Efeu - Die Kulturrundschau

Überwiegend sehr herrlich

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27.04.2015. Im Tagesspiegel fragt Thomas Oberender von den Berliner Festspielen, warum plötzlich so viel Mittel in die Volksbühne fließen statt in Radialsystem, Sophiensäle, HAU und Kunstwerke. Chris Dercon benennt das Problem der horizontalen Linken: Sie hat Probleme mit Veränderungen. Am neuen Whitney Museum ist das Schönste der Blick nach draußen, findet die SZ. Der Tagesspiegel hat einen neuen Chef für die Philharmoniker gefunden: den Florettfechter Andris Nelsons.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.04.2015 finden Sie hier

Bühne

Im Berliner Theaterstreit schaltet sich nun auch Thomas Oberender von den Berliner Festspielen ein, zu denen eine Dercon-Volksbühne in den vergangenen Diskussionen als mögliche Konkurrenz in Stellung gebracht wurde. Das Mäandern zwischen den Künsten, wie die Festspiele es betreiben, ist doch wohl inzwischen akzeptiert, schnaubt er im Tagesspiegel. Bei Dercon sorgt ihn ganz was anderes: "Dass die jüngsten Veränderungen nicht in eine für Berlin so prägende wie wichtige Struktur aus Radialsystem, Sophiensälen, HAU und Kunstwerken fließen, hat viel mit dem Markennamen Volksbühne zu tun, in den nun investiert wird wie in ein Plattenlabel."

Jetzt kann sich die Aufregung ja wieder legen, meint Katrin Bettina Müller im taz-Kommentar nach der großen Pressekonferenz, auf der Dercon sich und seine Pläne vorgestellt hat: "Schaut man auf die Künstler, die Dercon als Partner nannte [Susanne Kennedy, Romuald Karmakar, Boris Charmatz, Alexander Kluge], um mit ihnen das Konzept für die Volksbühne zu entwickeln, ist da tatsächlich einiges an Musik und Abenteuer drin."

In der NZZ kommentiert Barbara Villiger Heilig: "Bei allem Bedauern über das nahende Ende der singulären Castorf-Ära gehört der Wechsel ganz einfach zu den Spielregeln. Wie nahtlos wird er vonstatten gehen? Bert Neumann, prägender Ausstatter des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz, sagte, weder er noch Castorf, Pollesch, Fritsch oder die Schauspieler würden hier "unter irgendeinem Kurator" arbeiten. Dercon indessen versammelt schon sein neues Künstlerteam. Auf in die nächste Runde!"

Chris Dercon selbst kommt auch zu Wort. Im Tagesspiegel-Interview zeigt er, dass er auch austeilen kann: "Alle reden in Berlin von der Zukunft und dem Neuen, doch die Diskussionen um das Theater sind oftmals retrospektiv. Frank Castorf und Bert Neumann machen an der Volksbühne seit zwanzig Jahren multimediales Theater, verbinden unterschiedliche Kunstformen - und jetzt komme ich, und plötzlich soll das nicht mehr gelten, werden wieder die alten Terrains abgesteckt. ... Das ist in der Politik leider normal für die so genannte horizontale Linke. Revolutionäre bekommen oft Probleme mit Veränderungen. Ich fühle mich nicht als Revolutionär, ich bin ein Moderator der Veränderung. Wenn man an seine eigene Kunst glaubt, muss man auch loslassen und den Stab weitergeben können."

Weitere Artikel: Ebenfalls in der NZZ schildert Marion Löhndorf Chris Dercons erfolgreiches Wirken an der Tate Modern. Hannes Stein berichtet in der Welt von einer Invasion britischer Schauspieler auf amerikanischen Bühnen, die die Monarchie feiern.

Besprochen werden die Uraufführung von Marius von Mayenburgs Kulturbetriebs-Satire "Stück Plastik" an der Berliner Schaubühne ("saukomisch", meint Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung, Nachtkritik), Mozarts Oper "Così fan tutte" am Theater Basel (NZZ), Pedro Martins Bejas Bühnenadaption von Joachim Lottmanns Roman "Endich Kokain" in Bremen (Nachtkritik), Young Jean Lees beim Festival "Männlich Weiß Hetero" im Berliner HAU aufgeführtes Stück "Straight White Men" (Tagesspiegel), Elliott Sharps im Konzerthaus Berlin aufgeführte Kammeroper "Port Bou" über Walter Benjamin (taz), die Aufführung einiger Trisha-Brown-Choreografien in Berlin (FAZ), ein von Simon Rattle dirgiertes "Rheingold" (SZ) und Alexander Müller-Elmaus Inszenierung von Heinar Kipphardts "März, ein Künstlerhaus" am Düsseldorfer Schauspielhaus (FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur


The building viewed from the roof of the Standard, July 2014. Foto: Whitney Museum

Für die SZ wandert Peter Richter durch das neue, von Renzo Piano konzipierte Gebäude des Whitney Museum of American Art in New York. So voll und ganz überzeugt klingt sein Bericht allerdings nicht, insbesondere da das Gebäude sehr dazu einlädt, sich am großzügig gewährten Ausblick auf die Nachbarschaft zu ergötzen, statt mit der ausgestellten Kunst vorlieb zu nehmen. Die Kuratoren "werden sich nicht wundern müssen, wenn sie ihre Galerien leerer vorfinden als die Sofas vor den Panoramafenstern. ... Das Haus freut sich so sichtbar über seinen Ort, dass es fast schon am Selbstbewusstsein kratzt." Fazit? Das Gebäude sei "überwiegend sehr herrlich", wenngleich wenig stringent.

Außerdem: Im Standard berichtet Wojciech Czaja über die Verleihung des Europäischen Architekturfotografiepreises an Petra Gerschner.
Archiv: Architektur

Kunst

Für die FR hat sich Daniel Kothenschulte Wim Wenders" Foto-Retrospektive im Düsseldorfer Kunstpalast angesehen und den Regisseur dabei als Fotografen kennengelernt, der ausschließlich mit klassischem Filmmaterial arbeitet und damit der "Analogie zur sichtbaren Wirklichkeit" die Treue hält: "Er ist Vertreter einer Fotografie, die nicht zuerst an das Bild denkt, sondern an den Gegenstand." (Bild: Wim Wenders, Dog on the Road to Ayers Rock #2, Uluru 1977, © Wim Wenders)

Weitere Artikel: Katja Thorwarth schreibt in der FR zum Tod der Künstlerin Eva Köstner. Außerdem spricht der SWR ausführliche mit dem Sammler Harald Falckenberg, dessen Vorliebe jener Kunst gilt, "die sperrig und politisch ist, subversiv und auch mal kitschig".

Besprochen werden die Ausstellung "Inhuman" im Kasseler Fridericianum (online nachgereicht von der Zeit), die Ausstellung "Monet und die Geburt des Impressionismus" im Frankfurter Städel (NZZ), Sebastiao Salgados "Genesis"-Ausstellung im C/O Berlin (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Im Standard kann man einen Auszug lesen aus Eva Menasses neuem Buch "Mein Löwengassenland". Hier der Anfang: "Jeder wächst im Dorf auf, auch wenn er in der Großstadt geboren wird. Denn als Kind erweitert man nur langsam den vertrauten Radius: Zimmer, Haus, Gasse, Viertel. In meinem Fall kommt hinzu, dass in Wien, der Hauptstadt von Neurose und Minderwertigkeitskomplex, allzeit die Rede vom Dorf geführt wird. Hört man den Wienern zu, leben sie in der dörflichsten Metropole der Welt - vielleicht stimmt das ja auch. Wenn wir, was selten geschah, spät nach Hause kamen und durch die menschenleere Löwengasse gingen, kicherte mein Vater auf diese dünne und helle Weise, die das Maximum an Verachtung ausdrückte: "Und das", höhnte er, "soll eine Großstadt sein." Das Referenzsystem seiner Kindheit war London..."

Weitere Artikel: Hannes Hintermeier bringt in der FAZ Hintergründe zu den Rangeleien um den Nachlass von Thomas Bernhard seit das Thomas-Bernhard-Archiv in Gmunden geschlossen wurde (siehe dazu auch Berichte in den Salzburger Nachrichten und im Standard). In der SZ berichtet Matthias Drobinski von einer Diskussionsveranstaltung mit Martin Walser und Kardinal Reinhard Marx. Im Standard annonciert Gerhard Dorfi ein neues Literaturfestival, das "Literasee" im idyllischen Bad Aussee.

Besprochen werden Pete Dexters "Unter Brüdern" (CrimeMag), Martin Burckhardts SF-Thriller "Score" (CrimeMag), Antonia Baums "Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren" (Zeit, mehr), James Lee Burkes "Sturm über New Orleans" (SZ, mehr), Heinz Reins wiederaufgelegtes "Finale Berlin" (Berliner Zeitung), eine illustrierte Ausgabe von Anna Seghers" "Das siebte Kreuz" (Freitag) und Alfred Rosenbergs Tagebücher (SZ).

In der online nachgelieferten Frankfurter Anthologie der FAZ stellt Hubert Spiegel Günter Grass" Gedicht "Askese" vor:

"Die Katze spricht.
Was spricht die Katze denn?
Du sollst mit einem spitzen Blei
..."
Archiv: Literatur

Film

Beim Filmfestival in Nyon spricht der armenische Regisseur Harutyun Chatschatryan im Interview mit dem Standard über seine Filme, den Überlebenswillen der Armenier und die Türkei, wo sich die Lage trotz Erdogans positiv verändert habe: "Erdogan ist ein Nationalist, ein Neofaschist, der der Wahrheit nicht ins Auge blicken möchte. Nicht einmal bei seinen eigenen Leuten schafft er das: Bei den Protesten im Gezi-Park hat er Gewalt gegenüber den eigenen Landsleuten ausgeübt. Allerdings habe ich viele Freunde in der Türkei, die gegen die Regierung sind. Die Türken haben Sensibilität dafür, was in ihrem Land nicht stimmt. Vor fünf, sechs Jahren haben wir eine armenisch-türkische Plattform gegründet, auf der wir Filme produzieren, die das Verhältnis dieser Völker thematisieren. Vor zehn Jahren hätte sich das niemand vorstellen können."

Weiteres: Im Standard resümieren Dominik Kamalzadeh und Isabella Reicher das Crossing Europe Filmfestival in Linz. Die taz bringt einen Auszug aus Cristina Nords Buch über die HBO-Serie "True Blood". Dirk Peitz beschwert sich auf ZeitOnline darüber, wie blutrünstig die Serie "Game of Thrones" in ihrer neuesten Episode geworden ist.

Besprochen werden Alex Garlands "Ex Machina" (FR), das auf DVD veröffentlichte Guantanamo-Drama "Camp X-Ray" mit Kristen Stewart (SZ), die dritte Staffel der Serie "Orphan Black" (FAZ) und die britische Serie "Broadchurch" (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Ginge es nach Frederik Hanssen (Tagesspiegel) ist nach einem von Andris Nelsons dirigierten Mahler-Konzert der Berliner Philharmoniker der Nachfolger von Simon Rattle bereits gefunden. Schon die schiere Agilität des Letten findet er beeindruckend: "Sehr physisch ist seine Art, die Musik will bei ihm durch den ganzen Körper hindurch. Blicke und Gesten reichen da nicht aus, er gleicht einem Florettfechter, will überall gleichzeitig sein, den Instrumentalisten ganz nahe kommen, auch den hinten sitzenden Bläsern. Er duckt sich hinterm Pult weg, schnellt wieder hoch, legt sich mit dem Orchester in die Kurve, reißt beide Arme gleichzeitig nach oben." Das trifft sich gut, denn laut einer Umfrage des RBB wünschen sich die meisten Konzertbesucher einen jungen Nachfolger für Simon Rattle, etwa Nelsons oder Gustavo Dudamel.

Zwei neue, umfangreiche Compilations (hier und hier) des auf musikalische Hebungen spezialisierten Labels Soul Jazz bieten eine Momentaufnahme des Cleveland-Punks der siebziger Jahre, als die Region industriell gehörig abwirtschaftete, wie wir in der SZ-Besprechung von Klaus Walter erfahren: "Die 36 Songs aus dem untergehenden Ohio fügen sich im Nachhinein zu einem Panorama der Deindustrialisierung zusammen, oder besser: zur Paranoia der Deindustrialisierung. Ironie der Geschichte: wir hören die Vorboten eines neuen Sounds der Großstadt. Er entsteht ziemlich genau in dem historischen Augenblick, als die Industrie, wie wir sie kannten, untergeht. Und der Name der neuen Musik ist: Industrial."

Weiteres: Die SZ-Kritiker hören sich Stück für Stück durch das neue Album von Tocotronic (hier im Stream). Vinylsammler Andreas Hartmann stellt in der taz das Berliner Undergroundlabel Karlrecords vor, das unter anderem "verstrahlte Gitarrenminiaturen" in Kleinstauflagen veröffentlicht. Der binnen kürzester Zeit vom No-Name zum Spotify-Chartstürmer avancierte Sänger Benjamin Clementine passe bestens "ins Zeitalter viraler Aufmerksamkeitsepidemik", schreibt Thomas Groß in der Zeit. Für The Quietus unterhält sich Stephanie Boland mit der Sonic-Youth-Musikerin Kim Gordon über deren Autobiografie.

Besprochen werden eine Konzert von Branford Marsalis und der hr-Bigband (FR), ein Auftritt von Anne Sofie von Otter (Tagesspiegel) und das neue Album von Modest Mouse (FAZ).
Archiv: Musik