Efeu - Die Kulturrundschau

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09.04.2015. In der Zeit beschimpft Claus Peymann Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner als "leeres, nettes weißes Hemd". In der Berliner Zeitung findet der Filmemacher Volker Heise diesen Hochmut schwer zu ertragen. Die NZZ versinkt in Paris in den schwülen Träumen des Barockzeitalters. Und Oliver Hirschbiegels Film über den Hitler-Attentäter Georg Elser spaltet die Kritik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2015 finden Sie hier

Bühne

Volker Hagedorn beklagt im Kommentar auf ZeitOnline die "Rohheit gegenüber der Kultur", die sich ihm in der Hemdsärmeligkeit der Politik gegenüber dem Theater offenbart. Den Artikel muss er vor dem Interview des 77-jährigen Claus Peymann in der Zeit geschrieben haben. In einem vor Eitelkeit und Bösartigkeit nur so triefenden Interview beschimpft der BE-Intendant den Kulturstaatssekretärs von Berlin Tim Renner als "Lebenszwerg" und "leeres, nettes weißes Hemd", das vom Theater nichts weiß. Sich selbst feiert Peymann als "das große geheime Vorbild von Castorf, er versucht seit Langem, mich zu kopieren - er schafft es nur nicht, er arbeitet einfach zu viel. ... Aber natürlich ist er eine Eins in dieser Stadt. Wir beide sind in Berlin die Platzhirsche, die sich bekämpfen."

In der Berliner Zeitung reagiert der Filmemacher Volker Heise schwer genervt auf die Peymannschen Attacken: "Für Peymann muss die Tatsache, dass ein "ehemaliger Musikmanager" seine Nachfolge regelt und nicht er selbst (nun: dann würde auf Peymann natürlich Peymann folgen, und zwar ad infinitum), ein Sakrileg sein. Das kann er nicht so offen aussprechen, weshalb die Sache über Bande gespielt wird, also über die Volksbühne. Dort übernimmt vielleicht ein britischer Museumsmann das Steuer, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall weiß Peymann schon jetzt, dass die Volksbühne damit zur "Event-Bude" wird, weil die Idee ja von einem "Musikmanager" kommt, der, die "Fehlbesetzung des Jahrzehnts" sei. Das ganze Getöse ist allein durch den zum Vorschein kommenden Hochmut schwer zu ertragen."

Weitere Artikel: Sandra Luzina (Tagesspiegel) berichtet von ihrem Treffen mit Adolphe Binder, der Tanzchefin der Operans Danskompani aus Göteborg. Stefan Schickhaus (FR) unterhält sich mit der Opernsängerin Diana Damrau.

Besprochen werden eine Aufführung von Tolstois "Auferstehung" in Potsdam (SZ), Andrea Breths Inszenierung der Verdi-Oper "Macbeth" in Amsterdam (die in Christian Wildhagens Kritik in der NZZ deutlich besser wegkommt als in den bisherigen Theaterkritiken) und eine laut Reinhard Kager "zwiespältige" Wiener "Elektra"-Aufführung (FAZ).
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Film



Wenn Oliver Hirschbiegel einen Film über die NS-Zeit dreht - wie jetzt mit "Elser" über den Hitler-Attentäter Geor Elser -, ist davon auszugehen, dass dies die Filmkritik polarisieren wird. Der Preis für die böseste Kritik geht an Simon Rothöhler, der den Film in der taz sichtlich mit Wonne aufspießt: "Aus der Raumtiefe dieses biederen Bebilderungskinos strahlt einem die säuberlich versammelte deutsche Nazifilmtristesse entgegen. Im Vordergrund wird zweitklassiges Theater gespielt. ... Relevante Fragen, die nicht zuletzt für eine an Kontinuitäten interessierte Mentalitätsgeschichtsschreibung von Bedeutung sind, wie Elsers Verhältnis zum Roten Frontkämpferbund, streift Hirschbiegel nur." Ein sichtlich beeindruckter Jan Schulz-Ojala vom Tagesspiegel bescheinigt dieser "ungewöhnlichen Heldenerzählung" und ihrem Regisseur unterdessen "alle Behutsamkeit" im Umgang mit dem Sujet. Martina Knoben (SZ) findet dieses Porträt eines gemeinhin übergangenen Widerständers zwar "verdienstvoll, die Konturen hätten aber schärfer sein dürfen." In der FAZ bespricht Andreas Kilb den Film.

Weitere Artikel: Simon Rothöhler erkundet für den Freitag Spin-Off-Serien wie "Better Call Saul", die sich von "Breaking Bad" her abzweigt, und "Fargo" nach dem gleichnamigen Film der Coen-Brüder: "Anscheinend bringt das Ende der stabilen Mediendifferenz zwischen Fernsehen, Kino und Internet (als technische Dispositive wie als Industriezusammenhänge) neue Anwendungen des generativen Prinzips "Serie" mit sich." Eine Ausstellung im Grand Palais in Paris feiert 120 Jahre Kino seit den Gebrüdern Lumière, berichtet Rachel Donadio in der New York Times. "Die müden Actionhelden sind im bürgerlichen Mainstream angekommen.", beobachtet Andreas Busche (Zeit) in seiner Besprechung des (im Perlentaucher von Lukas Foerster besprochenen) Actionspektakels "Fast & Furious 7". Martha Frankel (taz) wirft einen Blick aufs Programm des Festivals Achtung Berlin. Außerdem erinnern sich die taz-Filmkritiker an ihre Lieblingsfilme des vergangene Woche gestorbenen Regisseurs Manoel de Oliveira.

Besprochen werden Robert Bramkamps "Art Girls" ("ein Sack Flöhe aus tausenderlei Tendenzen der Gegenwartskunst", schreibt Ekkehard Knörer in der taz), die neue Staffel der Serie "Girls" (ZeitOnline), Elwira Niewieras und Piotr Rosolowskis Dokumentarfilm "Domino Effekt" (Tagesspiegel), Mahamat-Saleh Harouns "Grigris Glück" (critic.de), Maciej Pieprzycas "In meinem Kopf ein Universum" (Berliner Zeitung, Welt, FAZ) und Daniel Barnz" "Cake" mit Jennifer Aniston (Welt, SZ).
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Literatur

Der Diogenes Verlag kommt in diesem Jahr nicht zur Buchmesse nach Frankfurt, meldet die NZZ. Grund ist die Aufhebung der Euro-Kurs-Untergrenze in der Schweiz, die den Verlag zwingt, eine einstellige Millionenzahl in Franken einzusparen. Thomas Steinfeld gratuliert in der SZ dem Schriftsteller Albert von Schirnding zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Terézia Moras Frankfurter Poetik-Vorlesungen "Nicht sterben" (NZZ), Gertraud Klemms "Aberland" (Tagesspiegel), Friedrich Liechtensteins Autobiografie "Super - Mein Leben" (Berliner Zeitung), Siegfried Unselds "Chronik 1971" (CulturMag), Milan Kunderas "Fest der Bedeutungslosigkeit" (CulturMag), Teju Coles "Jeder Tag gehört dem Dieb" (CulturMag) und Albert von Schirndings "Jugend, gestern" (FAZ).
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Musik

Wäre Kendrick Lamars neues Album ihm nicht zuvorgekommen, hätte Drake mit "If You're Reading This, It's Too Late" die "Hip-Hop-Platte des Jahres" vorgelegt, schreibt Alard von Kittlitz in der SZ (siehe dazu auch Jayson Greenes Pitchfork-Feature über beide Künstler). Freitag-Autor Johannes von Weizsäcker stellt sein unter dem Projektnamen Erfolg veröffentlichtes Debütalbum vor: "Es ist ziemlich gut geworden, aber ich verstehe überhaupt nicht, was es bedeuten soll." In der Zeit porträtiert Wolfram Goertz den Tenor Philippe Jaroussky. Frederik Hanssen erinnert sich im Tagesspiegel an den im Alter von 30 Jahren verstorbenen Komponisten Peter Ronnefeld.

Besprochen werden Pierre Boulezs "The Complete Erato Recordings" (Freitag), Mark Fishers musik- und kulturwissenschaftliche Essays "Gespenster meines Lebens" (Freitag), ein neuer Dokumentarfilm über Kurt Cobain (kino-zeit.de, SZ) und Kim Gordons Autobiografie (Freitag, mehr).
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Kunst

Eine Ausstellung über die Niederungen des Barockzeitalters in Rom besucht NZZ-Rezensent Samuel Herzog im Pariser Petit Palais. Und schon am Eingang wird ihm eingeheizt: "Wer die gegenwärtige Sonderausstellung im Pariser Petit Palais betritt, findet sich auf Augenhöhe mit dem Schoß des Barberinischen Fauns wieder. Und an diesem Mann schläft ja allenfalls das Gesicht. Der Körper präsentiert sich mit angespannten Muskeln in einer perfekten Pose, die nicht nur den Blick provoziert, sondern mit jeder Faser flüstert: "Berühre mich!" Und im Zentrum dieses Leibs, der sich dem Begehren wie ein Trichter öffnet, lauern die Geschlechtsteile, Inkarnationen der Latenz. Wir verspüren Lust, das schöne Wesen anzufassen. Würde ihn das wohl wecken? Oder würde es bedeuten, dass wir in den schwülen Dunst seiner Träume versinken?" (Bild: "Schlafender Satyr" von Edmé Bouchardon. Foto: Wikimedia Commons)

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden über den Mythos des frühen Künstlertods (Welt), die Ausstellung "Making Africa" im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein (NZZ), die Ausstellung "Kunst für alle" in der Akademie der Künste in Berlin (FAZ), "Ich Mann, Du Frau - Feste Rollen seit Urzeiten?" im Archäologischen Museum Colombischlössle in Freiburg im Breisgau (FAZ) und die Ausstellung "Inhuman" im Kasseler Fridericianum (Zeit).
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