Efeu - Die Kulturrundschau

Gewalttätig romantisch

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06.01.2015. Der Atheismus ist tot, der Säkularismus ist tot, die Republik ist tot, da bleibt nur die Religion, erklärt Michel Houellebecq im NouvelObs. Arabische Geistliche fürchten romantische türkische Fernsehsoaps, meldet die Welt. Der Standard grübelt über die Kopflosen des dänischen Künstlers Jakob Kolding. Die taz sieht sich in der Kulturszene Islands um. Die NZZ bewundert das frisch sanierte Dreischeibenhaus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.01.2015 finden Sie hier

Architektur

Paul Andreas begutachtet für die NZZ die Sanierung des Dreischeibenhauses in Düsseldorf. Gute Arbeit, lobt er, denn die Düsseldorfer Architekten Hentrich Petschnigg und Partner (HPP) hätten die unvermeidliche Wärmedämmung nicht außen angeklebt, sondern "innen angebracht mit erstmals auch manuell zu öffnenden Fenstern und zwischen den Fassaden liegendem Sonnenschutz. ... [so dass] durch die Verdopplung der Fassade nach innen die extrem schmalen Proportionen der Baukörper vollkommen unangetastet blieben. Und gerade die sind es, die dem städtebaulich einzigartig placierten, mit polierten Edelstahlfronten verblendeten Scheiben-Trio seine einzigartige, steil zum Himmel aufstrebende Lichtgestalt verleihen." (Bild: Momeni Gruppe)
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Film

Türkische Fernsehsoaps boomen gewaltig, berichtet Cigdem Toprak in der Welt. Und nicht nur in der Türkei, wie islamische Geistliche in der arabischen Welt, verärgert über die lässigen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, bemerken: "Der saudische Geistliche Sheikh Saleh al-Luhaidan prangerte die Serie "Noor" an und sah in ihr "einen Krieg" gegen muslimische Werte, weil sie Muslime zeigt, die in der säkularen Türkei leben. Ein syrischer Geistlicher sprach eine Fatwa gegen das Tragen von T-Shirts mit den Fotos türkischer Seriendarsteller aus. Als "gewalttätig romantisch" bezeichnet der staatliche Eheberater Jasem al Maki in Ägypten die Soaps."

Weitere Artikel: Ute Evers (taz) unterhält sich mit dem kubanischen Schriftsteller Arturo Arango über die Ausladung von Laurent Cantets Film "Retour à Ithaque" vom letzten Filmfestival in Havanna. Der Streaming-Erfolg der Nordkorea-Satire "The Interview" dürfte in Hollywood viele Produzenten darüber nachdenken lassen, ihre Filme schon parallel zum Kinostart im Netz anzubieten, mutmaßt Mattes Lammert im Tagesspiegel. In der taz berichtet Detlef Kuhlbrodt von der Berliner Premiere von Rosa von Praunheims neuem Film "Praunheim Memories". Barbara Möller annonciert in der Welt den gerade entdeckten Heinz-Erhardt-Film "Geld Sofort", der heute abend im NDR gezeigt wird.
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Kunst


Jakob Kolding. Ausstellungsansicht, Galerie Martin Janda, 2014. Foto: (c) Markus Wörgötter

Kopflosen Bäumen und Menschen steht Anne Katrin Feßler (Standard) in einer Ausstellung des dänischen Künstlers Jakob Kolding gegenüber, die die Wiener Galerie Martin Janda zeigt: "Aber wie soll man diese Gruppe lesen? Die Frau mit dem zweiten Gesicht, die ebenjene Schuhe am Senkel spazieren führt, die dem bloßfüßigen, antik gewandeten mit der Baseballcap zu fehlen scheinen? Oder der nächste Kopflose, dem stattdessen eine Voodoopuppe aus dem Nacken erwächst? Inmitten all der Rätselhaftigkeit sitzt mit eindringlichem Blick - die weise Eule. Hinweise gibt Kolding keine."

Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) widmet sich eingehend der Serie "Hegelmaschine" des iranischen Wahlberliners Nader Ahriman. Dieser "versucht seit Jahren, "Philosophie zu malen", gibt abstrakt-architektonischen Formen die passenden figurativen oder geometrischen Gegenstücke. Aber nie sind es Abbilder, eher schwer deutbare Metaphern. Oder sarkastische Gleichnisse. In ihnen vermittelt er uns, wie der junge Hegel Napoleon vorbeireiten sah und ergriffen war - anders als seine Freunde in der Zeit der Romantik. Und so macht der Iraner Hegel hier fast zu einem, der das Konzept Zeitgeist miterfunden hat." (Bild: Nader Ahriman Die Hegelmaschine trifft die Weltseele (2012-13). Galerie Gerhardsen Gerner)

Weiteres: Olga Kronsteiner schreibt im Standard eine kleine Geschichte der Kunstplagiate.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Vogelperspektive in der Kunst im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (Tagesspiegel), die Ausstellung "Helden - Eine Inventur" im Nationalen Kunstmuseum der Ukraine (Standard), eine Ausstellung von Manfred Pernice in der Wiener Galerie nächst St. Stephan (Standard) und die Ausstellung "Höhere Wesen befehlen" mit Zeichnungen aus der Sammlung Frieder Burda in der Deutschen-Bank-Kunsthalle in Berlin (Tagesspiegel).
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Religion

In Bayern kommen heute die Heiligen Drei Könige: Die SZ macht Pause.
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Stichwörter: Heilige Drei Könige

Literatur

Wer Michel Houellebecqs neuen Roman "Soumission" vorschnell als rechte Literatur abtut und in die Pegida-Ecke stellt, macht sich um ein intellektuelles Vergnügen ärmer, meint Gero von Randow auf ZeitOnline: Eine solche Lektüre sei "ungefähr so intelligent wie das Absuchen eines Liebesromans nach sexuell erregenden Stellen. Das islamistische Szenario ist nicht das Thema des Buches, sondern seine Versuchsanordnung. ... Houellebecq [malt] uns eine fiktive Anwendung des Islamismus auf Europa aus, die dessen reaktionären Gehalt deutlich hervortreten lässt. Der Autor hat seinen Gegenstand gut recherchiert, er präsentiert uns Argumentationsweisen und kulturelle Strategien des gemäßigten Islamismus nicht als Zerrbild, sondern unter dem Vergrößerungsglas. Was wenig mit einer Wahrscheinlichkeit des politischen Szenarios von Soumission zu tun hat."

Die Huffpo.fr zitiert mit AFP aus einem kommenden NouvelObs-Interview mit Michel Houellebecq, dessen neuer Roman "Soumission" ab morgen in den Pariser Buchhandlungen liegt. Er spricht über dei Rückkehr der Religion: "Ein Ideenstrom, der mit dem Protestantismus geboren wurde, seinen Höhepunkt in der Aufklärung hatte und zur Revolution führte, liegt im Sterben. All dies war nur eine Episode in der menschlichen Geschichte. Heute ist der Atheismus tot, der Säkularismus ist tot, die Republik ist tot." Wer französisch kann, kann sich heute Abend auf France 2 in den 20 Uhr-Nachrichten ein längeres Gespräch mit Houellebecq ansehen, meldet Slate.fr.

Weitere Artikel: Bei netzpolitik stellt Theresia Reinhold eine Studie des PEN zur globalen Selbstzensur von Schriftstellern vor: "Generell lässt sich sagen, dass der Einfluss der Geheimdienste auf die freie Meinungsäußerung und das Sicherheitsgefühl von SchriftstellerInnen einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss nimmt." In der Welt verkündet Richard Kämmerlings angesichts des neuen virtuellen Lesezirkels von Facebook, "A Year of Books": "Wer wirklich facebooksüchtig ist, der kann längst kein Buch mehr lesen." Die FAZ bringt einen Auszug aus Ian McEwans neuem Roman "Kindeswohl".

Besprochen werden Gertraud Klemms Debütroman "Herzmilch" (NZZ), Marcel Beyers Gedichtband "Graphit" (NZZ), Cormac McCarthys Roman "Ein Kind Gottes" (NZZ),  Rainer Schmidts "Die Cannabis GmbH" (taz), Romy Langeheines Biografie über den Nationalismusforscher Hans Kohn (taz), neue Romane der Schweizer Schriftsteller Andreas Neeser und Lorenz Langenegger (Standard) und Walter Kappachers Band "Trakls letzte Tage. Mahlers Heimkehr", dem der Germanist Hans Höller im Standard eine ausführliche Besprechung widmet.
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Bühne

Sandra Luzina (Tagesspiegel) wirft einen Blick auf das Programm der Berliner Tanztage in den Sophiensälen: Sie beobachtet "diverse Quereinsteiger" und eine Zunahme queerer Inhalte.
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Stichwörter: Tanztage Berlin, Queer

Musik

Dass Island sich vom Pleitestaat zum Hoffnungsträger mausern konnte, liegt nicht zuletzt an der prosperierenden Kulturszene, die von den einstigen Rumhängern und Musikern aufgebaut wurde, erfahren wir von Jens Uthoff in der taz. Diese "stellen inzwischen einen wichtigen Wirtschaftsfaktor dar und sind - neben den Vulkanen und dem Polarlicht - Grund dafür, dass der Tourismus zuletzt um mehr als 16 Prozent jährlich zunahm. ... Punk und auch der Surrealismus, so sagt [ein Musiker] wie fast alle hier, hätten das Denken der Menschen in Island verändert. Nur dank dieser Wurzeln konnte wohl eine einigermaßen gesunde Kulturindustrie erwachsen."

Rüdiger Eschs Buch "Electri_City" erinnert den Welt-Redakteur Michael Pilz an eine Zeit, als es "noch keinen Retrofuturismus, sondern eine Zukunft" gab: "In einem Stimmengewirr, das man sich nur beim Lesen laut vorstellen muss, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie die Deutschen zwischen Rhein und Düssel wieder ihre eigene Popmusik erfanden und dafür westlich des Rheins geliebt und als Propheten mehr geachtet wurden als im eigenen Land. Am Ende wäre die Musik der Postmoderne, Hip-Hop, Techno und was sonst noch Strom und Schaltkreise benötigte, nicht denkbar ohne Bands wie Rheingold, Propaganda und Der Plan."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel schreibt Kai Müller über Kraftwerk, die im Januar achtmal in der Neuen Nationalgalerie auftreten. In der NZZ schreibt Eric Facon zum Tod des neapolitanischen Sängers Pino Daniele.

Besprochen werden die Doku "Salad Days" über die Washingtoner Punk- und Hardcore-Szene der 80er Jahre (FAS) und ein Debussy-Konzert unter Daniel Barenboim (Tagesspiegel).

Und hier, einfach weil es so schön ist, Mikhail Baryshnikov in Leonid Yakobsons Choreografie "Vestris":


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