Efeu - Die Kulturrundschau

Die größte Lüge der Welt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2014. In der Presse erklärt der Dokumentarfilmer Hubert Sauper, warum man in Afrika nie aus seiner Rolle als Kolonialist herauskommt. In der FR erklärt die Kunsthistorikerin Monica Juneja, warum die Kunstgeschichte von ihrer nationalen Identität befreit werden muss. Die taz erlebt sibirischen Patriotismus. Der Standard hört ein Schneewittchen de luxe mit prachtvollem Koloratur-Mezzo. Am Deutschen Theater schlafen sich die Theaterkritiker durch Stefan Puchers "Baal".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.12.2014 finden Sie hier

Film



Drei Jahre lang ist der Kärtner Filmemacher Hubert Sauper für seinen Dokumentarfilm "We come as friends" durch Afrika geflogen. Im Interview mit der Presse erklärt er seine Rolle als weißer Regisseur in Afrika: "Wir haben immer gesagt "We come as friends". Das ist der Slogan und die größte Lüge der Welt. Kolonialisten sind nie Freunde. Wir mussten ihnen einfach erklären, dass wir keine Bomben abwerfen, aber auch, dass wir nicht fünf Tonnen "biscuits" mitbringen. Wir haben teilweise auch etwas gemacht, was nicht im Film vorkommt: Wir haben mit einem Projektor Filmmaterial von unserem eigenen Flug vorgeführt. Die Kinder haben sich sehr gefreut. Und wir haben das gefilmt, also wie wir als "white heroes" im Kriegsgebiet super nett sind. Dieses typische NGO-Gehabe von den Rettern und Erlösern. Im Film geblieben sind nur die unklaren Situationen." (Hier unsere Berlinale-Kritik zu dem Film)

Außerdem: Hanns-Georg Rodek besucht - nach der Kanzlerin - für die Welt die Dreharbeiten zu Steven Spielbergs neuem Film an der Glienicker Brücke: Berliner werden nie glauben, welche Straße als Kurfürstendamm herhalten soll!

Ganz und gar hervorragend: Im Wald, allein, auf der Flucht vor Hollywood-Star Shia LaBeouf:


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Literatur

Natascha Freundel hat für die taz die Autoren Marcel Beyer, Ann Cotten, Angelika Meier und Roman Ehrlich bei ihrer vom Goethe-Institut ausgerichteten Reise ins verschneite Sibirien begleitet. Zu einem echten Gespräch mit den Zuhörern scheint es aber nie gekommen zu sein, beobachtet sie: ""Ja", bestätigte Swetlana Tarasowa, die Direktorin der Gebietsbibliothek Nowosibirsk und Organisatorin des Festivals, meinen Eindruck: "Nach Jahren der nach Westen und Osten gerichteten, weit aufgerissenen Augen besinnen wir uns endlich auf uns selbst, auf unsere Geschichte, unsere Werte." Das Bedürfnis nach Patriotismus und Heimat sei in Sibirien deutlich zu spüren, erklärt sie wie selbstverständlich. "Ein Patriotismus zum Ersticken", meinte dazu ein Freund in Nowosibirsk..."

Anne-Catherine Simon unterhält sich für die Presse mit dem Autorenduo Bastian Zach/Matthias Bauer, die mehrere Romane und das Drehbuch zum Wikingerfilm "Northmen" zusammen verfasst haben. Für die Jungle World hat Jakob Hayner die Tagung "Reiche Gesellschaft" der Peter-Hacks-Gesellschaft besucht. Jens-Christian (SZ) berichtet unterdessen von einer Münchner Susan-Sontag-Tagung.

Besprochen werden Verena Günters "Es bringen" (Tagesspiegel), Andy Weirs Science-Fiction-Roman "Der Marsianer" (Freitag), David Nicholls" Familiengeschichte "Drei auf Reisen" (Nicholls schreibt "zurzeit wohl die beste Beziehungsbelletristik im angelsächsischen Raum", meint Doris Kraus in der Presse), Max Kübecks Familiensaga "Die blaue Brosche" (Standard), Elisabeth Klars Debütroman "Wie im Wald" (Standard) und eine dem Lyriker Bert Papenfuß gewidmete Ausstellung in der Landesbibliothek in Schwerin (FAZ).

In der Frankfurter Anthologie der FAZ (jetzt online) stellt Kerstin Holm Marina Zwetajewas Gedicht "An Deutschland" vor:

"Germanien, alle Völker hassen
Dich jetzt und hetzen gegen dich.
Ich aber will dich nie verlassen.
Verraten gar - wie könnte ich? ..."
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Kunst

Kulturen sind immer Produkte interkultureller Kommunikation, erklärt Monica Juneja den an ihrem Lehrstuhl vertretenen Forschungsansatz einer globalen Kunstgeschichte im FR-Gespräch mit Arno Widmann: "Die europäische Kunstgeschichte - wie übrigens viele andere - ist ein Produkt der Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. Sie arbeitete mit an der Bildung des Nationalbewusstseins, der Entwicklung einer nationalen Identität. Sie wollte deren Einzigartigkeit, gerade nicht deren Verflochtenheit, zeigen. Von dieser Herkunft muss die Kunstgeschichte befreit werden."


Gian Lorenzo Bernini, Karikatur von Papst Innozenz XI, 1676-1680

Mit großer Begeisterung führt Frank Zöllner für die Zeit durch die große Bernini-Ausstellung im Leipziger Museum der bildenden Künste (mehr), bei der sich einige Entdeckungen machen lassen: "Weniger der altbekannte Bernini der großen Geste steht im Mittelpunkt, sondern der virtuose Zeichner, der mit unerschöpflicher Fantasie begabte Entwerfer sowie der kreative Organisator und Kommunikator komplexer Werkprozesse."

Das "kränkelnde Leitmedium" FAZ richtete vergangene Woche in Nicolas Berggruens Berliner Café Moskau seine dritte Kunstkonferenz aus, auf der über die Macht von Sammlern und Kuratoren diskutiert wurde, berichtet Ingo Arend in der taz, der den Abend auch als Imagepolitur der FAZ begreift: "750 Euro mussten Interessierte hinblättern, um an dem Wissenstransfer der hochkarätigen "Knowledge-Partner" zu partizipieren. Diese erhielten für ihre Vorträge kein Honorar, sondern wurden mit dem symbolischen Kapital geködert, für einen Tag einem illustren Kreis anzugehören. Immerhin da glich die Konferenz den prekären Arbeitsbedingungen, auf der die gemeine Kunstwelt weithin gründet."

Weitere Artikel: Für wenige Tage sind Alexander von Humboldts Reisetagebücher in der Berliner Staatsbibliothek zu sehen: "Diese Blätter haben heroischen Charakter", schwärmt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. Julia Szyndzielorz berichtet in der Welt über Gregor Schneiders Warschauer Kunstaktion mit den Resten von Joseph Goebbels" Geburtshaus. Für die FAZ unterhält sich Andreas Platthaus mit Bernhard Maaz, dem neuen Generaldirektor der Münchner Staatsgemäldesammlung.

Besprochen werden die Dauerausstellung "Westen!" in der Villa Oppenheim in Berlin (Tagesspiegel) und eine Ausstellung zur Künstlervereinigung Hagenbund im Wiener Belvedere (Standard).
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Musik

Ein Konzert von Cecilia Bartoli mit Arien aus russischen Barockopern im Wiener Konzerthaus ließ den Standard-Rezensenten Stefan Ender mit offenem Mund zurück: "So macht es der Bühnenprofi: Zu ihrer vierten Zugabe setzte Cecilia Bartoli noch mal eins drauf und rauschte in großer winterlicher Ausgehgarderobe auf die Bühne des Großen Saals. Bodenlanger weißer Mantel, weiße Pelzmütze und Muff: Schneewittchen de luxe. Noch ein letztes Feuerwerk der Koloraturen, eine letzte Achterbahnfahrt der Emotionen, und das Publikum verließ nach zweieinhalb Stunden von Seligkeit durchwärmt das Wiener Konzerthaus in Richtung winterliche Kälte."

Junge Bands auf der Bühne, alte Indie-Veteranen im Publikum: Christian Werthschulte berichtet in der taz vom Kölner Week-End Fest. "Wenn man einen empirischen Beweis für die These braucht, dass Pop sich im Stadium von Retro und Musealisierung befindet, findet man beim Weekend-Fest reichlich Indizien. Die Kölner Instrumentalband Von Spar wandelte bei ihrem Auftritt so stilsicher zwischen Achtziger-Jahre-Synthie-Pop und überproduziertem Dudelradiorock, dass einige Zeitgenossen, die diese Musik noch aus ihrer Jugend kannten, den Auftritt wegen schlechter Erinnerungen lieber im Foyer verbrachten." Glücklicherweise konnten die Post-Punk-Klassiker von ESG das Publikum versöhnen.

Weitere Artikel: Für ZeitOnline plaudert Rabea Weihser mit der Band Erdmöbel über Weihnachtsmusik. Außerdem bringt ZeitOnline eine tolle Strecke mit Bildern aus einer Anthologie zum legendären Jazzlabel Blue Note Records.

Besprochen werden Grans neues Album "Chair" (Skug), ein Beethovenkonzert von Alexander Melnikovs und Jean-Guihen Queyras (Tagesspiegel), ein Konzert von Riccardo Chailly und Martha Argerich ("Hier ist ein Ich ganz bei sich, der Welt entrückt und ihr doch völlig zugehörig", schreibt Udo Badelt im Tagesspiegel), eine 21 CDs umfassende Kollektion mit allen von Charles Rosen für Columbia eingespielten Alben (FAZ) und eine Ausstellung der Musikerfotografien von Norman Seeff im Zephyr-Raum für Fotografie in Mannheim (FAZ).
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Architektur

In Berlin befasste sich eine Tagung mit Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie, die Ende des Jahres auf unbestimmte Zeit für eine Instandsetzung geschlossen wird, berichten Bernhard Schulz im Tagesspiegel und Stephan Speicher in der SZ.

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Bühne


Christoph Franken und Tabea Bettin in "Baal", Foto: Arno Declair

Wenig Begeisterung für Stefan Puchers Brecht-Inszenierung "Baal" am Deutschen Theater in Berlin. Matthias Weigel gähnt bei Nachtkritik aufs Herzhafteste: "Habe ich geschlafen? War ich wirklich im Theater? War überhaupt irgendwas? ... In zwei endlosen Stunden wird da ein einziges Vakuum erschaffen, dass man sich über die Leere nur wundert." Auch Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel fand den Abend fad: "Der knapp zweistündige Abend tut nicht weh. Keine Toten, keine Verletzten, nicht wirklich. Aber es tut weh, ein Stück wie "Baal" in historische Ferne gerückt zu sehen. Weit weg." Katrin Bettina Müller von der taz entdeckt in dem vom gerade mal 20 Jahre alten Brecht geschriebenen Stück eine Blaupause für viele spätere Scheusale aus der Pop- und Filmgeschichte. "Eine Theater-Show, die sich selbst genug ist", sah Mounia Meiborg (SZ).

In der Presse skizziert Wilhelm Sinkovicz die andauernde Faszination von Bergs "Lulu", die Olga Neuwirth "dekomponiert" hat.

Besprochen werden außerdem Jan Philipp Glogers Inszenierung von Elfriede Jelineks "Schatten (Eurydike sagt)" am Staatstheater Karlsruhe (der Text wirkt "ein wenig wohlfeil", meint Judith von Sternburg in der FR), das von Constanza Macras choreografierte Tanzstück "The Past" an der Berliner Schaubühne ("starker Abend", lobt Patrick Wildermann im Tagesspiegel), das vom Frankfurter Mousonturm als "Schlepperoper" annoncierte Stück "Orpheus in der Oberwelt" des Kollektivs andcompany & Co (FR), "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" am Theater Basel (NZZ), die Uraufführung der Verbrecherballade "Johnny Breitwieser" von Thomas Arzt in der Inszenierung von Alexander Charim am Wiener Schauspielhaus (Presse, Standard) und Stephan Kimmigs Inszenierung von Henrik Ibsens "Frau vom Meer" am Deutschen Theater Berlin (FAZ, mehr).
Archiv: Bühne