Efeu - Die Kulturrundschau

Chiffre für Denk­faul­heit

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06.03.2015. In der NZZ muss Ingo Schulzes Hund nach Lübeck, zu Günter Grass. Hoch beeindruckt steht die FR vor Gerhard Richters Birkenaubildern. Nach dem Skandal um den World Press Photo Award meint Bruno Dubreuil bei OAI 13: Fälschungen gabs in der Fotografie von Anfang an. Artechock beklagt die Heuchelei älterer Filmkritiker. Horrorfilmregisseur John Carpenter hat mit 67 Jahren sein erstes Popalbum vorgelegt: Die Welt ist hin und weg. In L'Express erklärt Alber Elbaz, warum Jeanne Lanvins Kleider ihre ganze Modernität erst im Liegen offenbaren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.03.2015 finden Sie hier

Kunst


Hippolyte Bayard

Dem italienischen Fotografen Giovanni Troilo wurde der World Press Photo Award aberkannt, weil seine düstere Bilderserie über die Stadt Charleroi doch um einiges stärker inszeniert war, als es den Kriterien des Fotojournalismus entspricht. Das großartige französische Fotoblog OAI 13 hat bei der Aufdeckung der Ungereimtheiten eine bedeutende Rolle gespielt (mehr hier und hier in Le Monde). Nun denkt Bruno Dubreuil bei OAI 13 über Fälschungen in der Fotografie ganz allgemein nach und präsentiert die erste Fälschung der Fotogeschichte: "Selbst wenn es auf der Hand liegt, dass Wahrheit im Fotojournalismus gefordert wird, liegt die Fälschung doch in den Genen der fotografischen Maschinerie. Schon im Oktober 1840 stellte sich Hippolyte Bayard als Ertrunkener dar, in der ersten inszenierten Fotografie. Dem Foto war eine Legende zur Seite gestellt, das die Académie beschuldigte, Daguerre und nicht ihm das Patent gegeben zu haben, so dass Bayard zum Selbstmord getrieben worden sei. Ein Jahr in der offiziellen Existenz der Fotografie hat ausgereicht, um sie von der Realität zu lösen!"

Mit seiner Skulptur "Geschenkter Gaul", einem Pferdeskelett, das Aktienkurse anzeigt, löst Hans Haacke Katharina Fritschs "Blauen Hahn" auf dem Londoner Trafalgar Square ab. Marcus Woeller zeigt sich in der Welt mäßig beeindruckt, von Bürgermeister Boris Johnson ganz zu schweigen: ""Was passiert, wenn die unsichtbare Hand des Marktes uns das Ja-Wort aufzwingt?", fragt er nun sinngemäß auf der Webseite der Londoner Stadtverwaltung und spielt damit nicht nur auf die Entgrenzungen des börsennotierten Finanzmarkts an, sondern auch auf den boomenden Kunstmarkt. Boris Johnson lässt sich von derlei Harmlosigkeiten aber nicht provozieren und kontert mit der professionellen Selbstgefälligkeit des Bürgermeisters: "London ist die Kultur- und Kunsthauptstadt der Welt, und das ist der Beleg für unsere Freiheit und Ungezwungenheit."" In der SZ berichtet Alexander Menden von der feierlichen Enthüllung.


Fotografien nach Abstrakten Bildern (937-1 bis 4), 2014/15, Fotografien auf Alucobond, Copyright SKD, Gerhard Richter Archiv, Foto: Oliver Killig

Im Dresdner Albertinum werden Gerhard Richters vier nach Fotografien eines KZ-Häftlings entstandene Bilder erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Ingeborg Ruthe beschreibt in der FR, wie sich der Künstler der Ungeheuerlichkeit des Massenmords an den Juden ästhetisch nähere, ohne diesen zu banalisieren: "Er holt in den Birkenau-Bildern mit dem Schabeisen und dem Rakel verborgene Schichten hervor, kaum erträgliche Tatsachen, Gedanken, Emotionen. Er wirft alles auf die Bühne unserer Gegenwart, auf die freigelegten Oberflächen, er nähert sich an und er spiegelt. ... Er könnte das Entsetzliche, das Ungeheuerliche nur abstrakt malen. Mit Abstand."

Weitere Artikel: Moderne Technik brachte ans Licht, dass an Rembrandts "Susanna" im 18. Jahrhundert herumgepinselt wurde, berichtet Ingeborg Ruthe in der FR. In der Welt macht Frank Maier-Solgk einen neuen Museumstrend aus: Regionale Museen für die Kulturschätze aus der Heimat.

Besprochen werden die von dem Schriftsteller Agustín Fernández Mallo kuratierte Ausstellung "Implosió" im Museum Es Baluard in Palma (NZZ) und die Ausstellung "Künstler und Propheten - Eine geheime Geschichte der Moderne 1872-1972" in der Schirn in Frankfurt (Julia Voss von der FAZ wähnt sich zuweilen wie im "Märchenzauberschrank").
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Film


Der Filmkritiker Michael Althen in Dominik Grafs Doku "Was heißt hier Ende?"

Auf Artechock erinnert sich Rüdiger Suchsland an die Berlinale-Premiere von Dominik Grafs "Was heißt hier Ende?", einer Hommage an den 2011 verstorbenen FAZ-Filmkritiker Michael Althen. In dem Film kommen auch viele, einstige Weggefährten und etablierte Filmkritiker zu Wort, die von gut bezahlten Posten aus sehr resignierend über den Stand der Filmkritik und insbesondere den Nachwuchs reden, berichtet Suchsland. Was ihn schon auch wurmt: "Ein bisschen spricht aus Vielem auch die Melan­cholie und das Älter­werden einer Gene­ra­tion. ... Beim Gejammer [sollte man] nicht verschweigen, dass die glorreiche FAZ, kaum war Michael Althen unter der Erde, auch seine DVD-Seite beerdigt hat, und die Filmseite gekürzt, und und... Das schöne Wort vom "Qualitäts­jour­na­lismus" ist auch eine Chiffre für Denk­faul­heit. Und der primitive Service­jour­na­lismus, der star­ori­en­tierte Boulevard, das Abschaffen und Kürzen von Zeitungs­seiten, das ist doch keine Erfindung der Jungen, gegen die sich die Nicht-mehr-Jungen beherzt gesträubt hätten."

Besprochen werden Neill Blomkamps Science-Fiction-Film "Chappie" (Tagesspiegel, Perlentaucher, SZ), das Alzheimer-Drama "Still Alice" mit Julianne Moore (FR, mehr) und der Dokumentarfilm "An der Seite der Braut" (Jungle World).
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Bühne

Besprochen werden die Frankfurter Aufführung von Mieczysław Weinbergs Auschwitz-Oper "Die Passagierin" (SZ) und Andrea Breths Inszenierung und, laut Irene Bazinger (FAZ), Neudeutung von Alban Bergs Zwölftonoper "Lulu" in Berlin.
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Stichwörter: Berg, Alban, Breth, Andrea, Lulu

Musik

John Carpenter hat mit "Lost Themes" sein erstes Popalbum herausgebracht. Welt-Rezensent Harald Peters ist fasziniert, erinnert sich aber auch daran, dass der heute 67-jährige Regisseur schon aus Kostengründen immer selbst die Musik zu seinen Horrorfilmen gemacht hatte: "Mit ein paar altertümlichen Röhrensynthesizern, die er kaum zu bedienen wusste, machte er sich ans Werk, und weil er dabei ebenso effizient wie kostengünstig vorging, sollte er fast seine gesamte Karriere als Filmemacher dabei bleiben. Für den Soundtrack "Assault on Precinct 13" brauchte er nur einen Tag, doch das Hauptthema, eine fiese, im Schneckentempo dröhnende Basslinie, die sich geradewegs ins Bewusstsein fräst, während nebenbei das Metronom tickt, hinterließ Spuren in allen möglichen Bereichen der populären Musik: Techno, House, Dark Wave, Hip-Hop und Drone."

Kleine Warnung: diesen Bass werden Sie tagelang nicht los.



Musikkritiker, hört auf zu meckern, Madonnas Album "Rebel Heart" ist ihr bestes seit langer Zeit und zudem "ein sehr persönliches", versichert Jens Balzer in der Berliner Zeitung. Insbesondere die in Zusammenarbeit mit dem Produzenten (!) Sophie entstandenen Songs lassen ihn aufmerken: "Sophies dick überzuckerter Post-Internet-Pop überwindet die Ödnis der kapitalistischen Massenkultur mit den Mitteln der kapitalistischen Massenkultur so wie Madonna in ihren subversivsten Momenten in den Achtzigerjahren; nur dass Sophie diese ästhetische Strategie unter den Bedingungen der vollständig globalisierten und digitalisierten Popkultur des Jahres 2015 wiederholt und Madonna unter seiner Ägide wie eine südkoreanische Mickey Mouse auf MDMA klingt." (In der SZ bespricht Jens-Christian Rabe das Album, soviel sei verraten, deutlich weniger euphorisch.)

Weitere Artikel: Conchita Wurst (auf dem Foto eine Vision in Grau mit knallroten Pumps, elegant auf ein Sofa drapiert) gibt der Welt ein 20-minütiges Interview über Schlafpositionen, Butterkekse und die sexuelle Orientierung von Käsekrainern. Gerrit Bartels trifft sich für den Tagesspiegel mit Westbam, der sich zum 50. Geburtstag eine Autobiografie gönnt. Carla Baum porträtiert in der taz die marokkanische Sängerin Oum El Ghaith Benessahraoui, "die sich von nichts und niemandem diktieren lässt, wie sie sich geben soll."

Besprochen werden das Debüt von Future Brown (taz), das neue Album von Bilderbuch (Zeit) und das Berliner Nena-Konzert (Berliner Zeitung, Tagesspiegel, SZ).

Außerdem: Annie Clarke von St. Vincent spricht mit Andy Gill von Gang of Four:

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Architektur

In der NZZ kann sich Gabriele Detterer der einlullenden Schönheit des neuen Google Campus, den die Architekten Bjarke Ingels und Thomas Heatherwick entworfen haben, nicht entziehen.
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Literatur

Mäßig amüsiert hat sich Ingo Schulzes Hund bei den von Günter Grass in Lübeck veranstalteten Autorenlesungen. Schon die Hinfahrt war eine Zumutung, erzählt er in der NZZ: "Freitag, 27. Februar . . . kalt und hungrig und der Zug am Freitagabend überfüllt, was m. H. (mein Herrchen - Anm. d. Red.) leicht hätte voraussehen können und deshalb zwei Platzkarten kaufen. Wie oft habe ich m. H. schon gesagt: Schriftsteller gehören an den Schreibtisch, nicht in den Zug! Und dann auch noch einen halben Tag zu spät. Ich dachte, wir würden uns wenigstens auf der Zugfahrt unterhalten. Kein Wort hat er mit mir geredet, sondern immer nur an seinem Text herumgebosselt, den er vorlesen will. Wenn ihn das so nervös macht, warum hat er sich dann keinen anderen Beruf gesucht?"

Weitere Artikel: In der NZZ skizziert Joachim Güntner die Lage des Buchhandels in Deutschland und der Schweiz. Tilman Krause erinnert sich in der Welt an seinen liebsten Raddatz. Stefan Michalzik berichtet in der FR von Jochen Distelmeyers Frankfurter Lesung aus dessen Roman "Otis".

Besprochen werden u.a. Kazuo Ishiguros neuer Roman "The Buried Giant" (Welt) und Gertraud Klemms "Aberland" (ZeitOnline).
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Design

Design sollte die Dinge nicht einfacher machen, sondern schwieriger. Manchmal jedenfalls, schreibt Brian Millar im Guardian mit einem zärtlichen Blick auf seine Leica: "Ich liebe meine Kamera. Ich liebe sie, obwohl ich einen Monat lang nur schreckliche Bilder damit gemacht habe. Ich liebe sie, obwohl ich die Blende einstellen, mich um die Tiefenschärfe ängstigen muss und meine Familie nerve, während ich an den Metallknöpfen fummele. Ich liebe sie, weil sie mich zum Denken bringt: über Licht, Farbe und Komposition. Ich machen mit ihr weniger Bilder als mit meinem Handy, aber viel bessere."


Links: Evening coat, 1937, black taffeta, embroidered with layers of gilded sequins. Patrimoine Lanvin. Rechts: Evening ensemble Alcmène (jacket, dress and slip), 1929, pink silk crêpe, embroidered with Swarovski crystals and silvered tubes. Collection Palais Galliera. Alle Fotos: © Katerina Jebb, 2014

In L"Express erzählt Alber Elbaz, der heutige Modeschöpfer von Lanvin, wie er die Ausstellung über Jeanne Lanvin im Palais Galliéra kuratiert hat, und warum er viele Kleider flach auf Glasplatten legte, statt sie auf Puppen zu präsentieren: "Sehen Sie sich den Abendmantel an, der auf der Einladungskarte fotografiert ist, diese Kimono-Ärmel, die ans 18. Jahrhundert erinnernde Silhouette: Das scheint sehr zeitgenössisch, fast wie das Werk eines jungen avantgardistischen Designers. Man sieht das, wenn es so flach hingelegt wird, man erkennt die außergewöhnliche Arbeit an der Form, der Komposition."



Links: Dress Lesbos, 1925, absinthe green silk satin, embroidered with glass beads and silvered tubes. Patrimoine Lanvin. Mitte: Dress Fausta also called Petit dîner, 1928-1929, navy blue chiffon, embroidered, with silvered metal rods and Swarovski crystals. Collection Palais Galliera. Rechts: Dress Boulogne, summer 1920, beige crêpe, red crêpe, red stitching, navy blue appliqués, embroidered with white beads. Patrimoine Lanvin. Alle Fotos: © Katerina Jebb, 2014
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