Efeu - Die Kulturrundschau

Ein 'Nein' allen Gleichmachern

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09.02.2015. Poetische Sinnsuche oder Selbstfindungssirup? Terrence Malicks Wettbewerbsfilm "Knight of Cups" hat die Berlinale-Kritiker fast zerrissen. Den Theaterkritikern ging es kaum besser mit Thomas Ostermeiers Inszenierung von "Richard III.": Quasimodo mit Kinderseele oder doch nur fataler Gedankenleere? Die SZ fragt: Warum sollen Autoren keine Literaturschulen besuchen? Pitchfork hört Schlaflieder von Jeff Bridges. Techcrunch stellt neue Bildschirmkunst vor. Und: alle trauern um die algerisch-französische Schriftstellerin Assia Djebar.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.02.2015 finden Sie hier

Literatur

Die algerisch-französische Schriftstellerin Assia Djebar ist gestorben. Marko Martin würdigt in der Welt: "Was ihr tunesischer Kollege Abdelwahab Meddeb in konzisen Untersuchungen herausgearbeitet hatte, brachte sie in ihrer fluide fabulierenden Prosa zum Leuchten: Ein "Nein" allen Gleichmachern, die - sei es affirmativ oder anklagend - die Schimäre "Tradition" zum Allerklärungsschlüssel für menschliches Verhalten missbrauchen. Denn es war und ist ja schlichtweg Lüge und bestenfalls Erinnerungsmangel, alles unter einer Definition zu subsumieren: Immigranten, Maghrebbewohner, Araber, Muslime, Berber."

Weitere Nachrufe schreiben Judith von Sternburg (FR), Joseph Hanimann (SZ), Jürg Altwegg (FAZ), Doris Ruhe (NZZ) und Gregor Dotzauer (Tagesspiegel)

"Arztsöhne, Direktorentöchter? Fehlanzeige", schreibt Ina Hartwig in der SZ über ihre Dozentur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Den Vorwurf, junge deutsche Autoren kämen nur noch aus der Mittelschicht, kann sie nicht nachvollziehen. Überhaupt ist ihr ein Rätsel, warum die Literaturschulen so in der Kritik stehen: "Im Unterschied zu den literaturwissenschaftlichen Fakultäten, die die eigene Stimme zugunsten der Wissenschaftssprache zurücknehmen, wird in den Kreativen Schreibschulen die Subjektivität des Ausdrucks gerade gefördert, unter Maßgaben des Handwerks. Niemand ist je auf die Idee gekommen, Jackson Pollock den Besuch der Kunsthochschule zu verübeln. Warum aber sollen Schriftsteller nicht dürfen, was für Maler als selbstverständlich gilt?"

Weitere Artikel: Der Freitag bringt die neue Kolumne des Literaturwissenschaftlers Erhard Schütz, der unter anderem eine kommentierte Forschungsbibliografie über Christian Kracht vorstellt. Die FAZ bringt einen Vorabdruck aus Riad Sattoufs Comic "Der Araber von morgen".

Besprochen werden Miljenko Jergovics "Vater" (Tagesspiegel), Marcel Beyers "XX. Lichtenberg-Poetikvorlesungen" (SZ) und neue Hörbücher, darunter eine Box mit Peter Kurzecks Hörspielen (FAZ).

Und: In der Frankfurter Anthologie der FAZ stellt Kurt Drawert jetzt auch online sein Gedicht "Matrix America" vor:

"Immerhin verstehe ich
ein wenig vom russischen Wesen,
und auch kyrillische Schrift
kann ich lesen.
..."

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Film


Hinaus ins Chaos der Welt: Terrence Malicks "Knight of Cups". Bild: Berlinale.

Die Berlinale nähert sich dem Ende der ersten Halbzeit. Wir bringen eine kleine Auslese zu den wichtigsten Wettbewerbsfilmen: Terrence Malicks "Knight of Cups" zählt zu den am sehnsüchtigsten erwarteten Filmen des Festivals. Zurecht, meint ein völlig hingerissener Lukas Foerster (Perlentaucher), der eine Handlung allenfalls in Skizzen vorliegen und stattdessen eine "große, kosmologische Sinnsuche" sieht. Doch Eremiteneinsiedelei hat Malick nicht im Sinn: "Malicks Sinnsuche [führt] gerade nicht in die vergeistigte Einsamkeit des Autorenfilmersubjekts (...), sondern ganz im Gegenteil hinaus ins Chaos der Welt. Wo wäre das Kino der Gegenwart neugieriger als bei Malick?" Auch Andreas Kilb (FAZ) ist hin und weg: "Die Großartigkeit dieses Films besteht darin, dass er mit allen Mitteln der visuellen Überredung eine Welt beschwört, die mit Blindheit geschlagen ist." Simon Rothöhler (taz) ist unterdessen deutlich unterwältigt: Er bescheinigt Malick Höchstform im "Leerspielen dieser filmischen Gesten". Welt-Rezensent Jan Küveler hätte gut auf den ganzen "Selbstfindungssirup" verzichten können.


Nimmt"s sportlich: Sebastian Schippers "Victoria". Bild: Berlinale.

Zu den sportlichsten Filmen dieses Wettbewerbs zählt zweifellos Sebastian Schippers deutscher Wettbewerbsbeitrag "Victoria", der in einer einzigen Kameraeinstellung den Ereignissen einer Berliner Clubnacht folgt, die mit Flirts beginnt und nach dem Umweg über ein Verbrechen in einer Tragödie endet. Andreas Busche (taz) findet dieses Experiment allemal respektabel, auch wenn ihm vor allem die erste Hälfte des Films gefallen hat. NZZ-Kritikerin Susanne Ostwald saß vor Spannung auf der Stuhlkante. "Absolut gigantisch", lobt auf Zeit online Wenke Husmann. Nikolaus Perneczky (Perlentaucher) fühlte sich unterdessen ziemlich überrollt.

Aus dem Wettbewerb wurden außerdem besprochen Benoît Jacquots "Tagebuch einer Kammerzofe" (taz), Patricio Guzmáns "The Pearl Button" (taz, Tagesspiegel, critic.de), "45 Years" (critic.de, Tagesspiegel), Jayro Bustamantes "Ixcanul" (critic.de), Jafar Panahis "Taxi" (FAZ) und Werner Herzogs "Queen of the Desert" (critic.de, FAZ, Perlentaucher),

Abseits des Wettbewerbs: Für die taz spricht Carolin Weidner mit Ula Stöckl, die mit einer restaurierten Fassung von "Neun Leben hat die Katze" und ihrem Porträtfilm "Die Widerständigen" (hier eine Besprechung auf Filmlöwin) auf dem Festival vertreten ist. Patrick Wildermann (Tagesspiegel) plaudert mit dem ehemaligen Zuhälter Andreas Marquardt, dessen Leben Rosa von Praunheim in "Härte" verfilmt hat.

Weiteres zur Berlinale im schnellen Überblick: Alle weiteren heutigen taz-Texte zum Festival hier, die Tagesspiegel-Kritiken hier, Berliner Zeitung berichtet hier, Cargo schickt weiter munter SMS vom Festival. Stets einen schnellen Klick wert ist der mehrfach täglich aktualisierte Kritikerspiegel von critic.de. Filmlöwin Sophie Charlotte Rieger fokussiert in ihrer Berichterstattung vor allem Filme von und über Frauen. Vom Festival berichten online außerdem u.a. Filmgazette, Tagesspiegel, Berliner Zeitung, FAZ, SZ und kino-zeit.de. Und der Perlentaucher ist selbstverständlich ebenfalls vor Ort.
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Bühne


Lars Eidinger als Richard III. Bild: Arno Declair/Schaubühne.

Thomas Ostermeier inszeniert Lars Eidinger als "Richard III." im eigens dafür zum Globe-Theatre umgebauten Saal C der Berliner Schaubühne - ein Stelldichein auch der hiesigen Theaterkritik, die sich zwar darin einig ist, dass Lars Eidinger den Abend ganz an sich reißt, dies aber durchaus unterschiedlich bewertet. Der Berliner Schauspieler "gibt viel. Gibt sich hin und preis", meint im Tagesspiegel Peter von Becker, der davon aber nicht völlig überzeugt ist: "Eidinger bleibt (...) leise, trotz aller Buckelei eher einförmig. Monoton. Ein paarmal züngelnd, listig lächelnd. Aber keine Schärfe." Hervorragend fand in der taz Dirk Knipphals den Schluss der Vorführung, der ihn wünschen lässt, Ostermeier hätte konsequent auf Darsteller neben Eidinger verzichtet: "Lars Eidinger im Spiegelfechten gegen imaginäre Gegner, die gar nicht da sind, ihm aber alle Anstrengung abnötigen: Hier geht es wirklich auf Leben und Tod. Schließlich wird Richard hinterrücks erstochen. Im Kampf mit niemandem als sich selbst war Eidinger schon das ganze Stück über ganz bei sich."

Äußerst schlecht gelaunt verließ FAZ-Rezensentin Irene Bazinger (FAZ) das Theater nach einem Abend voller "zirzensischem Brimborium, fataler Gedankenleere und effekthascherischer Aufgeblasenheit". "Leider strahlt an diesem Richard außer den Pailletten wenig", bedauert Anne Peter in der nachtkritik. Vielleicht soll das so, überlegt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung: Eidinger "übt sich nicht in schillernder Großschauspielerei, er bleibt, was er von Beginn an ist: ein buckliger Knilch, ein Quasimodo mit Kinderseele, der gar nicht anders kann, als böse sein vor uns und gut sein vor seinen Fürstenkollegen." In der Welt zeigt sich Matthias Heine milde interessiert. Weitere Besprechungen auf ZeitOnline und in der SZ.

Besprochen werden außerdem Gerhart Polts an den Münchner Kammerspielen aufgeführtes "Ekzem Homo" (FAZ, SZ) und Peter Konwitschnys Inszenierung von Johannes Harneits Opern "Abends am Fluss" und "Hochwasser" in Heidelberg (SZ).
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Musik

Zum allgemeinem Erstaunen hat Jeff Bridges - ja, genau, der Jeff Bridges - kürzlich ein Album mit Schlafliedern veröffentlicht. Doch schläfrig will Philip Sherburne von Pitchfork beim Anhören ganz und gar nicht werden: "Bridges proves such a captivating presence that it"s obvious that sleep is hardly the issue here. After a few tracks of figurative throat-clearing-and literal throat-clearing, which, of course, given the throat involved, sounds usually sumptuous-the album shifts into higher and higher surrealistic gears." Hier kann man sich das Album anhören.

Besprochen werden das erste Soloalbum von Horrorfilm-Regisseur John Carpenter (Jungle World, Pitchfork) und das neue Album der Metalband Leviathan (Pitchfork).
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Kunst

Heutige Bildschirme haben eine ungeheure Auflösung, sind sehr groß und kosten immer weniger Geld. Darum entsteht ein neuer Kunstmarkt mit Bildern nur für Bildschirme, berichtet berichtet auf Techcrunch Kim Gordon, der selbst die Website Depict.com betreibt. Einer der Künstler, die hier vorgestellt werden ist Rafael Rozendaal, der auf seiner Website dieses "Abstract-Browsing"-Tool anbietet, falls man den Content mal nicht mehr sehen kann.



Ausführlich spricht Arno Widmann in der FR mit der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy über die Vorzüge des Museums. Diese liegen ihrer Ansicht nach vor allem in der Haptik und Gegenwärtigkeit der Exponate. Sie wünscht sich im Zuge der Virtualisierung der Welt Orte, "an denen wir etwas erfahren von der Eigen-, von der Selbstständigkeit der Gegenstände. ... Wer den ganzen Tag am Computer sitzt, für den sind die Gegenstände im Museum wirklich Gegen-Stände. Auf dem Bildschirm ist alles gleich groß, gleich flach, gleich gewichtig - geruchslos. Wir haben eine große gesellschaftliche Verantwortung. Wir müssen die Menschen, die in der digitalen Welt zu verschwinden drohen, in die wirkliche zurückholen."

Weitere Artikel: Erfreut berichtet Ingeborg Ruthe in der FR von ihrer Reise nach Görlitz, das mittlerweile nicht nur Hollywood und Westdeutsche im Ruhestand anzieht, sondern auch für die Kunstwelt immer wichtiger wird. Beispielsweise wegen der neueröffneten Galerie der Moderne: "Der Rundgang wird zur Zeitreise", schreibt Ruthe. Besprochen wird außerdem die Gauguin-Schau in der Fondation Beyeler in Basel (SZ).

Archiv: Kunst