01.06.2015. In der New York Review of Books erzählt der chinesische Filmregisseur und Künstler Hu Jie, wie seine Holzschnitte über den Großen Hunger entstanden sind. Die Musikkritiker genießen ein harmonisches Musikfest - wenn sie nicht gerade vor Chip-Aufladestationen Schlange stehen. Die Welt hofft auf ein eigenes Haus für den Tanz in Berlin. Frank Castorfs "Brüder Karamasow" bei den Wiener Festwochen provozieren eine ganze Skala von Reaktionen, von A bis B. Die Elaine-Sturtevant-Ausstellung in Berlin gibt leider keine Idee vom Original nach dem Original, bedauert der Tagesspiegel.
Kunst, 01.06.2015

Im Blog der
New York Review of Books unterhält sich Ian Johnson mit dem 75-jährigen chinesischen Filmregisseur und Künstler
Hu Jie, der im Westen durch seine
Mao-Trilogie bekannt wurde. Gerade wurde eine Ausstellung in Tianjin von ihm verboten, mit
Holzschnitten über den Großen Hunger, die auf Interviews beruhten, die er für seinen Film "Spark" gemacht hatte. "For
people of my generation, in elementary school we didn't learn about the Anti-Rightist Movement and in middle school we learned very little", erklärt Hu Jie. "Books about it weren't published. So the Anti-Rightist Movement, or the
Great Famine - we didn't understand anything. When I got into contact with this material and talked with Lin Zhao's classmates, they would tell me things, and each time I would be shocked, and I realized that everything I knew about history had been
covered up, that the official history was
complete nonsense. So I felt it was very important, that these true words had to come out." (
Bild: Hu Jie: Let there be light #12, 2014)
Nach Frankfurt ist die
Elaine-Sturtevant-Ausstellung jetzt in Berlin angekommen, im
Hamburger Bahnhof. Es wäre - gerade nach dem
Skandal um die geklauten Instagram-Fotos von Richard Prince - interessant, einen Artikel zu lesen, der sich am Beispiel Sturtevants - die Bilder berühmter Pop-Art-Künstler nachmalte - mit
Original und Kopie in der Kunst und modernem Urheberrecht befasst. Doch davon sind die Kunstkritiker weit entfernt: "Die meisten Blätter, größere wie kleine, stammen aus den 1960ern, auf denen die Sturtevant ihre strategische Ästhetik der Wiederholung von Motiven anderer Künstler
ausreizt bis zum Letzten und auf spannende Weise die Beziehung von Original und Originalität, Aura, Authentizität, Individualität und Innovationszwänge in der Kunst so gnadenlos streng wie
unterhaltsam reflektiert."
Wie genau Sturtevant das tut,
erklärt uns Ingeborg Ruthe in der
Berliner Zeitung leider nicht. Im Tagesspiegel
behauptet Christiane Meixner einfach nur: "Kopieren ist in ihrem Fall eine
hohe Kunst." Doch auch ein Versäumnis bescheinigt sie der Ausstellung: "Nicht ein einziges Bild oder Objekt in greifbarer Nähe zu zeigen, das auch dem Unkundigen
eine Idee vom Original nach dem Original gibt."
Weitere Artikel: Die
Zeit hat Hanno Rauterbergs Bericht von der
Biennale in Venedig online nachgereicht. In der Deutschlandfunkreihe "Essay und Diskurs"
macht sich Tina Klopp Gedanken über das Verhältnis zwischen Künstler und ihren
tödlichen Krankheiten.
Besprochen wird
Peter Greenaways und
Saskia Boddekes Installation "Gehorsam"
im Jüdischen Museum in Berlin (
taz).
Musik, 01.06.2015
Am Wochenende fand das
10.
Berlin Festival statt. Kaum etwas
schreibt Jens Balzer (
Berliner Zeitung) zur Musik, dafür umso Erbosteres über das dort eingeführte, bargeldlose Bezahlsystem, das die Besucher auch für den Erwerb von Getränken zum umständlichen und langwierigen Aufladen ihres Guthabens zwang: Was nützen da noch die teils politisch sehr engagierten Auftritte mancher Künstler, meint der Popkritiker, "vor dem
deprimierenden Bild der langen, stumm schweigenden Schlangen vor den
Chip-
Aufladestationen: Deutlicher lässt sich die Verschränkung von Konsum und Kontrolle im
total gewordenen Digitalkapitalismus kaum illustrieren." Von solchen Bedenken
lässt sich Gerrit Bartels (
Tagesspiegel) nicht beirren: Er schlendert bestens gelaunt über das Areal, genießt den Blick auf die Spree in der Sonne, trinkt ein Bier und freut sich an der Musik von
James Blake: "Der urbane Lebensstil (...) ist schon sehr
auf Harmonie ausgerichtet, nicht auf kantige Widersprüchlichkeit."
Außerdem: Für
Electronic Beats erinnert sich
Holly Johnson daran, wie
David Bowie ihn in den 70er Jahren modisch inspirierte. Wolfgang Prosinger (
Tagesspiegel) und Reimar Paul (
taz) schreiben zum Tod des politisch bewegten Liedermachers
Walter Mossmann.Besprochen werden das neue Album von Maya Jane Coles" Projekt
Nocturnal Sunshine (
SZ,
Spex), die Compilation "Aus grauer Städte Mauern - Die
Neue Deutsche Welle 1977-85" (
FR)
und das neue Album von
Faith No More (
FAZ).
Bühne, 01.06.2015
In der
Welt hofft Manuel Brug, dass
der Tanz in Berlin endlich ein
eigenes Haus bekommt (das Schiller-Theater vielleicht?), damit die Berliner außer der "schmalen Trennkost dünnlippiger Tanzavantgarde" auch mal was anderes zu sehen bekommen: "Man würde sich wünschen, die kulturpolitisch Verantwortlichen würden auch einmal
nach Paris oder London schauen. Was da für eine Vielfalt in den städtischen Tanzhäusern des Théâtre de la Ville und des Sadler"s Wells Theatre sich ausbreitet. Berlin dagegen geriert sich als hippe, internationale Tanzmetropole, lässt aber die freie Szene
fast austrocknen, gibt dem Etat des Festivals "Tanz im August" gerade einmal das fürs Überleben Allernötigste."
Matschiges Hirn und platter Hintern: Überforderung in Castorfs "Brüder Karamasow"-Inszenierung. Bild: Thomas Aurin.Keine
Castorf-Inszenierung ohne Stoppuhr im Publikum: Netto sechseinhalb, mit Pause sieben Stunden hat die
bei den Wiener Festwochen gezeigte Bearbeitung von "Die Brüder Karamasow" (
mehr) gedauert, mit der der Noch-Volksbühnen-Intendant seinen
Dostojewski-Zyklus komplettiert, erfahren wir von allen anwesenden Kritikern. Auch die Inszenierung selbst war typisch Castorf, schreibt Kai Krösche (
Nachtkritik.de), also "oft kontrollierter, nicht selten jedoch ins Beunruhigende des Kontrollverlusts abdriftender
Bühnenwahnsinn. Die Augen aufgerissen, die Gliedmaßen in ständiger Bewegung, beben, wehen und klagen sie auf dieser Bühne, vor allem aber
brüllen sie, bellen wie die Hunde, kreischen und spucken die oft ins gefühlt Unendliche ausufernden Monologe." Das geht in dieser Spiellänge zwar durchaus an die Substanz ("
Sieg für die Volksbühne durch Zermürbung", ächzt Martin Lhotzky in der
FAZ), doch lässt sich darin auch eine Forderung finden, meint Krösche: "Dass Theater, dass Kunst eben mehr als durchgehend gut funktionierende Unterhaltung ist, dass Kunst - wie das Leben - auf der einen Seite spannend und mitreißend, bisweilen aber auch widersprüchlich, anstrengend, überfordernd, absurd und
streckenweise sogar ziemlich öde sein kann. Insofern ist Castorfs Inszenierung (...)
ungemein lebendig."
Da geht
SZ-Kritikerin Christine Dössel unterdessen gar nicht mit. Die hat von Castorfs "wuchernden, kaum enden wollenden
Überforderungsorgien" nun auch mal langsam genug. Ihr Fazit aus Wien? "Der Hintern platt, die Story Mus, das Gehirn matschig." Castorf richte "sich
fast ein wenig bräsig ein im eigenen Werk-Mythos". In der
NZZ lässt Barbara Villiger-Heilig dagegen nichts auf Castorfs Theater kommen: "Ja, es strengt an und kann zünftig nerven. Aber das
ernste Interesse seinem Stoff gegenüber lässt es vibrieren; und diese Art von Wahrheit macht es
stolz und groß."
Mehr Dostojewski in
Karin Henkels "Schuld und Sühne"-Inszenierung am Schauspielhaus Hamburg (
Nachtkritik,
FAZ), besprochen werden weiter
Jan Bosses bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen uraufgeführte Inszenierung von
Armin Petras" "Münchhausen" (
Nachtkritik.de),
die von
Simone Young inszenierte Uraufführung von
Beat Furrers "la bianca notte / die helle nacht" an der Staatsoper Hamburg (
SZ,
Die Deutsche Bühne),
Mariame Cléments Inszenierung von
Gaëtano Donizettis beim Opernfest Glyndebourne aufgeführte Oper "Poliuto" (
FAZ,
Economist,
Guardian)
und die Ausstellung "
George Grosz: Alltag und Bühne - Berlin 1914 bis 1931" im
Zentrum für verfolgte Künste im Kunstmuseum Solingen (
FAZ).
Architektur, 01.06.2015
Niklas Maak (
FAZ) und Bernhard Schulz (
Tagesspiegel) gratulieren dem Architekten
Norman Foster zum 80. Geburtstag.
Literatur, 01.06.2015
Im
Tagesspiegel verneigt sich Peter von Becker vor
Dante Alighieri, der vor 750 Jahren auf die Welt kam.
Besprochen werden
Andreas Maiers "Der Ort" (
FR),
drei Novellen von
César Aira (
Zeit),
László Krasznahorkais "Die Welt voran" (
Tagesspiegel),
Raphaela Buders Comic "Die Wurzeln der Lena Siebert" (
Tagesspiegel)
und
Uwe Wittstocks Biografie über
Marcel Reich-
Ranicki sowie eine Foto-Ausstellung zu Ehren des Literaturkritikers
in Frankfurt (
SZ).
In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie der
FAZ stellt Ruth Klüger
Adelbert von Chamissos Gedicht "Das Schloss Boncourt" vor:
"Ich träum als Kind mich zurücke,
Und schüttle mein greises Haupt;
Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder,
..."
Film, 01.06.2015
Gestern wäre
Rainer Werner Fassbinder 70 Jahre alt geworden. Die
Zeit hat aus diesem Anlass Katja Nicodemus" Text über die bis heute nachklingende Wirkung des Regisseurs online gestellt. Patrick Heidmann (
Berliner Zeitung)
befragt den Schauspieler
Harry Baer, der viele Jahre mit Fassbinder gearbeitet hat. Besonders fleißig waren Georg Seeßlen und Markus Metz: Für den
Bayerischen Rundfunk haben sie eine Reportage über "
Fassbinders Bayern"
erstellt, beim
Deutschlandfunk haben sie eine "Lange Nacht über Fassbinder"
betreut.
Mr. Miller, wie haben Sie das gemacht? Ian Failes" ausführlicher, reich bebilderter Hintergrundbericht auf
FX Guide zeigt, wie
George Miller für seinen Actionfilm "Mad Max: Fury Road" (
unsere Kritik) Actionhandwerk und CGI kombiniert hat.
Besprochen werden
Rüdiger Suchslands Essayfilm "Von Caligari zu Hitler" (
critic.de),
Jon Favreaus "Kiss the Cook" (
SZ,
ORF) und
Philip Seymour Hoffmans letzter, bei uns nur auf DVD und VoD ausgewerteter Film "God"s Pocket" (
SZ).