Efeu - Die Kulturrundschau

Tapetenmuster der Freiheit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2015. In der FAZ klagt Norbert Niemann die Verlage an, die totale Kommerzialisierung der Literatur zu betreiben. Die Welt druckt eine Erzählung Leonardo Sciascias aus den Sechzigern über illegale Auswanderer aus Sizilien. In der taz erzählt der syrische Lyriker Faraj Bayrakdar von Haft und Folter unter Assad. Die Welt lernt in einer Ausstellung zum Kunstkollektiv Black Mountain College binnenkünstlerische Notwendigkeit. Die FR porträtiert Susanne Kennedy, die mit Chris Dercon an die Volksbühne kommen wird, als Vatermörderin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.06.2015 finden Sie hier

Literatur

Der Kapitalismus ist der neue Faschismus (oder Stalinismus): Er zersetzt alles, sogar die Literatur, klagt der Schriftsteller Norbert Niemann in seiner von der FAZ dokumentierten Dankesrede zum Carl-Amery-Preis. Auch die Verleger - an dieser Stelle bleibt Niemann abstrakt - hätten sich inzwischen dem Zwang zur totalen Kommerzialisierung unterworfen. Also nur noch kapitalistischer Wohlfühl-Realismus, keine großen Werke mehr? Schon, nur würden sie - auch hier bleibt Niemann leider abstrakt - nicht mehr entdeckt: "Die Entwicklungen in der internationalen Literatur sind so spannend wie seit langem nicht mehr. Nur bekommt das Lesepublikum leider nichts davon mit. Es ist nämlich zum Expertenwissen verkommen, was einmal Aufgabe des literarischen Diskurses war: künstlerische und gesellschaftliche Prozesse zusammenzudenken und so an einem von Machtinteressen unabhängigen Bild der Gegenwart mitzuarbeiten. Heute dagegen treibt die geistige Provinzialisierung, die sich zwangsläufig einstellt, wenn Diskurs und Gedächtnis als Referenzsysteme ausfallen, in einer Spiralbewegung den Prozess der Kommerzialisierung immer noch weiter voran."

Aufmacher der Literarischen Welt ist Leonardo Sciascias wunderbare Erzählung "Die weite Reise" von 1966 über illegale Auswanderer aus Sizilien, die nach Amerika wollen: "Manche von ihnen sahen das Meer zum ersten Mal. Und sie erschraken bei der Vorstellung, dass sie es ganz überqueren sollten, von diesem verlassenen nächtlichen Strand in Sizilien bis hinüber zu einem ebenso verlassenen nächtlichen Strand in Amerika. Denn so war es ausgemacht: "Ich bring euch nachts an Bord", hatte der Mann gesagt, eine Art Handelsvertreter seinem Mundwerk nach, aber mit ernsthaftem, ehrlichem Gesicht, "und ich setz euch auch nachts an Land, am Strand von Nudschörsi, nicht weit von Neujork …"" Ahnen Sie schon das Ende?

Ebenfalls in der Welt: Der kroatische Schriftsteller Edo Popović unternimmt eine Wanderung und denkt dabei über die Natur nach. "Was mich betrifft, ich erwarte nichts von der Natur. Ich verweile einfach in ihr. Ich gehe und spüre die Erde unter meinen Füßen, ohne über den Ort nachzudenken, an den ich gelangen werde. Ich atme und beobachte die Gegend, die ich durchstreife. Das tut meiner Lunge, meinen Muskeln, meinem Kopf gut."

Und Jan-Niklas Kniewel stellt in der taz den syrischen Lyriker Faraj Bayrakdar vor, der wegen seiner Mitgliedschaft in der verbotenen Kommunistischen Arbeiterpartei unter Assad jahrelang im Gefängnis saß und gefoltert wurde: In der Haft "schreibt er auf Zigarettenpapier. Mit Tinte, die er aus Zwiebelsäure und Teeblättern extrahiert. Zeilen über den Knast, die Liebe, die Freiheit, die er für immer verloren zu haben glaubt. Seine Besucher, die er später im Saidnaya-Gefängnis empfangen darf, schmuggeln sie heraus. Mehr als sieben Jahre dauert es, bis Faraj ein Verfahren zugestanden wird. Sie verurteilen ihn zu 15 Jahren."

Weitere Artikel: Roman Bucheli untersucht für die NZZ, was Autoren und Verlage auf Facebook treiben. Mirja Gabathuler spricht in der taz mit der Berliner Schriftstellerin Olga Grjasnowa unter anderem über die Adaption ihrer Romane am Berliner Maxim Gorki Theater. Im Tagesspiegel würdigt Gerhard Seyfried den Comicautor Tomas Bunk, der auf dem Comicfestival in München für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden Ruth Schweikerts "Wie wir älter werden" (taz), I.J. Kays "Nördlich der Mondberge" (FR), die Neuauflage von Martin Bubers "Erzählungen der Chassidim" (Tagesspiegel), Oliver Sacks" "On the Move" (SZ), Albert Camus" gesammelte Reportagen für die Resistance-Zeitschrift "Combat" (FAZ) und die neue Dauerausstellung "Die Seele" im Literaturmuseum der Moderne in Marbach (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst


Black Mountain College, Fotografieunterricht mit Josef Albers, Lake Eden Campus, um 1944. Foto © Courtesy of Western Regional Archives, States Archives of North Carolina

Swantje Karich hat für die Welt im Hamburger Bahnhof eine Ausstellung über Wirkung und Wesen des amerikanischen Kunstkollektivs Black Mountain College besucht und erzählt jetzt begeistert von einem Ort, der zwischen 1933 und 1957 Künstler und Wissenschaftler aus der ganzen Welt beherbergt hat, die dort Methode lehrten, nicht Inhalte: "Es ging auf dem Black Mountain aber nicht einfach um die Abwesenheit von Zwängen, sondern um die Gewinnung von Platz für die Entfaltung binnenkünstlerischer Notwendigkeit: Man wollte nicht "ganz zwanglos" sein, sondern gerade Aufmerksamkeit pflegen für höhere Zwänge, für das zwingende ästhetische Erlebnis, die Arbeit, die wirkt, als könne sie gar nicht anders sein. Das ist das Gegenteil von Beliebigkeit. Papierarbeiten und Entwürfe von Xanti Schawinsky visualisieren diesen Anspruch des freien Spiels ästhetischer Kräfte wie herrlichste abstrakte Kunst, sind aber nicht einfach Tapetenmuster der Freiheit, sondern erzählen von dem Willen, die Wissenschaft ins Theater zu bringen."

Noch bis zum 20. Juni kann man im Berliner Kunstraum Between Bridges die Puppen der 1996 gestorbenen Transgender-Künstlerin Greer Lankton sehen - und Sonja Eismann von der Jungle World rät dringend dazu, diese Gelegenheit auch wahrzunehmen: "In ihrer Beschäftigung mit Körperbildern, Gender, Sexualität und (Geschlechter-)Performance nimmt sie einerseits Themen der feministischen Avantgarde der siebziger Jahre auf, andererseits antizipierte sie (...) bereits Perspektiven von Queerness und Transgender, die erst Jahre später in die Kunstproduktion drängen sollten."

Weitere Artikel: In der Ausstellung "Impressionismus - Expressionismus" in der Alten Nationalgalerie in Berlin erlebe man beide Kunstströmung einmal nicht als Gegenspieler, sondern "im lebhaften Dialog, gar ineinander übergehend", berichtet eine entzückte Ingeborg Ruthe in der FR. In der Welt schreibt Werner Spies über die Ausstellung "Pierre Bonnard. Peindre l"Arcadie" im Musée d"Orsay.
Archiv: Kunst

Bühne

Im Interview mit der Presse erzählt der kanadische Regisseur Robert Lepage, der in Wien Thomas Adès" Oper "The Tempest" inszeniert, warum er sich in den letzten Jahren so sehr zur Oper hingezogen fühlt: "Für mich ist Oper das große Gesamtkunstwerk, die Begegnung aller Disziplinen. Außerdem leitet einen in der Oper die Musik. In der Oper ist es schwierig, sich zu irren. Ja, der ganze Subtext ist darin. Wenn man Schiller oder Shakespeare inszeniert, muss man sich lang hinsetzen und versuchen zu verstehen. Wenn ich eine Oper inszeniere, verbringe ich keine Zeit am Schreibtisch, es ist von Anfang an Action. Das mag ich sehr."

Susanne Lenz porträtiert in der FR die Regisseurin Susanne Kennedy, die mit Chris Dercon an die Volksbühne kommen wird. Dass sie im Zuge dessen ein wenig in die Fronten des Berliner Theaterstreits geraten ist, tut ihr leid: ""Castorf, Pollesch, Vinge, das sind meine Helden von früher", sagt sie. Und nun ist sie in eine Art Vatermörderinnenrolle geraten."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel sprechen Sandra Luzina (hier) mit Miloš Lolic über dessen "Bakchen"-Inszenierung am Maxim Gorki Theater und Patrick Wildermann (hier) mit Edit Kaldor über ihre Performance "Inventar der Ohnmacht" am Berliner HAU. Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt den Nachruf auf die Schauspielerin Edith Hancke. Außerdem meldet Wildermann die Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises.

Besprochen werden die Uraufführung von Lucia Ronchettis "Esame di mezzanotte" in Mannheim (NZZ) und Alban Bergs "Lulu" in Amsterdam und München (NZZ).
Archiv: Bühne

Design

In der SZ schreibt Alexander Hosch über Philippe Starcks Design-Exzentrik, die erstaunlich krisenresistent sei: "Warum gelang es Starck, selbst in den Zeiten der platzenden Wirtschaftsblasen zu faszinieren? Weil es Menschen gibt, die - egal wie der Weltgeist tickt - immer alles üppig wollen."
Archiv: Design

Architektur

Die NZZ druckt einen Vortrag des Kunsthistorikers Stanislaus von Moos über Corbusiers Umgang mit der Macht bei der Planung der indischen Stadt Chandigarh: "Gab es eine stille Übereinkunft darüber, dass das Kapitol von Chandigarh, jener Teil der neuen Stadt in Nordindien, für den Le Corbusier selbst die volle architektonische Verantwortung trug, so etwas wie eine zeitgenössische Antwort auf die unter der britischen Kolonialregierung entstandenen Regierungsbauten in Neu Delhi werden müsse? - In einer Notiz im "Œuvre complète" bekundet der Architekt jedenfalls seinen ungeteilten "Respekt" für die Prachtentfaltung der früheren Kolonialherrschaft..."

Ebenfalls in der NZZ berichtet Hans-Jörg Neuschäfer über das Lorca-Zentrum in Granada, dessen Eröffnung wegen Streit in der Leitung verschoben werden musste.
Archiv: Architektur

Film

Daland Segler (FR) berichtet vom japanischen Filmfestival Nippon Connection in Frankfurt. Besprochen werden Frederik Steiners Film "Und morgen Mittag bin ich tot" (NZZ) und Daniél Espinosas Film "Child 44" (NZZ).
Archiv: Film

Musik

Nachdem Bérangère Maximin bereits am Donnerstag in Berlin spielte, ist sie heute und morgen nochmals live zu sehen - und wenn es nach Tim Caspar Boehme von der taz geht, sollte man sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Mit ihren elektroakustischen Klangcollagen ziele die Künstlerin auf "eine Irritation der Hörer mit ambivalenten Klängen. Eine Irritation, die mitunter leicht bedrohlich wirken kann. ... Alle Elemente, mit denen Maximin arbeitet, zielen bewusst auf Uneindeutigkeit und Andeutung ab, sie bringt Klänge und Gesten ins Spiel, nur um sie im nächsten Moment wieder zurückzunehmen." Hier eine Hörprobe:



Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Dave Tompkins das Rap-Urgestein Captain Blowfly, der das Fluchen und kreative Schimpfen zur eigenen Kunstform erhoben hat, "was ihn zu einem Botschafter des nachhaltigen Verfalls macht." Laura Snapes (Pitchfork) unterhält sich mit Riot-Grrrl-Ikone Kathleen Hanna. Die Hamas hat palästinensischen Friedensaktivisten untersagt, ein an der Grenze zu Gaza abgehaltenes Friedenskonzert israelischer Musiker zu besuchen, berichtet Inge Günther in der FR. Burkhard Spinnen besucht für Welt ein Konzert seine einstigen Helden Fleetwood Mac. Auf Electronic Beats stellt Michael Aniser die angesagtesten Tape-Labels der USA vor. Bei den Festspielen in der Grieg-Halle im norwegischen Bergen singt mitunter das ganze Publikum voller Rührung mit, berichtet Jan Brachmann in der FAZ: "So wird Musik zu sozialem Handeln."

Besprochen werden "Surf" von Donnie Trumpet & the Social Experiment (Pitchfork) und ein Auftritt der russischen Band DDT (SZ).
Archiv: Musik