Efeu - Die Kulturrundschau

Die Locken kräuseln und die Wolken türmen sich

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22.01.2015. In der Zeit erklärt Michel Houellebecq, warum das für "Unterwerfung" vorgesehene Happy End nicht zustande kam. taz und Berliner Zeitung fiebern bereits auf das Berliner Festival Club Transmediale hin. Die Welt staunt bei der Stuttgarter Ausstellung "Hinaus in die Natur" über die Lust am Schmutz der schwäbischen Impressionisten. Der Film der Stunde ist "Wir sind jung. Wir sind stark" von Burhan Qurbani über die rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.01.2015 finden Sie hier

Film


Szene aus "Wir sind jung. Wir sind stark"

Burhan Qurbanis
Film "Wir sind jung. Wir sind stark" über die rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen in den frühen Neunzigern beschäftigt die Filmkritik. Dass der Film ins Kino kommt, während die Pegida-Protestmärsche Zuspruch gewinnen, gibt am Rande fast allen zu denken. "Brandnacht, ganz große Szene", meint Stefanie Diekmann im Freitag zu dem Umstand, dass der Regisseur in die rohe, schummerige Ästhetik der dokumentarischen Aufnahmen womöglich doch eine Spur zu sehr verliebt gewesen ist. Auch sonst schreibt sie sehr lakonisch über diesen Film, in dem Qurbani seine Figuren "zum Aufsagen von Meinungstexten" zwingt. "Dieses Prinzip [wird] in eine Geschichte konvertiert, die davon erzählt, dass man hinter den Nazis auch mal die jungen Menschen sehen muss. Die Schauspieler sind entsprechend eifrig dabei. Und im Geschichtsunterricht wird man den Film sehr gern verwenden."

Die jungen Menschen sieht auch Anke Westphal (Berliner Zeitung), die auch die etwa in der Jungle World laut gewordenen Vorwürfe, der Film konzentriere sich zu sehr und verharmlosend auf die Täter, nicht gelten lassen will. Hier gehe es schließlich um junge Leute, "die zum ersten Mal in ihrem Leben ohne einen strukturierten Alltag zurechtkommen müssen - ohne das Bewusstsein, später als Arbeitskraft gebraucht zu werden und darauf einen wichtigen Teil ihrer sozialen Identität gründen zu können. Und genau das haben diese jungen Menschen mit den Einwandererkindern in den französischen Banlieues gemeinsam: die Wut all jener, die von der Gesellschaft ausgesondert werden."

"Sehr gut" und sehr intensiv findet Ulrich Gutmair (taz) diesen Film, der "zeigt, wie rassistische Gewalt in Deutschland Normalzustand wurde". Außerdem lobt er die Recherchearbeit, die hier sichtlich eingeflossen ist. David Steinitz (SZ) freut sich, dass der Film "keines der didaktischen Historien-Event-Movies geworden", sondern "als Projektionsfläche angelegt [ist] - damit der Zuschauer zum Schluss auf sich selbst zurückgeworfen wird." Julia Dettke kontextualisiert den Film auf ZeitOnline mit weiteren neuen Filmen, die sich mit Migranten befassen. In der FAZ bespricht Hans-Jörg Rother den Film.


Szene aus "Leviathan"

Währenddessen in Russland: Für die taz hat sich Klaus-Helge Donath Andrei Swjaginzews Film "Leviathan" angesehen, der zwar gerade weltweit Preise und Nominierungn einheimst, in Russland aber dem Vorwurf der Nestbeschmutzung ausgesetzt ist: "Kulturminister Medinski warnte unterdessen, dass er keine Filme mehr fördern werde, die die Machthaber kritisieren und "auch noch bespucken"." (Wir erinnern bei dieser Gelegenheit daran, dass 1982 in Deutschland Herbert Achternbuschs Film "Das Gespenst" in der Bundesrepublik sehr ähnlich und mit vergleichbar weitreichenden Folgen für die Filmförderung angefeindet wurde.)

Weitere Artikel: In der taz weist Thomas Groh auf eine Filmreihe im Berliner Zeughauskino zum Jahrestag der Auschwitzbefreiung hin. Jenni Zylka spricht mit der Regisseurin Asia Argento über deren neuen Film "Missverstanden", den Philipp Stadelmaier (SZ) vor allem wegen seiner Hauptfigur "berührend" findet (Till Kadritzke von critic.de findet das "Punk-Melodram" wegen seiner "Bilderflut" am Ende dann doch interessant). Dass Clint Eastwoods Irakveteranen-Drama "American Sniper" in den USA gerade einen Blockbuster-Kassenerfolg hinlegt, könnte auch daran liegen, "dass der Irakkrieg beginnt, sich für das amerikanische Publikum aus der Gegenwart herauszulösen und Geschichte zu sein", mutmaßt Susan Vahabzadeh in der SZ. Geri Krebs wirft in der NZZ einen Blick aufs Programm der 50. Solothurner Filmtage. Für die Zeit trifft Katja Nicodemus den lange von der Leinwand verschwundene Michael Keaton, der in Alejandro González Iñárritus Komödie "Birdman" ein fulminantes Comeback feiert. Und Berlin wird um eine Kulturinstitution ärmer: Die legendäre Prenzlauer Berger Programmvideothek Negativland muss schließen, erfahren wir in einem kurzen Interview mit dem Betreiber in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden der in Großbritannien auf DVD veröffentlichte Film "Die Entführung des Michel Houellebecq", der laut einem prächtig unterhaltenem Ekkehard Knörer (taz) "eine Reductio ad Absurdum der öffentlichen Figur Houellebecq" im Schilde führt, das Alan-Turing-Biopic "The Imitation Game" mit dem von allen Kritikern für seine Leistung gefeierten Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle (Berliner Zeitung, FAZ, SZ, NZZ, Welt), eine Ausstellung von Fotografien verfallender Prunk-Lichtspielhäuser im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt (Freitag) und der Animationsfilm "Baymax" (Berliner Zeitung).
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Bühne


Bleibt immer Kunst: Magdalena Kožená als Medea. Bild: Hans Jörg Michel

Nach Reinhard J. Brembeck in der SZ (mehr) verfällt nun auch Christian Wildhagen in der FAZ vor Magdalena Koženás Darstellung der Titelfigur in Nicolas Briegers Baseler Inszenierung von Charpentiers Oper "Médée" in Ehrfurcht: Sie spiele "so präzise und eindringlich, als habe sie sich exzessiv in die Psychologie von Amokläufern und Massenmördern vertieft. Dies bleibt immer Kunst, erreicht aber eine solche Intensität, dass selbst abgebrühte Opernbesucher am Ende froh sind, als beim Schlussjubel ein zaghaftes Lächeln in ihre vom Hass verzerrten Züge zurückkehrt."

Besprochen werden außerdem Sebastian Baumgartens Inszenierung von Heiner Müllers "Zement" am Maxim Gorki in Berlin (SZ, mehr) und Frank Castorfs Münchner Inszenierung von Brechts "Baal" (Zeit).
Archiv: Bühne

Literatur

Braucht es nach der großen Diskussion um die deutsche Gegenwartsliteratur im vergangenen Jahr nun wirklich einen Social Turn in der Literatur samt Literaturwissenschaft? Jan Drees vom Freitag ist davon nicht überzeugt: Sozial relevante Literatur gebe es genug, wenn man nur Ausschau danach hält, und die Germanistik braucht nicht noch eine neue Theorie-Mode. Er fordert stattdessen: "Mehr Literaturkritik wagen, weniger B-Noten-Vergabe an jene, die seit Jahr und Tag über das Soziale schreiben, über Leben und Tod, Elend, Reichtum, das Hohe und das Niedrige. Hartz IV hat bislang keine Romane verhindert. Der Markt ist voll von ihnen, man muss sie nur entdecken. Und den "Humanities" wünscht man Mut zum Kanon und weniger Turnübungen am germanistischen Reck."

Im Gespräch mit Iris Radisch (Zeit) bemüht sich Michel Houellebecq einmal mehr, nicht mit seiner Literatur verwechselt zu werden: "Ich bin wirklich zufrieden mit meinem Leben", versichert er, und dass seine Protagonisten stets unglücklich sind, sei reiner Zufall: "Der neue Roman sollte eigentlich gut ausgehen. Der Held sollte zu seiner Freundin nach Israel reisen und glücklich werden. Leider hat mein Verleger in Israel keine Unterkunft für mich gefunden, um dort zu recherchieren. Also gab es kein Happy End."

Besprochen werden unter anderem Thomas Kapielskis "Je dickens, destojewski!" (SZ), "Zwischen Kamelwolle und Hightech" von Daniela Segenreich (NZZ) und Hartmut Binders "Kafkas Wien" (FAZ). Mehr in unserer Bücherschau des Tages.
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Kunst

Begeistert berichtet Petra Kipphoff in der NZZ von der Ausstellung "Phantastische Welten - Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500." im Frankfurter Städel-Museum und Liebieghaus, deren Protagonisten für die "ersten Wilden der europäischen Kunstgeschichte" sind: "Es wehen die Lendentücher der Gekreuzigten, es bauschen sich die Gewänder der Geistlichen und des Christophorus. Es krümmen und zerdehnen sich die Körper der an das Kreuz Genagelten, die Bäume biegen, die Zweige verrenken, die Locken kräuseln und die Wolken türmen sich. Um die Steigerung des Ausdrucks geht es hier, nicht um die Darstellung der Wirklichkeit... Eine grundsätzliche Bewegung und Aufregung ist in dieser Kunst, die die sowohl politisch wie auch ideologisch unruhige und unsichere, von den mörderischen Bauernkriegen wie den Kontroversen um die Reformation tief geprägte Zeit widerspiegelt." (Bild: Albrecht Altdorfer: Geburt Christi, um 1511. Foto: Staatliche Museen zu Berlin/Gemäldegalerie, Berlin)

Wild geht es auch in der Ausstellung mit schwäbischer Freiluftmalerei um 1900 zu, die bis zum 8. Februar im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen ist. Verglichen mit den hellen, eleganten Werken der französischen Kollegen war der "schwäbische Ocker-Impressionismus" eine "erdige, tonige, schlammige Angelegenheit", schreibt Tilman Krause in der Welt: "Höhepunkt im Jahreszeitenrhythmus der Natur waren für Maler wie Hermann Pleuer, Otto Reiniger, Christian Landenberger und wie sie alle hießen, nicht die rosa schäumenden Baumblüten im Frühjahr, nicht die sonnenüberglänzten Blumenwiesen im Sommer, auch nicht ein herbstlicher Erntedank in vollen Prächten, sondern: Schneeschmelze. Wenn sich schlackiges Grau mit schmutzigem Weiß vermählt, krustige Scholle sich in rutschige Unwegbarkeit verwandelt, dann frohlockten die schwäbischen Malerherzen."
Archiv: Kunst

Architektur

Brigitte Werneburg (taz), Birgit Rieger (Tagesspiegel) und Andreas Kilb (FAZ) bringen Hintergrundinformationen zur Sanierung der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Tagesspiegel und FAZ einigen sich auf dieselbe Überschrift, die auch Motto der Sanierung ist: "So viel Mies wie möglich."
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Musik

In Berlin beginnt das Festival Club Transmediale, das mit seinen fremden Klängen und gewagten Soundexperimenten jedes Jahr ein Freudenfest für Liebhaber sonischer Abenteuer darstellt. So freut sich auch Doris Akrap (taz) wieder auf "das Eintauchen in diese experimentelle und abgedrehte Geräuschwelt, die man in dieser Dichte nur einmal im Jahr erleben kann. Es ist nicht das eine Konzert - es ist das Körpergefühl, das man so schnell nicht mehr vergisst."

Auch Jens Balzer (Berliner Zeitung) packt bereits die rege Lust aufs Körpergefühl, zumal da mit einem Auftritt von 18+ zu rechnen ist - und die spielen "die sexuellste Musik, die man sich vorstellen kann, eine Art ultraverlangsamter und überdies mit allerlei klanglichen Schlieren verschleierter R"n"B, zu dem wahlweise sinnlich oder sediert gesungen, gerappt oder gestöhnt wird. Doch (...) jedes laszive Locken ist mit Versagung und Abwehr durchkreuzt; jeder warme Ton wird von metallen klirrenden Echos umkränzt, von einer lebensabweisenden Aura." Na, das macht ja neugierig auf die Videos des Projekts:



Klanglich wenig herkömmlich geht es auch auf der nun veröffentlichen Albumversion von Jan St. Werners elektronischer Oper "Miscontinuum" zu, die Thomas Winkler (taz) für "eigentlich eine Zumutung" hält. Schlussendlich elektrisiert es ihn dann aber doch, wie hier nachvollziehbar wird, "wie die Elektronik nicht nur Einfluss nimmt auf die Musik, sondern auf die Zeit, und wie wir sie erfahren. Wie die Erinnerung sich verändert, wenn die Zeit keinen streng linearen Charakter mehr kennt." Beim Bayerischen Rundfunk kann man die Aufnahme einer früheren Aufführung nachhören, ein Musikvideo gibt es obendrein:



Wer nach so vielen obskuren Klängen doch lieber Zuflucht im klassischen Popschema sucht, bekommt vom Musikwissenschaftler Volkmar Kramarz Schützenhilfe: Der verteidigt im Gespräch mit Rabea Weihser die Vorliebe für den griffigen Popsong als eine Art anthropologische Konstante. In der Welt meldet Iris Alanyali, dass Björk ihr neues Album "Vulnicura" wegen eines Leaks zwei Monate früher als geplant veröffentlich hat. Besprochen werden ein Peter-Maffay-Konzert (FR) sowie Kent Naganos und Inge Kloepfers Buch "Erwarten Sie Wunder!" (SZ).
Archiv: Musik

Design

In der SZ berichtet Laura Weißmüller von der "Living Kitchen" in Köln, wo sie allerdings nur wenige der neuen Ideen für die Küchengestaltung überzeugen konnten: Eher kurios fand sie Schränke für den Gemüseanbau von Vegetariern, jedoch sehr "charmant" den von Moritz Putzier gestalteten "Cooking Table", der insbesondere eingeschränkten Menschen das Leben erleichtert.

Archiv: Design