Efeu - Die Kulturrundschau

Rührend Hoch-Ernstes

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16.12.2014. Die Theaterkritiker streiten über Wolfram Lotz' Afghanistanstück "Die lächerliche Finsternis" am Deutschen Theater und Ewald Palmetshofers "die unverheiratete" in Wien. Der Tagesspiegel liest neue chinesische Poesie und staunt über die deutsche Kriegskrinoline. Die taz findet Dieter Roth total "Web 2.0"-mäßig. Die NZZ bewundert die barocke Kehrseite einer betenden Nonne.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.12.2014 finden Sie hier

Bühne


Szene aus "Die lächerliche Finsternis" von Wolfram Lotz am Deutschen Theater. Foto: Arno Declair

Das Werk kaum eines jungen Autors wird derzeit derart von Bühne zu Bühne gereicht wie das von Wolfram Lotz, der, wie Barbara Behrendt in der taz erklärt, "keine leicht konsumierbaren Well-made-Plays [schreibt]. Er ist ein renitenter, geradezu größenwahnsinniger Autor, er will die Möglichkeiten des Theaters übersteigen, so wie die Wirklichkeit, sagt er, dessen Möglichkeiten übersteigt." Nun hat Daniela Löffner am Deutschen Theater in Berlin dessen an Joseph Conrad und Francis Ford Coppola angelehntes Afghanistan-Stück "Die lächerliche Finsternis" inszeniert: "Ein echter Lotz-Irsinn", meint Behrendt, die hier des "existenziellen Wahnsinns dieser militärischen Expedition" ansichtig wurde.

Ihre Kollegen sehen das durchaus anders. André Mumot von der Nachtkritik etwa erkennt in dieser parodistischen Revue vor allem "herzensguten Oberflächenschabernack": "Dabei wird kein Elend ausgelassen (...) Ein Theater, das vor seinen eigenen Themen fröhlich kapituliert, während es in unverdrossen ironischem Leerlauf vor sich hinfabuliert. Es kann einen in tiefste Trübsinnigkeit stürzen, wie leicht aus dieser von weitem angestellten Weltbeobachtung zahnloses Komödieneinerlei wird, ein Bühnenzeitvertreib, der harmloser und knuffiger gar nicht sein könnte."

Auch Dirk Pilz (Berliner Zeitung) winkt dankbar, aber bestimmt ab: "Wir hören Groteskes, Widersinniges, auch Schreckliches, Böses - und sehen Tränen, sehen das Theater umweglos ins rührend Hoch-Ernste wechseln. Das könnte die Stärke dieser Inszenierung sein: die Entdeckung der Verzweiflung im Unterbau der Lächerlichkeit. Statt dessen aber buhlt der Abend um Verständnis."


Szene aus Ewald Palmetshofers "die unverheiratete". Foto: Georg Soulek /Burgtheater

Das Wiener Akademietheater hat unterdessen Ewald Palmetshofers "die unverheiratete" uraufgeführt, ein Stück, das österreichische Nazigeschichte und die "Problematik der Altenbetreuung" (NZZ) mit den Atriden verknüpft. Reinhard Kriechbaum hält das Stück auf nachtkritik.de für "eine ansehnliche Wort- und Blutsuppe, die einen da in Knöchel-Untiefe heftig sprudelnd umströmt". Über die Marotten des Autors gerät er allerdings bloß genervt ins Seufzen, allein Elisabeth Orth reißt den Abend als "Alte" heraus: "Eine großartige schauspielerische Leistung, verschwendet freilich an ein Stück, das nicht wirklich lohnt. Irgendwie wirkt Ewald Palmetshofers Text wie eine Fingerübung des Sprach-Drechslers, der er eben ist. Kein echter Stoff, viel Kunsthandwerk."

Auch Wolfgang Kralicek (SZ) lobt vor allem die darstellerischen Leistungen. Martin Lhotzky (FAZ) wittert unter viel Ballast eine "dem Stoff und dem grandiosen Damenensemble" würdige Größe, die der Abend am Ende doch nicht entwickelte. "Ein geheimnisvolles, überladenes, hoch poetisches Drama", verspricht Norbert Mayer in der Presse. Etwas viel Pathos, bemerkt NZZ-Rezensentin Barbara Villiger Heilig, die an unpassenden Stellen lachen musste: "Trotzdem. Palmetshofer mag zu viel wollen, er erreicht immer noch genug."

Außerdem: Margarete Affenzeller berichtet im Standard vom Theaterfestival Boska Komedia in Krakau.

Besprochen werden René Polleschs am Schauspielhaus Hamburg aufgeführter "Rocco Darsow", der laut Frauke Hartmann in der FR "Zeug zum Kult" habe, die Urfassung des Ballett-Klassikers "Paquita" von 1846 in München (Welt), Susanne Lietzows Dramatisierung des Wolf-Haas-Romans "Verteidigung der Missionarsstellung" im Schauspielhaus Graz (Standard) und die Berliner Aufführung von Rimini Protokolls "Situation Rooms" (Tagesspiegel).
Archiv: Bühne

Design


Wilhelm Willinger, Straßenkostüme von unbekanntem Berliner Modehaus, um 1915. © Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek

Die Ausstellung "Krieg und Kleider" in der Berliner Kunstbibliothek bietet auch manche kuriose Erkenntnis über die Mode zur Zeit des Ersten Weltkriegs, berichtet Simone Reber im Tagesspiegel: "In Deutschland stellte die Kriegskrinoline das Pendant zur Lampenschirmtunika dar. Sie verband das Patriotische mit dem Pragmatischen. Der Rocksaum endete auf Wadenhöhe, auf diese Weise ließ sich Material sparen. Die weiten Reifröcke bauschten sich aber so pludrig, dass ihre Trägerinnen behaupten konnten, die Textilindustrie zu unterstützen."
Archiv: Design

Literatur

Im Tagesspiegel schildert Gregor Dotzauer neue Entwicklungen in der chinesische Poesie, die häufig die Folgen der Binnenmigration entwurzelter Bauern thematisiert: "Über das legitime Bedürfnis hinaus, ihrem Schmerz in konzentrierter Form Ausdruck zu verleihen, hat sich ein sozialkritisch-poetisches Raffinement entwickelt, das auch Dichtern aus hermetischen Traditionen Respekt abnötigt. Yang Lian, zusammen mit dem Maler Yang Ermin Ausrichter des Artsbeijing.com International Chinese Poetry Prize, hat mit Wu Niaoniao und dessen Langgedicht "Rhapsody" kürzlich zum wiederholten Mal einen Fließbandarbeiter ausgezeichnet, nachdem zum Start des Preises 2013 bereits der in der Sonderwirtschaftszone Shenzhen schreibende und arbeitende Guo Jinniu prämiert worden war."

Besprochen werden u.a. neue Frankfurt-Romane von Wilhelm Genazino und Bodo Kirchhoff (taz), Slavoj Žižeks "Fordern wir das Unmögliche" (Freitag), Tor Ulvens "Das allgemein Unmenschliche" (Tagesspiegel), Meïr Shalevs "Zwei Bärinnen" (Tagesspiegel), Silke Scheuermanns Gedichtband "Skizze vom Gras" (Tagesspiegel), Ernst Peter Fischers "Die Verzauberung der Welt" (FR), Josef Winklers Erinnerungserzählband "Winnetou, Abel und ich" (NZZ) und Frank Reuters Studie "Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des "Zigeuners"" (NZZ).
Archiv: Literatur

Film

Immer wieder ganz hervorragend sind Rainer Knepperges" für New Filmkritik erstellte Screenshot/Text-Essays. Aktuelles Thema: Das Telefonbuch im Film - hier.

Außerdem: Die Presse hat ein Dossier zum Hollywood-Blockbuster zusammengestellt. In der taz berichtet Jenni Zylka von der Verleihung des Europäischen Filmpreises (mehr dazu auch in unserer gestrigen Kulturrundschau). Das Script zum nächsten "James Bond" ist geleakt, meldet Tobias Kniebe in der SZ. Und Marco Koch bringt wieder seinen wöchentlichen Überblick über Aktuelles aus der deutschen Filmblogosphäre.
Archiv: Film

Kunst


Dieter Roth, Bar. 3, 1979, Foto: Kunstmuseum Stuttgart, © Dieter Roth Estate / Courtesy Hauser & Wirth

Was heute im Netz Alltag ist, hat Dieter Roth schon 1982 vorgelebt, meint Christian Hillengass (taz) nach seinem Besuch der großen, Roth gewidmete Retrospektive im Kunstmuseum Stuttgart: "Roth dokumentierte, sammelte und publizierte permanent Privates als Kunst, sei es in Tagebüchern, Polaroidfotos, Postkarten und anderem. ... Auf Facebook-Deutsch würde man das heute "posten" und "liken" nennen, und in der Tat wirkt Roth damit in vieler Hinsicht wie ein analoger Vorläufer der multimedialen Selbstvergewisserung im Web 2.0."


Derzeit im Wiener Winterpalais: der barocke Porträtmaler Martin van Meytens

Samuel Herzog macht für die NZZ einen Streifzug durch die Kunststadt Wien, was er zur Zeit wirklich jedem empfehlen kann: So voll Wien ist, so leer sind seine Kunsträume. "Während man auf den Plätzen der Stadt vor lauter Christkindl-Jüngern kaum vorankommt, könnte man problemlos mit Rollschuhen durch die Kunstinstitutionen tanzen - und drohte dabei allenfalls einer vor sich hin dösenden Saalaufsicht über die Füße zu fahren."

Weiteres: In der Welt porträtiert Ulf Poschart den amerikanische Künstler Zhivago Duncan, der von Berlin in die jordanische Wüste gezogen ist, um sich von der Kunstwelt zu erholen. Besprochen werden eine Ausstellung von Horst P. Horsts Fotografien im Victoria & Albert Museum in London und die Ausstellung "Der Krieg, der kommen wird, ist nicht der Erste" im italienischen Rovereto (beide SZ).
Archiv: Kunst

Architektur

Paul Andreas hat für die NZZ die flandrische Universitätsstadt Gent besucht, die trotz zahlreicher Baudenkmälern auch moderne Architektur zulässt, sich dabei aber deutlich vom prächtigen Antwerpen abgrenzt: "Während Antwerpen sich zur Weltausstellung 1930 einen zackig-skulpturalen Art-déco-Wolkenkratzer New Yorker Zuschnitts in die Innenstadt pflanzte, setzte Henry van de Velde beim derzeit in Restaurierung begriffenen Bücherturm der Genter Universitätsbibliothek - dem "vierten Turm" der Stadt - auf die schroffe, glatte Plastizität des Volumens."
Archiv: Architektur

Musik

Wirklich was gelernt hat Tagesspiegel-Rezensent Udo Badelt bei den Berliner Konzerten der Dirigenten Tugan Sokhiev und Dmitrij Kitajenko. Erster bot in der Berliner Philharmonie unter anderem Schostakowitschs Fünfte Sinfonie: "Wie konnte je ein sowjetischer Funktionär dieses Werk als "Rückkehr", als Glorifizierung des Sozialismus missverstehen? Die Fratzen, Parodien, grellen Verdrehtheiten, die Sokhiev und die Philharmoniker wie auf dem Labortisch ausbreiten, das anklagend leere Getöse, es springt dem Hörer doch geradezu ins Gesicht. Ergreifend, in welch dunkel dräuende Tiefen die Celli sich dafür im Largo schrauben."

Für die Zeit hat sich Christoph Dallach mit Angus Young von AC/DC unterhalten. In der SZ berichtet Wolfgang Schreiber von der Münchner Konzertreihe musica viva, wo neue Arbeiten der Komponisten Michael Pelzel, Mark André und Martin Smolka zu hören waren.

Außerdem: Mehr Bestenlisten! Die SZ nennt ihre Lieblingsplatten. Pitchfork gibt seine 100 Lieblingssongs des Jahres bekannt. Und Gary Suarez kürt auf The Quietus seine 25 liesten Rap-Alben. Sein Spitzenreiter: "Piñata" von Freddie Gibbs & Madlib - hier ein Video daraus:



Besprochen werden zwei Konzerte des Schlagzeuger Martin Grubinger in Zürich (NZZ), Bill Frisells "Guitar in the Space Age" (ZeitOnline), Razens "Remote Hologram" (Jungle World), ein Vivaldi-Konzert von Philippe Jaroussky (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), ein Konzert des Pianisten Grigorij Sokolov mit Bach, Beethoven und Chopin in Wien (Standard), ein Konzert von Mulatu Astatke (taz) und eine von Cornelius Meister dirigierte "Zauberflöte" in Zürich (SZ).
Archiv: Musik