Efeu - Die Kulturrundschau

Im rauen Wind der Illusionslosigkeit

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07.11.2014. Mit der Verleihung des Prix Goncourt an Lydie Salvayre sind die französischen Sprachpuristen über ihren Schatten gesprungen, freut sich der Tages-Anzeiger. Die FR berauscht sich in der Schirn an deutscher Pop Art. Was ist eigentlich so deutsch am Krautrock, fragt Diedrich Diederichsen nach der Lektüre von David Stubbs' Studie "Future Days". Die SZ vergewissert sich in Paris, dass Heiner Müllers "Der Auftrag" nichts von seiner Wirkungskraft verloren hat. Und nach dreißig Jahren erscheint Sam Fullers Pulp-Roman "Brainquake".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.11.2014 finden Sie hier

Literatur

Nicht nur, weil Lydie Salvayre bisher nur den Wenigsten ein Begriff war, ist die Verleihung des Prix Goncourt eine Überraschung, sondern vor allem auch, weil die franko-iberische Autorin in ihrer literarischen Sprache, die sie selbst als "Frañol" bezeichnet, "dem Französischen stellenweise nur approximativ begegnet", wie Oliver Meiler im Tages-Anzeiger erläutert: "Es ist die schöne Sprache der Weltenwanderer, der Grenzquerer in der Not, der Saisonniers und der Flüchtlinge. Eine geschusterte Sprache aus Behelfswörtern zur Bewältigung des Alltags in der Fremde - mit falschen Betonungen, in unvollendeter Grammatik und voller hübscher Annäherungen ans Original. Der Kuchen etwa, auf Spanisch "pastel", ist nicht "le gâteau", sondern "le gató" - mit Betonung auf der letzten Silbe." (Auf die Idee, dass man das im Französischen nicht auf der letzten Silbe betont, kommen allerdings wohl nur Schweizer.)

In der SZ gibt Florian Kessler launige Thesen zum Open-Mike-Wettbewerb in Berlin zum Besten. Besprochen werden unter anderem Samuel Becketts Briefe aus den Jahren 1941 bis 1956 (FAZ), Pierre Christins und Olivier Balez" Comicbiografie über den New Yorker Stadtplaner Robert Moses (Tagesspiegel), Peter Lichts "Lob der Realität" (FAZ, mehr) und Marko Martins Mauerfall-Buch "Treffpunkt "89", das der Autor Michael Kleeberg in der SZ gerne als Schullektüre sähe.
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Film

Mit dem allergrößten Vergnügen hat Michael Atkinson den zwar schon in den 80ern geschriebenen, aber erst jetzt veröffentlichten Pulp-Roman "Brainquake" des Haudegen-Regisseurs Samuel Fuller gelesen. Auf der Website des DVD-Labels Criterion schwärmt er: ""Brainquake" is every inch the unleashed all-American bad-time story, bursting with underworld know-how, rotten crime shit, lurid misfortune, and bulldozed innocence... The book"s recognizable and rather adorable tough-mug voice feels decades out of date and yet somehow timeless, just as, say, Fuller"s "Shock Corridor" (1963) or even "White Dog" (1982) pulse with a retrogressive hysteria that"s still as muscular and scalding as the oldest blues recordings or the last Goya paintings."

In der taz schwärmt Silvia Hallensleben vom 16mm-Filmprogramm "Revolutionen in 16mm" der Viennale: "Jeder einzelne Film dieser in körnigem analogem Filmschmelz erleuchteten "Revolutionen" [war] in seiner im Hier und Jetzt stattfindenden einmaligen Aufführung ein unwiederbringlicher visuell-sinnlicher Hochgenuss."

Vor 25 Jahren feierte der Schwulen-Film "Coming Out" als letzter DDR-Film in der Nacht des Mauerfalls Premiere, schreibt Steven Geyer in der Berliner Zeitung. Urs Bühler stattet für die NZZ der Chaplin Association in Paris einen Besuch ab, die das Erbe Charlie Chaplins verwaltet.

Besprochen werden Christopher Nolans "Interstellar" (Jungle World, Film Comment, FR, Perlentaucher, mehr), Laura Poitras" Snowden-Dokumentarfilm "Citizenfour" (Jungle World, Perlentaucher), die Batman-Prequel-Serie "Gotham" (ZeitOnline), Mike Leighs Biografie "Mr. Turner" über den Maler William Turner (FR, Tages-Anzeiger, SZ), Jessica Hausners Kleist-Film "Amour Fou" (Presse, Standard), "Im Labyrinth des Schweigens", der sich mit dem Auschwitzprozess befasst (ZeitOnline), Rob Reiners Liebeskomödie "Das grenzt an Liebe" (Tagesspiegel) und Claus Wischmanns Doku "Karneval" (FAZ).
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Musik

Für die taz hat sich Diedrich Diederichsen durch "Future Days", David Stubbs" bislang nur auf Englisch vorliegende Geschichte des Krautrocks, gelesen. Zwar hält er das Buch durchaus für empfehlenswert, doch stört er sich mitunter etwas sehr an der Eingrenzung auf einen musikalischen Nationalstil: Die genannten Bands spielten seinerzeit "auf Konzerten mit ganz ähnlich klingenden britischen, italienischen, niederländischen oder französischen Kollegen ... Man könnte allenfalls argumentieren, dass die relative Prosperität der BRD und Besonderheiten des Kulturlebens, wie ein Feuilleton, das Cosmic-Rock-Gurus wie Rolf Ulrich Kaiser und Pop-Intellektuelle wie Helmut Salzinger und Uwe Nettelbeck hervorbrachte, es ermöglichten, dass manche Leute einen längeren Atem hatten fürs Weirde hatten." Hier kann man in dem Buch schmökern, weitere Besprechungen gibt es im New Statesman, in der Financial Times und im Guardian.

"Schön taub" und darüber sehr glücklich verlässt unser liebster Extremklang-Forscher Jens Balzer (Berliner Zeitung) das von Iancu Dimitrescu im Berghain dirigierte Konzert des Hyperion Ensembles. Sehr freudig stellt Daniel Kortschak in der FR das neue, rein digital erscheinende Tablet-Magazin VAN vor, das im ansprechenden Design und unter Ausschöpfung multimedialer Möglichkeiten über klassische Musik berichten will. Im Tagesspiegel spricht Jenni Zylka mit Blixa Bargeld über die in Belgien aufgeführte Einstürzende-Neubauten-Performance "Lament", zu der auch eine CD erscheint.

Besprochen werden neue Alben von Tweedy (FAZ), Pink Floyd (Welt) und Grouper (taz), sowie Konzerte von Edita Gruberova (Tagesspiegel), Lenny Kravitz (Tagesspiegel) und Foxygen (Tagesspiegel).
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Kunst


Christa Dichgans: "Stillleben mit Frosch", 1969. Foto: Jochen Littkemann

In der FR freut sich Sandra Danicke über die Ausstellung "German Pop" in der Schirn, bei der sich unter anderem die weitgehend in Vergessenheit geratenen Künstlerinnen Christa Dichgans und Bettina von Arnim wiederentdecken lassen: "Man steht davor und kann es kaum glauben: Sehr präzise gemalt liegen Aufblasfiguren wie Batman, Seepferdchen und Delfin auf scheinbar achtlos drapierten Haufen vor weißem Hintergrund. Die Farben knallen. Mittendrin ein Aufblas-Häschen, ein pinkfarbener Hummer. Unwillkürlich denkt man an frühe Werke von Jeff Koons." Die FAZ hat Rose-Maria Gropps Besprechung mittlerweile auch online gestellt.

Außerdem hat Danicke Pauline M"bareks Ausstellung "Formen der Berührung" im Frankfurter Kunstverein gesehen, die sie für sehr stringent und suggestiv hält. Als Leitmotiv der Künstlerin identifizierte sie dabei jene "seltsamen Kippmomente, in denen das Alltägliche plötzlich surreal wirkt."

Im Freitag berichtet Christine Käppeler von der Eröffnung des C/O Berlin. Die Zeit bringt eine Strecke mit Fotos vom LagosPhoto Festival (mehr). Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotografien von Eva Leitolf in der Galerie Kehrer in Berlin (taz), die Werkschau der Konzeptkünstlerin Cosima von Bonin im Mumok Wien (Welt), die Ausstellung "Die grosse Illusion - Veristische Skulpturen und ihre Techniken" im Liebighaus Frankfurt (NZZ), die große Turner-Schau in der Tate Britain (FAZ) und die Ausstellung "Fantastische Welten" im Städel ("durchweg faszinierend", staunt Dieter Bartetzko in der FAZ).
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Bühne

Für durchaus gelungen hält Joseph Hanimann (SZ) Michael Thalheimers Inszenierung von Heiner Müllers "Der Auftrag" am Pariser Théâtre National de la Colline, nicht zuletzt, weil es Thalheimer gelingt, die Aktualität des Stücks unter Beweis zu stellen: "Müllers laute Geschichtsspekulation quer durch die Jahrhunderte beweist auch heute noch ihre Wirkungskraft - die großen Worte der Utopie, sie flattern im rauen Wind der Illusionslosigkeit."

Das Berliner Ensemble führt keinen offiziellen Twitter-Account, auch wenn dieser hier den Anschein erweckt, hat Ulrich Seidler (Berliner Zeitung) recherchiert. Julian Hans schreibt in der SZ den Nachruf auf den Schauspieler Alexej Dewotschenko.

Besprochen werden Marcus Lobbes im Berliner Theater an der Parkaue aufgeführtes Stück "Berlin-Friedrichstraße" (Tagesspiegel), die Ausstellung "Mein Kamerad - die Diva" im Schwulen Museum Berlin über Theater an der Front und in Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs (Nachtkritik) sowie Stings in New York aufgeführtes Broadway-Musical "The Last Ship" (FAZ).
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