Efeu - Die Kulturrundschau

Sublimer Witzbold

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.06.2015. Die Literary Review erinnert an die Zeit, als Schotten die Literaturkritik mit Witz und doppeltem Bluff beherrschten. Im Freitag bewundert Georg Seeßlen das vernetzte System der Subjektivitäten in "Game of Thrones". Die FAZ staunt über die Aktionskunst Lee Millers. Im Blog hundertvierzehn beschreibt der salvadorianische Autor Horacio Castellanos Moya die Psychologie des Exils. Und die NZZ stellt ein fluides Raumkontinuum von Toyo Ito vor, das auch als Oper dient.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.06.2015 finden Sie hier

Literatur

In der Literary Review hebt Frances Wilson ihr Glas auf die großen schottischen Kritiker des 19. Jahrhunderts, die boshaft, witzig und ohne den geringsten Respekt Autoren wie Wordsworth, Byron oder Keats abschlachteten. Das berühmteste und gefürchtetste Literaturmagazin damals war Blackwood"s Edinburgh Magazine, auch Maga genannt: "Literarische Fehlurteile mal beiseite, gehörten Parodie, Persönlichkeit und unbekümmerte Fröhlichkeit zu Blackwood"s Eigenheiten, Imitation, Maskerade und doppelter Bluff machten seine Persönlichkeit aus. Die Kritiker, die sich hinter Pseudonymen versteckten, imitierten sich selbst und gegenseitig und erschienen als manchmal reale, manchmal erfundene Charaktere. Die treibende Kraft hinter all diesen ausgelassenen Ausweichmanövern war ein Berg von einem Mann namens John Wilson, der die Persona des tatterigen Christopher North annahm, Blackwood"s freundlicher Redakteur (William Blackwood selbst hielt sich klugerweise bedeckt). Hinter dieser Fassade konnte Wilson anonym seinen Freund Wordsworth verreißen und, in einer späteren Ausgabe des Magazins, unter anderem Namen einen Leserbrief schreiben konnte, in dem er sich selbst dafür anklagte, einen so großen Dichter zu beleidigen. John Wilson war, sagte Thomas De Quincey, sein Saufkumpan, "ein sublimer Witzbold"."

Michi Strausfeld unterhält sich im Fischer-Blog hundertvierzehn mit dem salvadorianischen Autor Horacio Castellanos Moya über die Psychologie des Exils: "Das Gefühl von Verlust, das Heimweh, die Sehnsucht nach einer Rückkehr, all das führt zu krankhaften Befindlichkeiten. Nach verschiedenen Exilerfahrungen in mehreren Ländern und Kontinenten fühle ich mich wie ein Teilchen, das nicht mehr in die Maschine passt. Ich kann mich an eine Stadt, an ein Land gewöhnen, aber niemals habe ich das Gefühl dazuzugehören. Mein Gefühl von Zugehörigkeit findet nur in der Erinnerung statt."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr war für die Welt bei einem Veteranenstammtisch der Akademie der Künste über die Bedeutung Heinrich Bölls.

Besprochen werden Dasa Drndics "Sonnenschein" (taz), Lotta Lundbergs "Zur Stunde null" (taz), ein Band mit Kurzprosa von Michael Glawogger (NZZ), Walter Kappachers Band über "Trakls letzte Tage & Mahlers Heimkehr" (NZZ) und "Tamangur", der erste Roman der Lyrikerin Leta Semadenis (NZZ).
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Kunst


Irmgard Seefried, Opernsängerin, singt eine Arie aus Madame Butterfly, Wiener Opernhaus, Wien, 1945. Bild: Lee Miller Archives England 2015.

Auf nach Wien, zur Albertina, wo derzeit die Fotografien von Lee Miller zu sehen sind, ermuntert uns Peter Geimer in der FAZ. Hier sei ein Werk zu erfahren, das "in seiner Gesamtheit surrealistisch [ist], weil die Welt, die es durchmisst, Züge des Surrealen trägt." Insbesondere das Potenzial von Millers Serie aus Hitlers privater Behausung, aus der oft nur das Foto aus dem Badezimmer zu sehen ist, "ist bis heute noch nicht wirklich erfasst worden. Man wird ihnen nicht gerecht, wenn man sie als Reportage beschreibt, sie auf ihren anekdotischen Gehalt reduziert oder als Geste der Aneignung psychologisiert. Aus heutiger Sicht müsste man sie als ästhetisch-politische Aktionskunst beschreiben, eine fotografische Performance im verlassenen Haus des Diktators."

Weitere Artikel: In einer Bildstrecke stellt die NZZ die Fotos von Fabrice Fouillet vor, der eine Serie über gigantische Standbilder gemacht hat.

Besprochen werden eine Ausstellung über das Black Mountain College im Hamburger Bahnhof in Berlin (taz) und eine Retrospektive zur Neuen Slowenischen Kunst in der Modernem Galerie in Ljubljana (taz).
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Film


Kein Helden, trotzdem interessant: Subjektivitätensystem in "Game of Thrones". Bild: HBO.


Dass die Serie "Game of Thrones" samt ihrer literarischen Vorlage von George R.R. Martin mit generischer Wald-und-Wiesen-Fantasy nichts zu tun hat, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Im Freitag versenkt sich nun Georg Seeßlen mit einem umfangreichen Essay ins komplizierte Machtgefüge der Serie, der er bescheinigt auf ganz unterschiedlichen Ebenen vom Zerfall zu handeln: "Nicht nur die wilden Attraktionen von Sex und Gewalt, Magie und Spektakel machen diesen Zerfall so faszinierend: Weil niemand der Held von "Game of Thrones" ist, werden alle Figuren wichtig und interessant. Aus dem zentralen Subjekt ist ein vernetztes System der Subjektivitäten geworden, und "Fantasy" ist nur eine Chiffre dafür, Geschichte und Politik in einer offenen Form zu behandeln, jenseits des Mythos von einer Einheit von Wirklichkeit und Sinn." Auf ZeitOnline rekapituliert Dirk Peitz die aktuelle Episode der Serie.

Netflix wird nicht nur das Fernsehen verdrängen, sondern auch all die wundervollen illegalen Streamingangebote, die es noch gibt, seufzt Michael Wolf in der Welt. So gesellig wird Film gucken nie mehr: "Die viel geäußerte Kritik, exzessiver Internetkonsum führe zu sozialer Isolation, kann demnach abwegiger nicht sein. Viele der Videos wurden während Kinovorstellungen aufgenommen. Die Streams beinhalten neben dem Film auch die Reaktionen der anwesenden Zuschauer. Das Versinken in die Fiktion wird so beständig torpediert und der Filmfreund auf seinem heimischen kalten Ledersofa in einer vergnügt glucksenden und mit Chipstüten knisternden Gemeinschaft willkommen geheißen. Selten sah man Brechts Verfremdungseffekt zielführender und zugleich zärtlicher eingesetzt."

Außerdem: Gunda Bartels (Tagesspiegel) porträtiert den Berliner Schauspieler Frederick Lau, der in Sebastian Schippers Film "Victoria" (mehr dazu hier und in unserer Berlinale-Kritik) eine Hauptrolle spielt. In der NZZ schreibt Rainer Moritz den Nachruf auf den Schauspieler Pierre Brice.
Archiv: Film

Musik

Krautrock-Experte David Stubbs schreibt auf The Quietus ausführlich über die nicht immer ganz ruhmreiche Geschichte der Münchner Kommunen-Band Amon Düül: "Despite the lack of Anglo-American rock ego (...), women barely feature in their numbers and, when they did, were often subject to sexist assumptions. Renate Knaup struggled with the limited vocal role she was asked to perform on "Phallus Dei": (...) "Phallus Dei" had no words for me to sing. I only did these oohs and aahs for the vocals. I wanted to be a soul singer, in the same way that Hendrix was a soul singer.""

Weitere Artikel: Katja Schwemmers plaudert in der Berliner Zeitung mit der aus den Bands Franz Ferdinand und Sparks fusionierten Indie-Supergroup FFS. In der SZ porträtiert Marc Hoch Gerhard Boogard, der von Frauenarzt auf Instrumentenbauer umgesattelt hat. Thomas Winkler berichtet auf ZeitOnline von einer Audienz, die Giorgio Moroder den Berliner Musikjournalisten gewährt hat. In der Welt schreibt Kai Luehrs-Kaiser zum 150. Geburtstag des spätromantischen Komponisten Carl Nielsen.

Besprochen werden ein Konzert von Van Morrison in Wien (Standard), Sam Prekops "The Republic" (taz) und das neue Album der Mumford & Sons (FR).

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Bühne


Rutschig: Bild eingeseiften Zeitgeists in "Mania". Foto von Ute Langkafel/Maxim Gorki Theater.

Mit "Mania", einer Bearbeitung von Euripides" "Bakchen", führt Miloš Lolić das Theater am Berliner Maxim Gorki zurück an seine dionysischen Wurzeln. Für Dirk Pilz" Geschmack fiel diese von Verknotungen nackter Körper illustrierte Rückbesinnung allerdings nicht nur zu verschwitzt, sondern auch viel zu laut aus. In der Berliner Zeitung schreibt er: "Alles verschwimmt, alles kommt ins Rutschen. Das soll vermutlich eine gegenwartsnahe Diagnose sein. Und wenn am Ende in dünnen Fäden Seifenschleim aus dem Himmel tropft und alle zu einem einzigen klebrigen Pulk werden, wenn sie hinfallen und keinen sicheren Stand mehr finden, wenn alles mit allem vermanscht ist, soll dies das entsprechende Zeitgeist-Bild sein." Weitere Besprechungen auf nachtkritik.de und beim Tagesspiegel.

Weiteres: "Am vergangenen Freitag wurde Teatr.doc-Chefin Jelena Gremina ein erstes Mal von der Staatsanwaltschaft einvernommen. Sie vermutet, dass die Behörden ein Verbot ihres Theaters anstreben." Zugleich wurde dem Theater die neue Unterkunft gekündigt, aus der alten war es von der Moskauer Stadtverwaltung gedrängt worden, berichtet Herwig Höller im Standard. Für die Nachtkritik berichten Alexander Kohlmann (hier) vom Live Art Festival in Hamburg und Elisabeth Maier (hier) vom französisch-deutschen Festival für junge Regisseure in Karlsruhe. Ulrich Amling (Tagesspiegel), Christian Wildhagen (NZZ), Eleonore Büning (FAZ) und Wolfgang Schreiber (SZ) gratulieren Nike Wagner zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Michael Thalheimers "Nachtasyl"-Inszenierung an der Berliner Schaubühne (Berliner Zeitung, mehr), Stefan Sprengers in Liechtenstein aufgeführtes Stück "Rubel, Riet und Rock"n"Roll" (SZ) und William Kentridges Amsterdamer "Lulu"-Inszenierung (SZ, FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur


Konzeptmodell des Opernhauses in Taichung. © Toyo Ito & Associates, Architects

In der NZZ stellt Ulf Meyer Toyo Itos höchst ambitioniertes neues Opernhaus im taiwanesischen Taichung vor. "Als Peter Sloterdijk im dritten Teil seiner "Sphären-Trilogie" von 2004 "Schäume" zum Thema machte, konnte er nicht ahnen, was er damit am anderen Ende der Welt anrichten würde: In Japan nahm der Architekt und Pritzker-Preis-Träger Toyo Ito Sloterdijk beim Wort, als er zu Protokoll gab: "Architektur in unseren diversifizierten Gesellschaften soll zeigen, dass einfache Kisten und Kuben diese Vielgestalt nicht mehr widerspiegeln können." Ito ersann ein fluides Raumkontinuum, das ganz auf dem Tragverhalten von Schaum aufbaut - eine Weltsensation!" Die allerdings nur halb gelungen ist, wie Meyer dann weiter ausführt.

In Rotterdam hat sich McDonalds ein todschickes neues Gebäude von Mei Architects bauen lassen - mit perforierter Goldfassade und einer riesigen Wendeltreppe, meldet Dezeen.
Archiv: Architektur