Efeu - Die Kulturrundschau

Bis der Schauspieler glüht

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15.12.2014. Prächtig amüsiert haben sich die Kritiker in René Polleschs rauschhafter Hamburger Revue "Rocco Darsow". Großartiges Schauspielertheater und eine aufgeblasene Inszenierung bescheinigen sie Jette Steckels Inszenierung von Schnitzlers "Das weite Land" in Berlin. Die Berliner Zeitung freut sich über den Europäischen Filmpreis für Pawel Pawlikowskis "Ida". Skug hört mit Rasmus Fisker den David Hamilton des experimentellen Elektropops. Die FAZ besucht ein Festival für experimentellen Animationsfilm in Palma.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.12.2014 finden Sie hier

Bühne


"Rocco Darsow" von René Pollesch am Hamburger Schauspielhaus. © Thomas Aurin

Prächtig amüsiert hat sich Welt-Rezensent Stefan Grund in René Polleschs rauschhafter Revue "Rocco Darsow" im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses. Das Bühnenbild ist eine Torte mit einem Totenkopf obendrauf. Im Zentrum des Geschehens steht die "Liebeserklärung als solche", die, so die These, den Geliebten umhaut und damit neu schafft: "Beweisbar wird dies durch ihre Negation, die dem Ding, dass sich jetzt geliebt fühlt, erneut den Teppich unter den Füßen wegzieht. Freud hat einen Vorschlaghammer dabei und mit dem prägt er den Abend, in dem die Subjekte zu Objekten werden, dass es nur so raucht. Und während mitunter das Es antwortet und der andere als "das Ding" spricht, derweil das Ich träumt, wird im Schädel des Terminators und um ihn herum, auf der Couch und der Torte als Bettvorleger gequalmt, bis der Schauspieler glüht." In der Nachtkritik staunt Dirk Pilz: "Fast könnte man meinen, diese Figuren litten unter wirklichen Verzweiflungen, spürten wahre Nöte."


Anna Drexler und Felix Goeser in Jette Steckels Inszenierung von Schnitzlers "Das weite Land" am DT Berlin. Foto: Arno Declair.

Am Deutschen Theater in Berlin hatte Jette Steckels Inszenierung von Schnitzlers "Das weite Land" Premiere. Steckel beansprucht "klaren Heutigkeitsanspruch", stellt Christine Wahl im Tagesspiegel fest, bemerkt aber auch, dass manches "umso gestriger daher [holpert]." Was in der SZ Christine Dössel gar dazu hinreißt, dem Abend "Heutigkeits-Apathie" vorzuwerfen, gegen die selbst ein Ulrich Matthes nicht anspielen könne. Ulrich Seidler bezeugt in der Berliner Zeitung unterdessen "ziemlich sensationelles Schauspielertheater" und beobachtet dabei ganz besonders fasziniert die flinken Hände von Felix Goeser, ähnlich schreibt Wolfgang Behrens in der Nachtkritik: "Es ist ein Schauspielerfest, das man hier erleben kann, mit durchaus präzise gezeichneten Gegenwartsmenschen." Beide beklagen allerdings die "Verdeutlichungs- und Aufblasungstechniken" der Inszenierung.

Besprochen werden außerdem eine "Antigone" am Luzerner Theater ("Das Schweizer Asylwesen, die Ausländerfeindlichkeit, die marode Bankenwelt, die naserümpfende Selbstgerechtigkeit im Wohlstand, das alles und noch viel mehr - es ist ein bisschen viel", klagt Andreas Klaeui in der NZZ), eine Dresdner Bühnenbearbeitung von R.W. Fassbinders "Katzelmacher", die laut Michael Bartsch (taz) nicht "viel mehr als einen Erinnerungseffekt an den Film" auslöst, eine Karlsruher Inszenierung von Jacques Offenbachs "Fantasio" (SZ) und eine von Alexei Ratmansky choreografierte Aufführung von Marius Petipas "Paquita" in München (SZ).
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Musik

Curt Cuisine führt auf Skug durch aktuelle Ambient-Neuveröffentlichungen. Insbesondere Rasmus Fiskers "Hydra" kann er empfehlen: "Mal tönt das Piano gravitätisch, mal surrt es wie im Bienenhotel, mal scheppern metallurgische Soundwelten im fröhlichen Weichzeichner. ... Wir hören eine Art David Hamilton des experimentellen Elektropops." Hier eine Hörprobe, mehr davon hier.



Andreas Hartmann drückt für die taz bei der Ringvorlesung "Techno Studies" der Universität der Künste in Berlin die Schulbank: Insbesondere jene Vorträge, die sich nicht mit authentischen Erfahrungen aus den 90ern brüsteten, waren dabei von Interesse.

Besprochen werden Metryks Album "Gold of Pleasure" (taz) und ein Bildband über die Rolling Stones (SZ).
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Literatur

Die SZ dokumentiert Alexander Kluges Dankesrede zum Heinrich-Heine-Preis, in der er sich mit der Frage "Was heißt Moderne im 21. Jahrhundert?" auseinandersetzt: "Man kann auf jedes spirituelle Konzentrat, jeden poetischen Moment, auf ein Bild, eine starke Musik, einen Text, der Sogwirkung besitzt, die Moderne gründen."

Besprochen werden Volker Reinhardts "De Sade"-Biografie (Standard), Charles Jacksons Roman "Das verlorene Wochenende" (Standard), Lutz Seilers Roman "Kruso" (Standard), Jonathan Franzens "Kraus-Projekt" (Standard), Franz Suess" Graphic Novel "Zu fallen und weiter" (Standard) und Lisa Kränzlers Roman "Lichtfang" (Zeit).

Außerdem jetzt online: Die Frankfurter Anthologie der FAZ mit Heinrich Heines "Ich seh im Stundenglase schon":

"Ich seh im Stundenglase schon
Den kargen Sand zerrinnen.
Mein Weib, du engelsüße Person!
Mich reißt der Tod von hinnen.
..."
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Kunst

Besprochen werden die Wiener Werkschau des Medienkünstlers Peter Weibel (Welt), die Oskar-Schlemmer-Schau der Staatsgalerie Stuttgart (Zeit), die Ausstellung "Buenos Aires" mit Arbeiten von Miguel Rothschild in der Berliner Galerie Kuckei & Kuckei (Tagesspiegel), eine Ausstellung von Emma Watson-Skulpturen in der Berliner Galerie Guido W. Baudach (Tagesspiegel) und Ausstellungen von Peter Böhnisch und Georg Herold in der Galerie Contemporary Fine Arts (Tagesspiegel).
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Film

In Riga wurde der Europäische Filmpreis verliehen: Mit zahlreichen Auszeichnungen, darunter der für den besten Film, ist Pawel Pawlikowskis "Ida" (mehr) der klare Abräumer des Abends (hier eine Übersicht). Rundum zufrieden ist damit Patrick Heidmann (Berliner Zeitung): "Ida" steche "nicht nur mit seinen eleganten Bildern und dem historischen Kontext heraus, sondern auch durch die Feinheit und Subtilität, mit der hier große moralische Fragen verhandelt werden." Jan Schulz-Ojala vom Tagesspiegel hätte sich stattdessen allerdings doch lieber Andrej Swjaginzews "Leviathan" auf dem Siegerpodest gewünscht: Hier "wurde die Gelegenheit verpasst, einen überwältigenden Film auszuzeichnen, der anders als "Ida" von der Gegenwart spricht - in einer ästhetisch genuin europäischen Tradition." Die bei der Gala mit einem Preis für ihr Lebenswerk ausgezeichnete Filmemacherin Agnès Varda bemängelte unterdessen, dass der Europäische Filmpreis zu wenig Filme von Frauen beachtet, wie Hannah Ellis-Petersen beim Guardian berichtet.

Sehr begeistert berichtet Paul Ingendaay (FAZ) vom Filmfestival "Sota Terra" in Palma, das sich mit viel Improvisation und bescheidenen Mitteln dem experimentellen Animationsfilm widmet. Besonders beeindruckend fand er dabei die Arbeiten von William Kentridge, der mit Kohle und einem einzelnen Stück Papier arbeitet: "Da Kohle ein weiches improvisationsfreudiges Material ist, nimmt der fertige Film etwas Rohes, Prozessuales, aber auch einen surrealen Zauber an - Landschaften wachsen aus dem Inneren der Augenhöhle, Wasser aus dem Becken überflutet im Nu den Raum, und die Reibespuren des Radiergummis bleiben noch lange, nachdem der Vogel davongeflogen oder das Blatt aus dem Bild geweht ist." Auf Youtube ist sein "Felix in Exile" zu sehen, der auch in Palma lief:


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