Efeu - Die Kulturrundschau

Destruktive Bildaneignung

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13.12.2014. Die NZZ bewundert die Décollagen der Affichisten. Die taz stellt Lynn Hershman Leeson vor: eine Künstlerin und Feministin, die sich seit 50 Jahren mit neuen Technologien beschäftigt. In der Welt versichert Anselm Kiefer in seiner Laudatio auf Alexander Kluge: "Für Sie beziehe ich gerne Prügel." Die SZ sucht den Telos in den großen Fernsehserien.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.12.2014 finden Sie hier

Kunst


Lynn Hershman Leeson, Breathing Machines (1966/1967), Wachsporträts mit Perücken, Sensoren und Ton

Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe widmet Lynn Hershman Leeson eine umfassende Retrospektive. In der taz bewundert Carmela Thiele die feministischen Arbeiten der seit 50 Jahren Gegenwartstechnologie aufgreifenden Künstlerin: "Eine Frau, noch dazu eine Feministin, die sich mit Neuen Technologien befasst! Dabei sind alle ihre Werke durchdrungen von einer existenziellen Energie, die im Hintergrund immer einen verletzlichen Menschen erahnen lässt. Ihr Fazit: "Ich versuche in der Gegenwart zu leben, weil die meisten Leute in der Vergangenheit leben. Wenn du in der Gegenwart lebst, denken die Leute, du lebst in der Zukunft, weil sie nicht wissen, was in ihrer Zeit passiert."" Mehr dazu auch auf SpiegelOnline.

Maria Becker besucht für die NZZ im Baseler Museum Tinguely eine Ausstellung zu den Affichisten, die sie erstaunlich modern findet: "Die kleine Gruppe von Künstlern, die Ende der vierziger Jahre den Plakatabriss als Readymade und Medium entdeckte, lebte in Paris und nutzte die Stadt als stets verfügbare Inspirationsquelle. Diese war Zentrum der modernen Verwerfungen und der Zeitschichten in höchster Verdichtung. ... Die künstlerische Entdeckung der Affichisten war die Décollage, eine Art Umkehrprozess der bildnerischen Klitterung."

Weitere Artikel: David Signer begleitet für die NZZ den Künstler Roman Signer nach China. In der Jungle World hält Gregor Katzenberg anlässlich der Ausstellung "Fette Beute - Reichtum zeigen" des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe ein Karl-Marx-Referat.

Besprochen werden die große Velázquez-Schau im Kunsthistorischen Museum Wien (NZZ), die Wiener Werkschau des Medienkünstlers Peter Weibel (NZZ), Anja Webers Fotoausstellung im Schwulen Museum Berlin über Trans*menschen bei der Arbeit (taz).
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Literatur

Nicht ganz wohl ist Anselm Kiefer bei seiner Laudatio auf Alexander Kluge, der heute mit dem Heinrich-Heine-Preis ausgezeichnet wird: "Sie wissen, ich habe schon einmal in Frankfurt versucht, eine Rede zu halten und habe Prügel bezogen. Aber für Sie beziehe ich gerne Prügel." Er war gerade im Cern, als Kluge ihn anrief: "Und als ich dann die 200 Meter, vorbei an den Schleusen zur Überwachung der Radioaktivität, hinter mir hatte und wieder ans Tageslicht kam, da erreichte mich Dein Anruf. Und da wusste ich mit einem Schlag: Du bist ein TEILCHENBESCHLEUNIGER. Unter der Erde, im radioaktiven Feld, konnte ich Dich besser sehen."

Noch einige große Lesestücke gibt es heute in der Welt: Die Autorin Kathrin Schmidt liest Isaak Babels Erzählband "Mein Taubenschlag. John Garth liest in einem zweiseiteigen Essay Tolkiens "Herr der Ringe" als Roman des Ersten Weltkriegs. Abgedruckt ist ein Text von Nicholson Baker über sein 2-jähriges, Drachen fliegendes Ich.

Außerdem: Nicht so recht überzeugend fand Gregor Dotzauer im Tagesspiegel den Versuch des Schriftstellers Colm Tóibín bei den Mosse-Lectures in Berlin, die Musik von der Literatur zu trennen.

Besprochen werden unter anderem Alfreds Comic "Come Prima" (taz), Bruce Chatwins Briefesammlung "Der Nomade" (taz), Jochen Schimmangs "Grenzen Ränder Niemandsländer" (taz), Patrick Maisanos Romandebüt "Mezzogiorno" (NZZ), Norbert Grobs Fritz-Lang-Biografie (Welt), Christa Wolfs "Moskauer Tagebücher" (SZ, mehr) und John Burnsides "Haus der Stummen" (FAZ, mehr).
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Musik

Für den Tagesspiegel stattet Gunda Bartels dem Ost-Indie-Label Buschfunk einen Besuch ab. Auf The Quietus trauert John Doran um den überraschend verstorbenen Musiker Nick Talbot alias Gravenhurst.

Besprochen werden ein Konzert von Wolfgang Haffner (Tagesspiegel) und ein Auftritt von Ogoya Nengo und Sven Kacirek (Spex).
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Bühne

Jürgen Berger hat für die SZ den in Kuba lebenden Roland Schimmelpfenning besucht und die Premiere seines Stücks "Die Straße der Ameisen". In der FAZ porträtiert Morten Freidel den verunglückten "Wetten dass"-Kandidat Samuel Koch, der nun am Theater Darmstadt in seiner ersten Bühnenrolle als "Prinz von Homburg" zu sehen ist.

Besprochen werden ein von Roberto Ciulli inszeniertes "Wintermärchen" am Theater an der Ruhr (Nachtkritik, FAZ), Gershwins Musical "An American in Paris" in Paris (Welt), Frank Abts Inszenierung von Dostojewskis "Idiot" am Theater Bremen (Tim Schomacker klagt nach dieser "ein wenig mutlosen Illustration" auf nachtkritik.de über mangelnde "strukturierende Elemente") und Lignas in Hamburg auf Kampnagel aufgeführtes Reenactment-Stück "Die große Verweigerung" (Nachtkritik).
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Film

Die avancierten Fernsehserien heutiger Tage werden gerne mit den großen Gesellschaftsromanen des 19. Jahrhunderts verglichen. Christopher Schmidt wägt in einem detaillierten Essay für die SZ Für und Wider dieser Ansicht ab, kommt am Ende aber doch zu dem Schluss, dass dieser Vergleich nicht vollends aufgeht: "Im gediegenen Roman des 19. Jahrhunderts hatte der Cliffhanger aufschiebende Wirkung. ... Das Fehlen eines Telos, eines klaren Ziels, auf das sich die Dinge hinbewegen, dieses Gesetz der Serie ist wohl die historische Wahrheit über den rasenden Stillstand unserer Zeit. Ihn freilich hätte ein Balzac sich nicht träumen lassen."

Weitere Artikel: Matthias Dell porträtiert im Freitag den Kurzfilm-Regisseur Jochen Kuhn. Die Favoriten für den Europäischen Filmpreis stammen in diesem Jahr allesamt nicht aus den westeuropäischen Ländern, bemerkt Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel. Oliver Kaever (ZeitOnline) hat wenig Freude an der Netflix-Serie "Marco Polo", die auf ihn wirkt "wie das altmodische Vorweihnachtsprogramm konventioneller TV-Sender." In der Berliner Zeitung spricht Patrick Heidmann mit Christian Ulmen über dessen Rolle als schwuler Mann im aktuellen Kinofilm "Alles ist Liebe".

Besprochen wird die Ken-Adam-Ausstellung im Berliner Filmmuseum (Deutschlandfunk, SZ, FAZ, mehr).
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