Efeu - Die Kulturrundschau

Utopische Entrückung

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28.04.2015. Eva-Maria Höckmayrs Berliner Inszenierung der Telemann-Oper "Emma und Eginhard" stößt auf freundliche Kritik: zu viel gurrende Flauto-d'amore-Flirts oder anders gesagt: zu viel erlesene Halbherzigkeit. Etwas thesenhaft kommt Tocotronics neues Konzeptalbum über die Liebe beim Tagesspiegel an, die Welt möchte dagegen sofort knutschen. Im Standard beklagt der Choreograf Chris Haring die neue Lust am Einteilen und Sortieren in der Kulturpolitik. Dem Tages-Anzeiger stellen sich die Nackenhaare hoch vor Berlinde De Bruyckeres Wachskadavern. Und der Guardian erklärt, wie John Galliano sich die Zukunft des Avantgarde-Modelabels Margiela vorstellt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.04.2015 finden Sie hier

Bühne



An der Berliner Staatsoper hatte Eva-Maria Höckmayrs Inszenierung von Carl Philipp Telemanns Oper "Emma und Eginhard" aus dem Jahr 1728 Premiere. Für deren albernen Charakter interessierte sich die Regisseurin sehr zum Bedauern von Clemens Haustein offenbar allenfalls am Rande: "Eigentlich sollte man doch gerade den albernen Telemann wiederentdecken! ... Was währenddessen auf der Bühne geschieht, ist in den ersten beiden Akten von erlesener Halbherzigkeit. Das reichlich herumstehende Personal macht ein wenig höfischen Tanz, tut gespreizt, sehr häufig krabbeln Männer unter die weiten Röcke der Damen", schreibt er in der Berliner Zeitung. Auch Ulrich Amling vom Tagesspiegel kann der Inszenierung nicht gar so viel abgewinnen, dafür lobt er die Musik: Diese habe "einen schönen Drang nach vorne und glänzt dabei silbrig, die Akademisten stürzen sich mit Lust in halsbrecherische Corno-da-caccia-Attacken und gurrende Flauto-d"amore-Flirts. Nichts scheint dabei jemals aus dem Senklot der Perfektion zu geraten. Beinahe sehnt man sich nach etwas rauem Küstenatem."

Choreograf Chris Haring, dessen jüngste Arbeit gerade am Burgtheater-Kasino uraufgeführt wurde, spricht im Interview über Andy Warhol, Veränderungen im Tanz seit den Nuller Jahren, neue Medien (mehr dazu auch in der Presse) und was fehlt: "Ich vermisse die lauten Persönlichkeiten in der Szene. Die Pioniere, die sich für ein Tanzhaus eingesetzt haben und dergleichen. Man hat Alternativen gesucht und sich irgendwie geeinigt. Ich glaube, zu früh. Für mich ist die Szene ein kleines Universum, in dem Politiker, Organisatoren, Networker, Choreografen, Kritiker, Publikum und natürlich die Tänzer beziehungsweise Performer zusammenarbeiten sollten. Kulturpolitisch wird dieses Universum leider nur kategorisiert, in eine bestimmte Schublade gesteckt. Das geht mir auf die Nerven. Vor zehn Jahren konnte ich als Choreograf ein Hörspiel machen und war trotzdem Choreograf. Jetzt, habe ich das Gefühl, will man wieder einteilen und sortieren."

Besprochen werden außerdem Marius von Mayenburgs an der Berliner Schaubühne aufgeführte Prenzlauer-Berg-Satire "Stück Plastik" (Tagesspiegel), David Pountneys Kopenhagener Inszenierung von Carl Nielsens Oper "Saul und David" (SZ), Roland Schwabs Inszenierung von Mozarts "Gärtnerin aus Liebe" am Augsburger Theater (SZ), Irina Brooks Inszenierung der Donizetti-Oper "Don Pasquale" an der Wiener Staatsoper (ohne Tiefgang, aber kurzweilig, meint Ljubisa Tosic im Standard, Wilhelm Sinkovicz ist in der Presse restlos begeistert), die Multimedia-Oper "Solaris" in Lausanne (NZZ), Pipsa Lonkas Stück "These little town blues are melting away", mit dem der Heidelberger Stückemarkt eröffnet wurde (FR), Jan Bosses Hamburger Bühnenadaption von Christian Krachts Roman "Imperium" (Nachtkritik, SZ, FAZ) und Trisha Browns in Berlin aufgeführte Choreografien (eine "hinreißende Synthese aus mathematischer Präzision und urbaner Lässigkeit", schreibt Dorion Weickmann in der SZ).
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Musik

Sehr ausführlich befasst sich Christian Schröder im Tagesspiegel mit dem neuen Album von Tocotronic, zu dem er bei aller Sympathie auch kritische Anmerkungen fallen lässt. "Das Rote Album ist als Konzeptalbum über die Liebe zu verstehen, wobei das Konzept ein wenig ins Thesenhafte lappt. An Wortspielen und Pointen mangelt es nicht, doch die Geschichten wirken mitunter blutleer." Und dennoch: Das "ist große Popmusik. ... Wieder zusammen mit dem Produzenten Moses Schneider eingespielt, klingt die Platte transparent, fluid und klar."

Außerdem: Über die Liebe und die Schwierigkeiten, für die Liebe einen Diskurs zu finden, hat sich Sänger Dirk von Lotzow unterdessen mit Melanie Büttner von ZeitOnline unterhalten. Auch die körperliche Liebe wird da zum Thema: "Uns ist es darum gegangen, sexuelles Erleben auf eine Weise darzustellen, die über rein pornografische Inhalte hinausgeht." In der Welt bekennt Frédéric Schwilden: "Hört man das titellose Album (Tocotronic sprechen heiter von "Das rote Album"), will man knutschen, bis man müde ist. Haut auf Haut spüren. Fremden Speichel auf der Zunge schmecken. Fremde und den eigenen Körper erkunden. Vermessen. Bespielen. Fummeln. Fingern. Füßeln. Heißen Atem im Ohr spüren. Das Dasein mit der einzigen Berechtigung für das Sein an sich überhaupt feiern: mit der bedingungslosen, absoluten Liebe in all ihren Facetten."

Zwar hält Frank Schäfer in der taz die neue, umfangreiche Box zum Schaffen der Rockdinosaurier Hawkwind eher für "lieblos" in ihrer Zusammenstellung, dafür kann er sich umso mehr für die Band an sich begeistern: "Hawkwind waren Kunstkacke im Quadrat und einer der Gründe, warum es später Punk geben musste. Einerseits. Andererseits bestanden sie aber genau nicht aus Konservatoriumsstrebern, die den Graben zwischen E und U überbrücken wollten und sich in drögen Klassikexegesen ergingen, sondern aus Dilettanten, die gern Trips einwarfen und dann zusammen improvisierten, bis die Wirkung nachließ. Von wirklichen Art-Rockern wurden Hawkwind als "Zwei-Akkorde-Band" geschmäht. ... In gewisser Weise leuchtete diese strukturelle Simplizität auch den Punks ein." Oder eben James Last, der vom Liedmaterial der Band ebenfalls nicht lassen konnte und sein Orchester zum Hawkind-Überhit "Silver Machine" abhotten ließ:



Weitere Artikel: In seinem für den Rolling Stone verfassten Poptagebuch stellt Eric Pfeil vier Alben aus den 80ern vor, die zwar keiner mehr kennt, "bei einigen glücklichen Zeitgenossen aber für platzende Hosennähte sorgen dürften." Jude Rogers (The Quietus) porträtiert die reformierten Britpopper Blur.

Besprochen werden ein Konzert des Atrium Quartetts zum 175. Geburtstag von Peter Tschaikowsky (Tagesspiegel), ein Boxset mit Aufnahmen von Popol Vuh (The Quietus) und das neue Album von Modest Mouse (FAZ).
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Kunst


Berlinde De Bruyckere, The Embalmer, Ausstellungsansicht 1.OG, Kunsthaus Bregenz. Foto: Mirjam Devriendt, © Berlinde De Bruyckere, Mirjam Devriendt und Kunsthaus Bregenz

Ganz schön mitgenommen kommt Paulina Szczesniak aus Peter Zumthors Kunsthaus Bregenz, in dem gerade die belgische Künstlerin Berlinde De Bruyckere ihre Installationen, Wachskadaver und Zeichnungen aufstellt. Tod ist überall, schreibt sie im Zürcher Tages-Anzeiger: ""The Embalmer" hat die Künstlerin ihre Schau genannt, "die Tierpräparatorin". Besser als zum Dornbirner Satelliten passt der Titel nur noch zu dem, was De Bruyckere eigens für die zumthorschen Räume geschaffen hat: Im obersten Stock in Bregenz stapeln sich Dutzende von Kuhfellen aufeinander (aus Wachs nachgeformte, versteht sich). An einer Art schiefen Litfasssäule ist ein einzelnes aufgespannt, die behaarte Seite gegen die konvexe Krümmung gekehrt, sodass die fleischige Innenseite offenliegt: die Quadratur einer Wunde. Materialisierter Schmerz, der einem ­nolens volens die Nackenhaare aufstellt."

Nachdem die Briten nun Neil MacGregor und Chris Dercon nach Berlin verlieren, steht an Londoner Museen eine große Wachablösung bevor, berichtet Marion Löhndorf in der NZZ.

Besprochen werden außerdem eine Batman-Ausstellung im Cöln Comic Haus (Tagesspiegel), Elín Hansdóttirs in den KunstWerken Berlin eingerichtete Filminstallation "Suspension of Disblief" (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Punkt, Punkt, Komma, Strich. Zeichnen zwischen Kunst und Wissenschaft: 1525-1925" in der Universitätsbibliothek in Heidelberg (FAZ).

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Literatur

Der Tagesspiegel bringt einen Auszug aus Olga Martynovas Antrittsvorlesung, die sie am 30. April an der FU Berlin halten wird. Peter Urban-Halle schreibt in der NZZ zum Tod des dänischen Schriftstellers Klaus Rifbjerg.

Besprochen werden unter anderem Sjóns "Der Junge, den es nie gab" (Tagesspiegel), Steffen Kopetzkys "Risiko" (Tagesspiegel), Heidi Reuschels Dissertation "Tradition oder Plagiat" (SZ), Henri Michauxs "Zeichen. Köpfe. Gesten." (SZ), Albert Ostermaiers "Lenz im Libanon" (SZ), Hedin Brús "Vater und Sohn unterwegs" (FR) und Ror Wolfs "Raoul Tranchirers Notizen aus dem zerschnetzelten Leben" (FAZ, mehr). Mehr in unserer aktuellen Bücherschau um 14 Uhr.

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Film



Ach, die "paradiesische Stimmung vor dem Zeitalter der Kausalität"! Etwas wehmütig kommt Pascal Blum vom Tages-Anzeiger aus Mia Hansen-Løves Film "Eden" über die französische House-Musik in den Neunzigern. ""Eden" geht die Jahre von 1992 bis 2008 durch mit all ihren Verschiebungen in Mode und Musik. Die Regisseurin bringt die Episoden in einen immer wieder zauberhaften Fluss des Sich-Verlierens und Wiederfindens, des Rauschhaften und melancholischen Nachglühens. Es sind melodiöse Jahre einer auch utopischen Entrückung, in der eine Zeitrechnung aus glimmenden Glückszuständen entsteht. Die Schönheitsminuten, die nicht bleiben können, scheinen ins Unendliche gedehnt; die äußeren Brüche und Einschnitte, die ein Leben umlenken, passieren beiläufig in "Eden"; als seien sie immer schon passiert, wenn wir sie bemerken."

Gunda Bartels (Tagesspiegel) stattet den Dreharbeiten zu Jan Henrik Stahlbergs Gender-Satire "Fikkefuchs" einen Besuch ab. Christian Vagt (taz) weist auf eine Werkschau Rosa von Praunheim im Berliner Kino Lichtblick hin. Endspurt bei "Mad Men": Kommentare zur am Sonntag ausgestrahlten Episode bringen der Rolling Stone, der Guardian, und Variety. Und: Was Regisseurinnen in der Branche alles zu hören kriegen - ein Zitate-Blog voller Unfassbarkeiten (via).

Besprochen werden Tim Burtons "Big Eyes" (SZ) und Annekatrin Hendels Dokumentarfilm über Rainer W. Fassbinder (Berliner Zeitung).
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Design

John Gallianos antisemitische Ausfälle in einer Bar, die 2011 zu seiner Entlassung bei Dior führten, waren kein Thema beim Vogue-Gespräch mit dem Designer, meldet Jess Cartner-Morley im Guardian. Es war trotzdem interessant, fand sie, denn Galliano - für seine Schneiderkunst so berühmt wie für seine pompösen historischen Kostümspektakel - hat erstmals erklärt, wie er sich die Zukunft des Avant-Garde-Labels Martin Margiela vorstellt, dessen Chef er seit Oktober 2014 ist: "Er hat das Innenfutter der Kleider als die Essenz dessen definiert, was Margiela unter seiner Aufsicht sein soll. "Ich möchte, dass das Innenfutter das wird, was die Dior-Jacke ist oder die Chanel-Kamelie", sagte er und erklärte weiter, wie das Innenfutter die Grundwerte von Margiela definieren kann - einem Haus, das auf der Unsichtbarkeit gegründet wurde, dem Unerwarteten, Unglamourösen. Das scharlachrote Outfit aus der jüngsten Margiela-Kollektion wurde auf der Bühne von innen nach außen gekehrt um zu zeigen, das was wie ein Seidenkleid aussieht in Wahrheit ein nach außen gekehrter Herrenmantel ist, das Seidenfutter zerschnitten und drapiert, so dass die Originalform verborgen ist. "Ich möchte dies in der Psyche der Menschen etablieren, so dass sie Margiela aus 50 Meter Entfernung erkennen", sagte Galliano."

Außerdem: Zu moralinsauer findet Gemma Sieff im New Republic Dana Thomas" Buch "Gods and Kings: The Rise and Fall of Alexander McQueen and John Galliano". In der New York Times  erzählt Hiroko Tabuchi wie Google mit seinen auf Sucheingaben basierenden Trendreports die Mode beeinflussen will.
Archiv: Design