Efeu - Die Kulturrundschau

Provisorische Stillhalteanordnungen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2014. Nicolaus Harnoncourt wird morgen 85 und hat gerade die Entdeckung seines Lebens gemacht, erzählt er in der Welt. Der Wu-Tang-Clan versucht sich an einer Re-Auratisierung des Tonträgers zur Reliquie, berichtet der Freitag. Der Tagesspiegel lernt in einer Filmreihe, wie man verloren dahinaltert. Augen auf, Kuratoren! Ai Weiwei ist nicht der einzige regierungskritische Künstler in China, ruft die SZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.12.2014 finden Sie hier

Film


Vincent Macaigne in "2 Automnes 3 Hivers". Bild: Kino Arsenal.

Im Tagesspiegel freut sich Jan Schulz-Ojala über eine Reihe des Berliner Kino Arsenals mit Filmen des französischen Schauspielers Vincent Macaigne. Der ist Mitte 30 und seine Filme sind "allesamt Porträts einer Generation eher ohne Kinder, eher ohne feste Jobs, aber nicht offensiv berufsjugendlich, sondern einigermaßen verloren dahinalternd. Mit anderen Worten: allerneueste Nouvelle Vague, und Vincent Macaigne ist ein ziemlich unansehnlicher, aber lustig trüber Wiedergänger des Antoine Doinel."

Weitere Artikel: In der Welt antwortet Alan Posener dem Geschäftsführer des "FilmFörderFonds Bayern", Klaus Schaefer, der ihm in einem "Offenen Brief" vorgeworfen hatte, eine "Förderung des Kulturguts Film" mit Subventionen für die Filmindustrie zu verwechseln.

Außerdem hübsch: Eine arte-Doku über indische Wanderkinos.

Besprochen werden Ulrich Seidls "Im Keller" (Berliner Zeitung, SZ), Woody Allens "Magic in the Moonlight" (FR, mehr), Paul Kings "Paddington" (FR), Sang-il Lees Remake von Clint Eastwoods "Unforgiven" mit Ken Watanabe in der Hauptrolle (Welt), und Paul Haggis" "Dritte Person" (Berliner Zeitung).
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Bühne

Kerstin Holm berichtet in der FAZ vom Toleranz-Festival in St. Petersburg, das an zwei Tagen tief in die historischen Traumata nicht nur der russische Geschichte eintaucht: "Die geballte Wucht der Stücke soll die Leute auch vor dem, was in ihnen steckt, erschrecken lassen. Dafür lassen die Akteure sich von ihren Figuren entzünden, ohne sie zu sehr zu lieben oder umgekehrt zu denunzieren. Im Saal herrscht andächtige Stille."

Besprochen wird das von Janusz Jozefowicz mit 3D-Technik erweiterte polnische Musical "Polita" über die Stummfilmschauspielerin Pola Negri (Welt-Rezensent Stefan Grund ist hingerissen und freut sich schon auf Jozefowiczs neues Projekt, "Der Meister und Margarita" nach Bulgakow in 3D)
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Musik

Dirigent Nikolaus Harnoncourt, der morgen 85 wird, erzählt im Interview mit der Welt, was er gerne noch spielen würde (die Berg-Opern und Bartok): "Außerdem habe ich erst kürzlich die Entdeckung meines Lebens gemacht: dass die drei letzten Sinfonien von Mozart eigentlich ein Werk sind, eine Art instrumentales Oratorium. Ursprünglich war die Sinfonie - auch von Mozart selbst - vorwiegend zur Einleitung gedacht. Hier wurde sie zum Hauptwerk - und gleich als Trias! Er hat da etwas erfunden, was Beethoven in seinen großen Programmsinfonien Nummer fünf und sechs wieder aufgegriffen hat."

Neben seinem regulär veröffentlichten Album "A Better Tomorrow" hat der Wu-Tang Clan noch das auf ein einziges, in einer Schatulle aufbewahrtes Exemplar beschränkte Album "Once Upon A Time In Shaolin" aufgenommen, das man sich in Galerien und Museen anhören kann und demnächst höchstbietend versteigert werden soll, berichtet Arno Frank im Freitag. Diese Re-Auratisierung des Tonträgers zur Reliquie formuliere auch eine Kritik an der Entwertung der Musik im Zuge von Industrialisierung und Digitalisierung, meint er: "In diesem Objekt ist die alte Forderung des Hiphop nach respect an ihren Endpunkt gelangt - und transzendiert dort unversehens zu einer Forderung nach Respekt für jedwede Musik als künstlerische Ausdrucksform."

Weitere Artikel: Jan Freitag geht auf ZeitOnline vor dem neuen Album der Smashing Pumpkins auf die Knie. In der taz berichtet Theodora Mavropoulos von der misslichen finanziellen Lage griechischer Orchester, die verstärkt nach Privatsponsoren Ausschau halten. Und Philipp Rhensius staunt über die Erfolgsgeschichte des Online-Senders Boiler Room, der täglich zahlreiche DJ-Sets aus aller Welt live überträgt. In der NZZ gratuliert Max Nyffeler dem Dirigenten William Christie zum Siebzigsten.

Besprochen werden Konzerte von Bryan Adams (Tagesspiegel), Rural Alberta Advantage (Berliner Zeitung) und Inga Copeland (taz), der "Don Giovanni" in Brüssel (NZZ) sowie das Album "Versuch & Irrtum" von Smith & Smart (Tagesspiegel).
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Literatur

Von wegen alles in Tüten! In der Causa Suhrkamp darf wieder gezittert werden: Nun wurden Insolvenzverfahren und Umwandlung in eine Aktiengesellschaft neuerlich gerichtlich untersagt, wenn auch befristet, berichtet Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Andreas Zielcke meint dazu relativ gelassen in der SZ: "Solche provisorischen Stillhalteanordnungen gehören zum üblichen verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Standard, um dem Gericht die nötige Zeit für die eigentliche Prüfung und Entscheidung zu lassen."

Der Schriftstellerin Joan Didion zum 80. Geburtstag gratulieren Willi Winkler in der SZ und Sandra Kegel in der FAZ. Außerdem schreibt Gina Thomas in der FAZ zum 60. Geburtstag von Hanif Kureishi.

Besprochen werden unter anderem die Tagebücher von Christa Wolf und Erwin Strittmatter (Zeit), Ron Segals "Jeder Tag wie heute" (FAZ) und James Salters "Jäger" (SZ).
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Kunst

Wenn es um Kunst aus China geht, kommt erst Ai Weiwei, dann harmlose Ausstellungen der Diplomatie wegen und dann vielleicht noch als kritisch annoncierte Kunst, die sich aber mangels Kontext hierzulande nicht erschließt, ärgert sich Till Briegleb in der SZ. Währenddessen wurde die Kunst in China unlängst wieder ganz von oben auf staatstreue Linie gebracht: "Diese neuen Richtlinien würden auch für die Kunstkritik gelten, die nun kontrolliert werde, ob sie denn "die Wahrheit" schreibe. Dieser Versuch einer neuerlichen Kulturrevolution gegen die widerspenstige Intelligenz Chinas fand im Westen kaum Beachtung. Wenigen polemischen Kommentaren von Bloggern und Kolumnisten steht ein instrumentalisierter Ausstellungsbetrieb gegenüber, der sich mit dem ständigen Zitieren von Ai Weiweis kritischer Haltung die Rechtfertigung verschafft, beim Kuratieren beide Augen zuzudrücken."

Nach dem Foto-Herbst gibt es in Berlin nun einen Zeichnungs-Winter, meint Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. So zeigt die DB-Kunsthalle gerade Papierarbeiten von Sigmar Polke, Gerhard Richter, Georg Baselitz, Willem de Kooning, Arnulf Rainer und Neo Rauch aus der Sammmlung Frieder Burda. Die Exponate "funktionieren gänzlich als eigenständige Bilder, sind Zeugnisse dafür, wie der schöpferische Geist sich umweglos, intuitiv, spontan Ausdruck verschafft - aufs Papier fließt, kriecht, springt, sich schwingt. Als Niederschrift von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Fantasien."

Besprochen wird die Ausstellung "RealSureal - Meisterwerke der Avantgarde-Fotografie" im Kunstmuseum Wolfsburg (FAZ).
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