharmonie hervorgegangenen Ensemble Resonanz ging es hoch her, nämlich "ekstatisch enthemmt bis zur Rauhbauzigkeit. Der auflegende DJ am Schluss gehört zu den neuen Ritualen wie die Kleinteiligkeit des Programms. So reagiert man auf die Veränderung des Hörens, auf die Parzellierung unseres historischen Sinns und unserer lebensweltlichen Sphären zwischen Denken und Dösen."

Gary Suarez führt auf The Quietus durch aktuelle HipHop-Veröffentlichungen. Besprochen werden das neue Album "No One is Lost" von Stars (ZeitOnline) und die CD-Box "Calypso Craze" (taz).

Außerdem ziemlich toll: Das geradezu wie ein Art Anti-Clip wirkende, neue Musikvideo von Mouse on Mars (hier ein aktuelles Interview auf De-Bug), inszeniert im übrigen von Klaus Lemke, wie man hier erfährt:


Archiv: Musik

Kunst


© Arwed Messmer unter Verwendung eines Fotoabzugs mit der Signatur BStU MfS HA XX Fo 774. Nachstellung des Schleusungsversuchs zweier männlicher Personen im Kofferraum eines Mercedes-Benz W 111 mit Westberliner Kennzeichen, 1973

Arwed Messmers Ausstellung "Reenactment MfS" im Berliner Haus am Kleistpark ist gerade im Gedenkjahr zum Mauerfall besonders wichtig, meint in der taz Ingo Arend. Die Ausstellung zeigt nämlich zu Propagandazwecken inszenierte Fotografien der Stasi: Es handelt sich dabei um "ein eindrückliches Zeugnis der perfiden Selbstinszenierung des Terrors. Doch so dokumentarisch, so echt sie auch scheinen mögen - in einem Gedächtnisjahr, das uns mit einer Kaskade historischen Bildmaterials überschwemmt, halten sie zugleich die beunruhigende Botschaft bereit, niemals dem scheinbar authentischen Bild zu trauen."

Elaine Sturtevant wurde berühmt für ihre originalgetreuen Nachbildungen berühmter Pop-Art-Werke. Jetzt sind ihre Zeichnungen im Frankfurter Museum für Moderne Kunst ausgestellt, und noch immer stellen sich für FR-Rezensentin Sandra Danicke Fragen über Wesen und Eigenschaften von Kunst: "Warum um alles in der Welt halten wir ein Bild für Kunst, was genau sind die Komponenten, die es dazu machen? Was bezeichnen wir als authentisch, was als innovativ?"

Weitere Artikel: In der NZZ vermutet Claudia Schoch, dass sich der Stiftungsrat des Berner Kunstmuseums am 26. November für eine Annahme der Sammlung Gurlitt entscheiden wird. Ebenfalls in der NZZ denkt Benno Schubiger in einem ausführlichen Artikel darüber nach, wie sich "Period Rooms" in ein Museumskonzept einbinden lassen.

Besprochen werden die Will-McBride Ausstellung im C/O Berlin (taz), die Ausstellung mit Kontaktabzügen der Magnum-Fotografen, ebenfalls im C/O Berlin (FAZ), und Wim Wenders" Dokumentarfilm "Das Salz der Erde" über den Fotografen Sebastião Salgado (FAZ).
Archiv: Kunst